I.2 - Seit wann gibt es Verschwörungstheorien?

Die Geschichte von Verschwörungstheorien reicht bis in die Antike zurück, wie wir aus überlieferten Reden wissen, in denen sie oft Bestandteil waren. Eine wichtige Verschwörungstheorie aus dem Mittelalter ist die der Brunnenvergiftung, also der während der Pestepidemien im 14. Jahrhundert entstandenen Behauptung, Jüdinnen und Juden würden Gift in die Brunnen geben und so die Krankheit verursachen. Danach kamen sie in der Frühen Neuzeit, also ab dem 15. Jahrhundert, wieder in Mode.

Michael Butter ist Professor für Amerikanistik und forscht an der Universität Tübingen zu Verschwörungstheorien im internationalen Raum. Er veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema, zuletzt "Nichts ist, wie es scheint".

Michael Butter ist Professor für Amerikanistik und forscht an der Universität Tübingen zu Verschwörungstheorien im internationalen Raum. Er veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema, zuletzt "Nichts ist, wie es scheint".

Zu dieser Zeit hatten sie einen Status als legitimes Wissen, das bedeutet, sie waren Teil der politischen Auseinandersetzung und wurden von den oberen Gesellschaftsschichten genauso wie von der Bevölkerung geglaubt und akzeptiert. Während der Säkularisierung im Zuge der Aufklärung, die im 17. Jahrhundert begann, wurden Gott und Religion als Ordnung gebendes Element abgelöst. Dadurch erhielten Verschwörungstheorien mehr Zulauf, weil sie im Grunde genommen ähnlich funktionieren. Auch die Inhalte wandelten sich von religiösen Themen wie Teufel und Antichrist hin zu eher weltlichen, komplexeren Themen. Von Europa aus gelangten sie in die USA und blieben auf beiden Kontinenten bis ins 20. Jahrhundert als legitimes Wissen anerkannt.

In der jüngeren Geschichte der USA lässt sich beobachten, wie ab den 30er Jahren ein Prozess der Delegitimisierung stattgefunden hat, Verschwörungstheorien ihren Status als anerkannte Wissensform also langsam verloren haben. Diese Entwicklung begann damit, dass sich Geisteswissenschaftler wie Theodor Adorno oder Harold Lasswell mit den Ursachen des europäischen Totalitarismus auseinandersetzten. Ein Jahrzehnt später, in den 1940er Jahren, prägte Karl Popper den Begriff Verschwörungstheorie. Als in den 50er Jahren die “Red Scare” zur Blüte von antikommunistischen Verdächtigungen führte, reagierten Sozialwissenschaftler, indem sie den Begriff nutzten, um solche Anschuldigungen abzuwerten. Das wurde von den Medien und der Öffentlichkeit aufgegriffen, wodurch Verschwörungstheorien langsam an den Rand der Gesellschaft wanderten. Richard Hofstadter schließlich folgerte in seinem Aufsatz The Paranoid Style (1964), Verschwörungstheorien seien nichts anderes als eine Form klinischer Paranoia. Damit legte er endgültig den Grundstein für eine pathologisierende, das heißt eine als krankhaft bewertende, Betrachtungsweise in den Medien, der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft.

Heute hat sich dieser Prozess - zumindest in der westlichen Welt - so weit vollzogen, dass Verschwörungstheorien vollständig als illegitimes Wissen gelten, also von Medien, Politik, Experten und Bevölkerung nicht als Wissensform anerkannt und meist als fiktiv angesehen werden. Dabei wird ihnen verschiedenes unterstellt: erstens, dass sie auf unbewiesenen, falschen oder gar erfundenen Vermutungen und Überzeugungen beruhen. Zweitens, dass Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker vermutlich “nicht ganz richtig im Kopf” sind. Und drittens, dass sie sozial abzulehnen sind, weil aus ihnen politischer Extremismus und Gewalt erwachsen. In der Praxis führt das dazu, dass Verschwörungsgläubigkeit als Problem wahrgenommen wird, dessen Ursache es zu finden gilt - in der Gesellschaft und beim einzelnen Menschen.

In den Medien erscheinen Verschwörungstheorien oft entweder als absurde, kuriose, aber unterhaltsame Randmeldung, zum Beispiel, wenn es um die Erzählung von der flachen Erde geht. Oder aber sie werden unter Gesichtspunkten von Bedrohung und Extremismus behandelt. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vermuten sogar, dass allein der Begriff Verschwörungstheorie in den Medien dazu führt, dass die vermeintlichen Urheberinnen und Urhebern im Diskurs nicht mehr ernst genommen werden, und dass Journalistinnen und Journalisten versuchen, sich von ihnen abzugrenzen und sich ihnen gegenüber aufzuwerten.

  • Butter, Michael: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. Berlin, 2018.
  • Comparative Analysis of Conspiracy Theories: Leitfaden Verschwörungstheorien. European Cooperation in Science and Technology, 2020. Online verfügbar als PDF.
  • Dietrich, Kirsten: Sinnsuche zwischen Gut und Böse. Dradio Kultur, 2020. Online verfügbar bei Dradio.
  • Hepfer, Karl: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld, 2015.
  • Peitz, Dirk: "Alles ist so, wie Du denkst". Interview mit Michael Butter zu Verschwörungstheorien und dem Attentat in Hanau. Hamburg, 2020. Online verfügbar bei der ZEIT.