„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen
Viele Menschen aus Sachsen waren schon mal in Tschechien, mögen Prag und die tschechische Küche. Aber was wissen wir über die politische und gesellschaftliche Lage im Nachbarland? 2022 stand Tschechien Dank der EU-Ratspräsidentschaft international im Rampenlicht. Sonst wird - außer bei Wahlen - in den deutschen Medien eher selten über den östlichen Nachbarn berichtet. Wer regiert aktuell in Tschechien, wie sieht die tschechische Medienlandschaft aus, wie ist es um die Rechtsstaatlichkeit bestellt? Wie diskutiert die Gesellschaft Themen wie Ehe für Alle, Klimawandel und Gleichstellung? Welchen Bezug zu Europa haben die Bürgerinnen und Bürger? Diese und weitere Fragen beantworten wir in unserer Podcastsreihe „Sechsmal Tschechien“. Hören Sie gern rein!
Ab dem 5. Oktober erscheinen die Folgen nacheinander überall da, wo es Podcasts gibt.
Der Podcast „Sechsmal Tschechien“ ist ein Kooperationsprojekt mit Radio Prague International.
Folge 1: Klima und Umwelt
„Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Gehören zur Bevölkerung Tschechiens wirklich die größten Klimaskeptikerinnen und -skeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren in Tschechien verändert? Zu Gast in unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050.
Die Wurzeln der tschechischen Umweltbewegung reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Im Jahre 1974 wurde die Brontosaurus-Bewegung gegründet, die bis heute aktiv ist. Die Mitgliederzahlen sind schnell gewachsen. Viele sahen darin nach langer Zeit die erste Möglichkeit, dem totalitären Regime die Stirn zu bieten. Der Bewegung ging es dabei vor allem um die ökologische Bildung und den regionalen Umweltschutz, der die Natur auf lokaler Ebene schützt und eher die Auswirkungen als die Ursachen von Umweltproblemen bekämpft (z. B. Beseitigung von Müll, Anpflanzen von Bäumen usw.) ohne jedoch systemische Veränderungen anzustreben. In den Jahren 1988-1989 war die Luftverschmutzung ein zentrales Thema der Umweltbewegung. Die Gruppe Prager Mütter wurde gegründet, um für saubere Luft zu demonstrieren. Von 11. bis 13. November 1989, nur wenige Tage vor dem Beginn der Samtenen Revolution, fand in Teplice in Nordböhmen eine große Demonstration für saubere Luft statt. Zeitgleich mit der Samtenen Revolution gründeten der damals 16-jährige Jakub Patočka und der 19-jährige Jan Beránek die Duha-Bewegung und die Kinder der Erde, Nichtregierungsorganisationen, die bis heute aktiv sind. In den 1990er Jahren herrschte der Glaube, dass in dem neuen demokratischen System ausreichen würde, die Aufmerksamkeit auf ein Umweltproblem zu lenken, und dass die Regierung diese anpacken würde.
Die Partei der Grünen war die erste politische Partei, die nach der Samtenen Revolution entstanden ist. Der neue Präsident, Václav Havel, der dieser Partei nahestand, ließ das Umweltministerium schaffen. In den frühen Neunzigern wurde eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen gegründet, die sich dem Natur- und Umweltschutz widmeten, darunter Calla (1991), der tschechische Zweig von Greenpeace (1992), die Gesellschaft für nachhaltiges Leben (September 1992), der Ökologische Rechtsdienst (1995), Nesehnutí (Oktober 1997) und Arnika (September 2001).
Mit der Wende verschwanden die Umweltprobleme nicht. Die dominierenden Themen waren die Erweiterung des Kernkraftwerks Temelín, der Abriss des Dorfes Libkovice für den Braunkohleabbau, der Bau von Autobahnen durch geschützte Landschaften, der Holzeinschlag im Nationalpark Böhmerwald und der Tierschutz. Mit der Betonung des Wirtschaftswachstums nach der Revolution, die von der Umweltbewegung kritisiert wurde, begann eine Ära der Marginalisierung ökologischer Themen. Forderungen der Umweltschützer bezeichneten die führenden Politiker, insbesondere der damalige Premierminister Václav Klaus, als Extremismus („Ökoterrorismus“). Trotz der guten Ausgangslage ist die Partei der Grünen in Tschechien heute nicht mehr im Parlament vertreten, und manche NRO mit dem Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz werden weiterhin oft als Ökoterroristen beschimpft und diffamiert. Der Großteil der Medien ist im Besitz von Unternehmern, die von fossilen Brennstoffen profitieren. Dies beeinflusst auch stark die öffentliche Meinung. Zum EU Green Deal haben viele Politiker:innen und Medien ablehnende Haltung.
Erst mit der aktuellen Energiekrise, ausgelöst durch den Angriff auf die Ukraine, rückten die erneuerbaren Energiequellen stärker in den Fokus des öffentlichen Diskurses. Wichtiger als emissionsarme Energie ist dabei jedoch die Energiesicherheit und die energetische Unabhängigkeit von Russland.
Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."
Filip Rambousek:
"Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Sind die Tschechen wirklich die größten Klimaskeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die (dortige) Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren verändert? Die Gäste unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050. Mein Name ist Filip Rambousek, ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.
Obwohl die Tschechen mitunter als die größten Klimaskeptiker in der Europäischen Union gelten, ist die Realität weitaus komplexer, meint der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl. Die öffentliche Meinung habe sich in den letzten Jahren stark verändert."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
"In der Mehrheit hält die tschechische Öffentlichkeit den Klimawandel bereits heute für ein ernstes Problem. Verschiedenen Umfragen zufolge sind es etwa 70 bis 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig wünschen sich rund 70 Prozent der Menschen in Tschechien, dass der Staat im Klimaschutz aktiv ist. Auch wenn uns diese Zahlen relativ hoch erscheinen, sind wir im europäischen Vergleich immer noch Schlusslicht. Wer also sagt, dass es in Europa nur wenige Nationen gibt, die so zurückhaltend sind wie die Tschechen, hat recht. So hat es ja auch Frans Timmermans einmal gesagt: Wenn wir die Tschechen von der Dekarbonisierung überzeugen können, können wir alle überzeugen. Aber auch wenn wir in Europa hintenan sind, ist es gleichzeitig auch so, dass bereits 70 bis 75 Prozent der Menschen hier der Meinung sind, dass wir grundlegende Schritte unternehmen sollten und in einem viel größeren Umfang aktiv werden sollten als bisher."
Filip Rambousek:
"Die Sicht der Tschechen auf den Klimawandel enthält eine Reihe von inneren Widersprüchen – obwohl der Anteil der Menschen, die im Klimawandel ein ernstes Problem sehen, allmählich steigt, ergänzt die Analytikerin Romana Březovská."
Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„86 Prozent der Menschen wissen, dass der Klimawandel große Auswirkungen auf die Welt hat, das können wir Umfragen entnehmen. Aber nur 40 Prozent davon glauben, dass diese Auswirkungen in ihrem persönlichen Leben zu spüren sein werden. Es ist interessant, diesen Widerspruch zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass die Tschechische Republik eine Art Welt für sich ist, von den Nachbarländern durch Gebirgsketten getrennt, die sich praktisch über die gesamte Grenze erstrecken. Es ist, als ob wir auf einer eigenen Insel leben.“
Filip Rambousek:
"Mit anderen Worten: Die meisten Tschechen verstehen, dass der Klimawandel ein drängendes globales Problem ist, aber viele von ihnen glauben immer noch, dass er das Leben der Menschen in der Tschechischen Republik nicht gravierend beeinflussen wird ..."
Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, es ist so ein Gefühl von der eigenen Großartigkeit und Unantastbarkeit, eine Art Stolz auf die Tatsache, dass wir Teil der Welt sind, aber alles von unserem eigenen Universum aus betrachten können. Aber das führt dann dazu, dass wir nicht bereit sind, zur Lösung des Problems beizutragen, weil wir denken, dass es uns nicht betreffen wird, und wenn doch, dann erst in weiter Zukunft.“
Filip Rambousek:
"Wie ist die tschechische Klimaschutzdebatte an diesen Punkt gekommen? Sehen wir uns zunächst einmal an, wie sich das Verhältnis der Tschechen zur Umwelt seit ungefähr 1989 verändert hat. Nach vierzig Jahren Staatssozialismus war die Umwelt in der Tschechoslowakei stark belastet, erinnert sich Bedřich Moldan."
Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss sagen, es war wirklich sehr schlimm. Vor allem die Luftverschmutzung war katastrophal. Aber auch die Wasserverschmutzung zum Beispiel war sehr gravierend. Die große Mehrheit der überprüften Wasserläufe war in höchstem Maße verschmutzt. Und natürlich haben die Menschen das mitbekommen. Am schlimmsten betroffen waren die Kohleregionen in Nordböhmen und Ostrava, aber auch alle großen Ballungsgebiete. In Prag beispielsweise wurden einst unglaublich hohe Konzentrationen von Schwefeldioxid gemessen.”
Filip Rambousek:
"Der schlechte Zustand der Umwelt war eines der wichtigen Themen, die die Menschen auf die Straße brachten – schon vor dem 17. November 1989, wie Moldan betont."
Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Etwa vierzehn Tage vor der großen Prager Demonstration im November 1989 fand auch in Teplice eine große Demonstration statt, bei der die Menschen Parolen über saubere Luft skandierten und dass sie die enorme Belastung durch die Umweltverschmutzung nicht länger hinnehmen wollten. Der Zustand der Umwelt, der so stark empfunden wurde, war zweifelsohne einer der wichtigsten Faktoren im Gesamtkomplex der Samtenen Revolution.“
Filip Rambousek:
"Auch dank des großen öffentlichen Interesses blieb das Thema Umweltschutz in den ersten Jahren nach der Revolution eine der wichtigsten Prioritäten – also zu der Zeit, als Bedřich Moldan Umweltminister war."
Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
"Diese starke Aktivität des Ministeriums in der Anfangszeit wurde von der Öffentlichkeit außerordentlich gut mitgetragen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation, als ich als Minister eine Gesetzesvorlage ins Abgeordnetenhaus einbrachte. Das begrüßten die Abgeordneten und sie beglückwünschten mich, dass wir ein weiteres grünes Gesetz bekommen würden. So etwas kann ich mir heute nicht mehr vorstellen. Dieser Enthusiasmus hat sich nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in anderen Lebensbereichen niedergeschlagen. Die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Industrie und der Unternehmen, hat sich daran beteiligt."
Filip Rambousek:
"In den 1990er Jahren führte dies zu einer deutlichen Verringerung der Luftverschmutzung durch die Industrie und zu einem sprunghaften Anstieg der Luftqualität. Auch im Hinblick auf die Gesetzgebung stellen die frühen 1990er Jahre eine Schlüsselperiode dar, sagt Jan Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Zu Beginn der 1990er Jahre wurden grundlegende Gesetze erlassen, die bis heute den Umweltschutz in der Tschechischen Republik bestimmen. Aber mit dem allmählichen Rückzug der Dissidenten von der Macht und der Übernahme der Technokraten, mit Václav Klaus an der Spitze, kam es auch in der Umweltagenda zu einer Kehrtwende.“
Filip Rambousek:
"Dieser Kurswechsel zeigte sich auch in einer veränderten Haltung des Staates gegenüber den Umweltbewegungen, erinnert sich Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Fertigstellung des Kernkraftwerks Temelín wurden mehrere bekannte, etablierte Umweltverbände als extremistische Organisationen eingestuft und vom Geheimdienst überwacht. Der Staat hat also unter der Federführung von Václav Klaus sein Verhältnis zu Umweltinitiativen um hundertachtzig Grad gedreht.“
Filip Rambousek:
"Es ist kein Zufall, dass der Name von Václav Klaus, der in den 1990er Jahren Ministerpräsident und von 2003 bis 2013 Präsident Tschechiens war, schon zweimal gefallen ist. Analysten zufolge hatten seine klimaskeptischen Ansichten einen großen Einfluss auf die Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit zum Klimaschutz."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Im Laufe der Amtszeit von Václav Klaus als Präsident Tschechiens hat die Wahrnehmung und das Bewusstsein, dass der Klimawandel ein ernstes Problem darstellt, allmählich abgenommen. Und umgekehrt hat sie wieder zugenommen, als er 2013 aus dem Amt schied. Ich sage nicht, dass es da einen kausalen Zusammenhang gibt, aber eine gewisse Korrelation besteht eindeutig. Mit dem Abgang von Václav Klaus aus der aktiven Politik wurden die Stimmen der Klimaskeptiker also schwächer. Heute sind es nur noch ein Prozent der Tschechen, die Klaus‘ Meinung reproduzieren – also, dass es niemals einen Klimawandel gab und niemals einen geben wird.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
“Es ist der 15. September 2023: Eine Gruppe junger Menschen von Fridays for Future hat sich vor dem Umweltministerium in Prag versammelt. Mitte September ist die Zeit, zu der sich viele Menschen auf der ganzen Welt am weltweiten Klimastreik beteiligen. Die tschechische Bewegung Fridays for Future hat sich entschieden, einen Protest in Form eines kleinen Theater-Happenings mit sehr konkreten Forderungen an den Umweltminister und die gesamte tschechische Regierung zu organisieren. Die Demonstranten wollen, dass die Regierung ihre eigene Verpflichtung einhält, bis 2033 aus der Kohle auszusteigen. Im Moment besteht nämlich die Gefahr, dass dieses Limit um zwei Jahre überschritten wird.
Ich freue mich, dass nach Abschluss des Happenings eine der Sprecherinnen von Fridays for Future Zeit für mich hat. Magdalena Středová, Guten Tag!”
Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Guten Tag.”
Filip Rambousek:
“War das Happening aus Ihrer Sicht erfolgreich? Es waren relativ wenig Menschen hier, aber viele Medienvertreter …"
Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Ich sehe das Happening als Erfolg, denn es war unser erklärtes Ziel, das Thema in die Medien zu bekommen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass der Abbau im Tagebau Bílina vor kurzem bis ins Jahr 2035 verlängert wurde. Das ist ein Verstoß gegen das Regierungsprogramm, in dem die Beendigung des Abbaus und der Verbrennung von Kohle bis 2033 vorgesehen war.“
Filip Rambousek:
“Dieser Protest betraf also hauptsächlich den Tagebau Bílina. Warum ist er so ein großes Problem? Man könnte doch sagen, zwei Jahre hin oder her ...”
Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Wir haben schon in der Vergangenheit mit verschiedenen Klima-Aktionen und Streiks auf den Kohleabbau im Tagebau Bílina aufmerksam gemacht. Manch einer wird vielleicht sagen, dass zwei Jahre nichts ausmachen, aber die Klimakrise ist allgegenwärtig. Wir haben den heißesten Sommer aller Zeiten erlebt, Brände und Überschwemmungen, und diese Extreme werden wahrscheinlich noch zunehmen. Es gibt keinen Grund, die Bekämpfung der Klimakrise aufzuschieben. Sie sollte unsere Priorität sein. Die Regierung hat in ihrer Programmerklärung das Jahr 2033 als Ausstiegsdatum für den Kohlebergbau versprochen, und wir sehen keinen Grund, warum man davon abweichen sollte. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen, erneuerbare Energien zu entwickeln und einen ausgewogenen Übergang einzuleiten.”
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Die Reportage vom Happening von Fridays for Future zeigt, dass sich auch in Tschechien die junge Generation zu Wort meldet. In den letzten fünf bis zehn Jahren haben sich in Tschechien eine Reihe neuer Klimabündnisse etabliert, erläutert Jan Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“ Es wächst eine neue Generation heran, die sich viel häufiger für Methoden der direkten Aktion und des zivilen Ungehorsams entscheidet. Inspiriert sind sie zum Beispiel von der deutschen Initiative Ende Gelände, die tschechische Aktivisten besucht haben. Diese Aktivisten lernen nach und nach, wie sie die fossile Infrastruktur der wichtigsten tschechischen Kohlebarone blockieren können. Regelmäßig finden verschiedene Sommer-Klimacamps und andere Aktionen statt. Wie in Westeuropa sind auch in der Tschechischen Republik die Bewegungen Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation entstanden. Man kann also sagen, dass die Entwicklung der Klimabewegung in der Tschechischen Republik bis zu einem gewissen Grad westlichen Trends folgt. Nur die Reaktionen sind hier etwas anders als in Großbritannien oder Deutschland.“
Filip Rambousek:
"Warum aber findet die Klimabewegung in Tschechien keine so große gesellschaftliche Resonanz wie anderswo in Europa? Auch dazu Jan Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sind immer noch eher ein Volk von Landschaftsliebhabern und Bachlaufputzern. Dagegen werden öffentliche Aktionen wie Blockaden des Individualverkehrs von der tschechischen Öffentlichkeit eher negativ wahrgenommen. Selbst wenn sie mit Klimaschutz sympathisieren, sind selbst die größten Klimaschutz-Befürworter nicht mit diesen Klimaschützerinnen und Klimaschützern einverstanden. In diesen Fällen ist die Ablehnung sehr groß.“
Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl gibt es in der tschechischen Klimaschutzdebatte eine Reihe von Besonderheiten. Eine davon ist ein gewisses Misstrauen gegenüber großen Visionen, das aus den historischen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime herrührt. Deshalb ist die tschechische Öffentlichkeit auch misstrauisch gegenüber den großen Visionen von heute – wie dem Green Deal für Europa oder der deutschen Energiewende, die auch noch die Abschaltung funktionierender Atomreaktoren mit einschloss. Dazu Bedřich Moldan:"
Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Als die Deutschen die Kernkraftwerke durch fossile Brennstoffe ersetzten, spotteten die Tschechen und sagten über sie: ‚Seht nur, und das Ergebnis der ganzen Energiewende ist, dass sie ihre Kohlendioxidemissionen erhöht haben, bzw. sie nicht schnell genug reduzieren, weil sie unsinnigerweise die Atomkraftwerke abgeschaltet haben.‘”
Filip Rambousek:
"Die tschechische Diskussion über die Energiewende zeige, so Moldan, wie kurzsichtig die Tschechen manchmal bei der Beurteilung von derart komplexen Strategien seien. Ein ähnlicher Ansatz ist beim Green Deal zu beobachten, der oft auf das Verbot von Verbrennungsmotoren reduziert wird. Der Green Deal werde in der Tschechischen Republik eher als Bedrohung denn als Chance dargestellt, erklärt Romana Březovská."
Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„In unserem Land ist die gesamte Diskussion über den Green Deal damit verbunden, dass er eine große wirtschaftliche Belastung darstelle, dass er schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Industrie nach sich ziehe, dass er uns verarmen ließe und dass er ein ideologisch motiviertes Projekt sei. Die Befürchtung der Menschen, dass sie Verlierer sein werden, dass die Bedingungen des Green Deal nicht fair gestaltet werden und dass sie niemand für etwaige Verluste entschädigen wird, ist sehr präsent – denn genau das sagen die politischen Eliten immer wieder.“
Filip Rambousek:
"Einen sehr pragmatischen Blick auf den Green Deal hat zum Beispiel der tschechische Europaabgeordnete Alexandr Vondra von den Bürgerdemokraten. Seine Partei ODS gehört im Europäischen Parlament zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer."
Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Beim Green Deal geht es auch um die Umverteilung von Profit und Einfluss in Europa. Die Niederländer und Skandinavier bekommen die Windenergie in der Nordsee umsonst, die Spanier und Griechen bekommen die Solarenergie umsonst. Aber dann sind da noch Polen, die Tschechische Republik und Deutschland, alles Industrieländer, deren Wirtschaft auf billigem russischen Gas und billiger Kohle aufgebaut wurde. Diese Länder stehen plötzlich vor einer großen Herausforderung. Wir werden damit nichts verdienen, das müssen wir ehrlich zugeben. Wichtig ist aber jetzt, dass wir zumindest überleben, ohne dass es zu einer totalen Destabilisierung kommt. Deutschland ist bekanntlich eine etwas reichere Gesellschaft als Tschechien, so dass sie die Auswirkungen auf ihren Geldbeutel erst jetzt zu spüren bekommen. Die Tschechen haben sie schon früher zu spüren bekommen.“
Filip Rambousek:
"Etwa ein Drittel der tschechischen Bevölkerung unterstützt den Green Deal für Europa. Ein weiteres Drittel lehnt ihn eher ab und das verbliebene Drittel ist strikt dagegen. Wie der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl sagt, hängt dieses blamable Bild auch mit der Haltung der Tschechen gegenüber der Europäischen Union im Allgemeinen zusammen."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Für uns ist das nicht nur ein Umweltthema, sondern auch ein Symptom für eine gewisse Euroskepsis, die hier sehr stark ausgeprägt ist. Ich weiß noch, wie nervös ich war, als ich 2014, 2015 das Eurobarometer studierte und sah, dass die Tschechen damals noch euroskeptischer waren als die britische Öffentlichkeit. Und wir sprechen von der Zeit kurz vor der Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union. Wenn damals jemand einen Czexit vorgeschlagen hätte, hätte ich sicher nicht darauf gewettet, dass wir in der Europäischen Union bleiben. So gesehen ist der Euroskeptizismus hier ziemlich tief verwurzelt, was sich nicht nur auf die Haltung gegenüber Brüssel selbst auswirkt, sondern auch auf die Politik, die mehr oder weniger mit Brüssel verbunden ist.“
Filip Rambousek:
"Neben einem gewissen Euroskeptizismus sei die tschechische Debatte über den Klimaschutz auch durch die tschechische Tendenz zum Technokratismus beeinflusst, glaubt Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Das hängt auch mit unserer Geschichte und mit unserer industriellen Vergangenheit zusammen, die bis in die Zeiten von Österreich-Ungarn zurückreicht. Wir sind immer noch eher eine Nation von Ingenieuren als von Ideologen. Interessant ist zum Beispiel der Vergleich mit Frankreich oder mit den Vereinigten Staaten. Bei uns haben immer noch eher die ‚schlauen Ingenieure‘ die Oberhand, die etwas berechnen können, die Geld verdienen und es schaffen, ihre Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Üblicherweise gewinnen eher solche Politiker, als diejenigen, die uns zu einem gewissen Wertekatalog auffordern.”
Filip Rambousek:
"Krajhanzl zufolge könnte dies einer der Gründe dafür sein, dass die tschechischen Grünen seit 2010 nicht mehr im Parlament vertreten sind und ihre Zustimmung seit langem im unteren einstelligen Prozentbereich liegt."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Ganz oft sind es Personen, die in der Wissenschaft, in gemeinnützigen Organisationen usw. tätig sind. Solche Leute betrachtet ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit als sogenannte Schöngeister, d. h. als Menschen, die zwar gut reden können, aber keine echte Arbeit leisten. Das ist nicht meine Meinung. Ich versuche nur, anhand einiger Vorwahlumfragen zu verstehen, wo die Entwicklung ins Stocken geraten ist. Vielleicht ist die Partei zu romantisch und nicht pragmatisch und technokratisch genug für das tschechische Milieu. Schauen wir uns die ANO von Milliardär Babiš an oder die Bürgerdemokraten (ODS). Wenn sich diese Parteien in irgendeinem Punkt ähnlich sind, dann in ihrer Neigung zum Technokratismus.“
Filip Rambousek:
"Derzeit gibt es im tschechischen Parlament keine politische Kraft, die sich über eine umweltpolitische Agenda definiert. Einige Parteien, wie die Bürgermeister und Unabhängigen (STAN) oder die Piraten, zeigen ein gewisses Interesse an diesen Themen. Aber es gibt im tschechischen Parlament keine „grüne“ Partei, die mit den deutschen Grünen vergleichbar wäre. Und das, so Romana Březovská, ist ein großes Problem."
Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tatsache, dass dieses Thema keine politische Vertretung hat, ist das große Handicap. Denn es gibt niemanden, der glaubwürdig sowohl positive als auch negative Informationen über die Grüne Transformation an die Bürger vermitteln kann. Es gibt also viel Spielraum für beliebige Akteure, den Medienraum zu vereinnahmen und ihr Verständnis des Themas sowie ihre Interessen in diesem Bereich vorzubringen.“
Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl ist es außerdem ein Fehler, dass die tschechischen Parlamentsparteien dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit widmen. Denn der Green Deal biete eine einzigartige Chance für die Modernisierung der Tschechischen Republik."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tschechische Republik erhält mehr als eine Billion Kronen (40 Milliarden Euro) für verschiedene Programme – von Investitionen in umweltverträgliche Technologien über die Modernisierung staatlicher Dienstleistungen und Regionen bis hin zur sozialen Unterstützung von Gruppen, die von der Dekarbonisierung benachteiligt werden könnten. Diese Mittel sind praktisch mit dem Marshallplan in der Nachkriegszeit vergleichbar. Dennoch wird nicht viel darüber gesprochen, und die Medien schenken ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Ich denke jedoch, dass nicht nur in Bezug auf das Klima und die Emissionen, sondern auch in Bezug auf die tschechische Wirtschaft und Lebensqualität jetzt darüber entschieden wird, wie dieses Land in den kommenden Jahrzehnten leben wird.”
Filip Rambousek:
"Obwohl sich die Kommunikation des Klimawandels in den Medien langsam verbessert, hinkt die Tschechische Republik in dieser Hinsicht noch weit hinterher, so Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die tschechische politisch-mediale Debatte zum Klimaschutz ist in etwa dort, wo die britische oder deutsche Debatte vor zehn Jahren war, also extrem konservativ, man könnte auch sagen rückständig.“
Filip Rambousek:
"Neben der problematischen Eigentümerstruktur der privaten Medien, die oft Verbindungen zur fossilen Brennstoffindustrie aufweisen, ist laut Krajhanzl vor allem der geringe Bildungsstand über Klimafragen bei den meisten Journalisten dafür verantwortlich."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Beispielsweise ließen sich etliche Journalisten zu der Zeit, als die Strompreise zum ersten Mal in die Höhe schnellten, zu Twitter-Posts hinreißen, in denen sie im Grunde unkritisch behaupteten, die Ursache sei, dass sich der Preis der Emissionszertifikate auf die Preise der Endverbraucher auswirkten. Tatsächlich war es aber schon zu diesem Zeitpunkt, also im Herbst 2021, auf die geopolitischen Spielchen Russlands mit den Energiepreisen zurückzuführen. Schon damals war analytisch nachweisbar, dass es mit den Emissionszertifikaten nicht viel zu tun hatte, sondern dass etwa 80 Prozent des Preisanstiegs auf das Konto des Putin-Regimes gingen. Dieser Lackmustest hat gezeigt, wie wenig tschechische Journalisten mit sachlichen Informationen umgehen können.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Das unzureichende Verständnis der politischen Parteien für das Thema der grünen Transformation, die Tendenz zum Technokratismus und Pragmatismus sowie das schwache Niveau des Klimajournalismus – all dies trägt dazu bei, dass die tschechische Klimapolitik nach Ansicht vieler Analysten nicht ehrgeizig genug ist, insbesondere was ihren Mitigationsanteil betrifft, d. h. die Bemühungen, den Verlauf des Klimawandels abzumildern. Bedřich Moldan fährt fort."
Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Wenn wir uns die Strategien ansehen, die die Regierung verfolgt, sehen wir, dass es für die Anpassungsstrategie bereits einen Aktionsplan gibt, und ich denke, er ist sehr gut aufgebaut. Er ist detailliert und basiert auf verschiedenen Analysen. Aber es gibt praktisch keine Mitigationsstrategie.“
Filip Rambousek:
"So hat die Tschechische Republik beispielsweise bis heute kein offizielles Klimaneutralitätsziel ausgegeben. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Tschechische Republik bei der Entwicklung von erneuerbaren Energiequellen sogar hinter Polen zurückbleibt. Im tschechischen politischen Mainstream herrscht also nach wie vor eine starke Dichotomie zwischen Anpassungsmaßnahmen und dem Bemühen um Emissionsreduzierung. Folgende Äußerung des EU-Abgeordneten Alexandr Vondra illustriert dies sehr gut."
Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Der Teil des Green Deal, der sich auf den Schutz und die Wiederherstellung der Natur bezieht, ist meiner Meinung nach der wichtigste. Aber leider wurde dieser Punkt vernachlässigt und musste im Vergleich zum Kampf gegen den Klimawandel zurückstehen. Ich halte den Naturschutz vor allem unter einem Gesichtspunkt für wichtig. Wenn wir von den Menschen verlangen, dass sie Opfer bringen, dass sie etwas bescheidener sind und so weiter, dann muss es auch eine gewisse Belohnung geben – und zwar noch zu unseren Lebzeiten. Und das ist bei der Mitigation einfach nicht der Fall. Wir bringen hier enorme Opfer, und diese Opfer treffen die traditionell industriellen und energieintensiven Länder wie die Tschechische Republik und Deutschland am meisten. Aber all die Emissionen, die wir hier einsparen, werden China, Indien, die Vereinigten Staaten, Russland und Brasilien zusätzlich ausstoßen. Diese Maßnahmen werden also keine Effekte haben, weder für meine Generation, noch für die Generation unserer Kinder. Die Hitze wird immer noch da sein ... Ich bin nicht gegen Emissionsminderung, aber ich würde mit Bedacht vorgehen, nicht auf diese umstürzlerische Weise. Was aber den Naturschutz betrifft, da werden wir noch zu unseren Lebzeiten einen positiven Effekt sehen. Da geht es um Vögel, Insekten, Bestäuber, Wasserrückhalt in der Landschaft, eine vielfältigere Landschaft. Diese Maßnahmen unterstütze ich.“
Filip Rambousek:
"Die Vorstellung, dass wir uns nur an den Klimawandel anpassen müssen, ist für Klimaexperten inakzeptabel. Alle Länder müssen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen beitragen, betont Romana Březovská."
Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sehen, dass wir auf eine Erwärmung von mehr als zwei Grad zusteuern. Wir sehen, dass sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen bereits überschritten wurden. Wenn wir den Planeten mit dem menschlichen Körper vergleichen, hat er nicht nur Fieber, sondern vielleicht auch schon Bluthochdruck. Global gesehen geht es uns schlicht und einfach nicht gut, auch wenn wir das in der Tschechischen Republik noch nicht so stark spüren – auch dank unserer geographischen Lage.”
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Trotz aller Defizite im Umwelt- und Klimaschutz, die wir uns angesehen haben, sind die Tschechen in einer Sache möglicherweise europaweit Spitze – in der Liebe zur Natur. Und das ist ein Wert, auf den sich aufbauen lässt, sagt Jan Krajhanzl."
Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss den Tschechen zugestehen, dass sie Naturliebhaber sind. Sie lieben die Natur wirklich von ganzem Herzen, genauso wie die Landschaft. Ich würde sogar sagen, dass sie ein tieferes Gefühl zur Natur haben als viele andere Nationen. Das zeigt sich auch in Meinungsumfragen auf gesamteuropäischer Ebene. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Urlaubsort zu wählen, ist die Natur drumherum für Tschechen das allerwichtigste Kriterium. Sie entscheiden nicht nach touristischen Attraktionen, Sehenswürdigkeiten oder nach dem Preis, sondern legen den größten Wert auf die umliegende Natur. In mehreren Umfragen hintereinander haben die Tschechen in dieser Frage den ersten Platz belegt. Sehen Sie, wir gehören zu den Letzten, was das Klima betrifft, aber wir gehören zu den Ersten, was die Liebe zur Natur betrifft. Deshalb glaube ich nach wie vor: Wenn wir aufhören, schematisch die Kommunikationsrezepte aus Deutschland oder Großbritannien zu übernehmen, um die Öffentlichkeit für Umweltfragen zu gewinnen, sondern stattdessen versuchen, die tschechische Stimmung verstehen, haben wir eine Chance, es besser zu machen und einen tschechischen Weg zu finden. Ich glaube, wenn man es richtig anpackt, kann sich die tschechische Öffentlichkeit sehr aktiv für den Schutz von Natur, Umwelt und Klima einsetzen. Aber wir müssen ganz andere Wege suchen und beschreiten als die in Westeuropa erprobten.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Damit endet die erste Folge des Podcasts "Sechs Mal Tschechien" beim nächsten Mal wird es um die Beziehung Tschechiens zu Russland gehen. Wir zeigen dann wie sich die gemeinsamen Beziehungen in den letzten drei Jahren und insbesondere durch den russischen Angriff gegen die Ukraine verändert haben."
Zu Gast in dieser Folge:
Prof. Dr. Bedřich Moldan ist ein Geochemiker, Umweltschützer, Journalist und Politiker. Er spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der tschechischen Umweltgesetzgebung nach 1989. Er war der erste tschechoslowakische (und tschechische) Umweltminister (1990-1991) überhaupt. Moldan ist Professor für Umweltwissenschaften, sowie Gründer und Direktor des Umweltcenters der Karlsuniversität.
Er wird als einer der wichtigsten Vertreter der tschechoslowakischen und tschechischen Umweltschule bezeichnet. Er ist ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der analytischen Chemie, Biochemie und Umwelt. Durch sein umfangreiches pädagogisches, journalistisches, organisatorisches, politisches und diplomatisches Wirken hat er mehrere Generationen von Umweltschützern tiefgreifend beeinflusst und wesentlich zum Aufbau des Rechtssystems des Umweltschutzes in der Tschechischen Republik beigetragen.

Romana Jungwirth Březovská hat Internationale Beziehungen an der Karlsuniversität in Prag und International Public Management an der Sciences Po in Paris studiert. In den Jahren 2019 und 2020 vertrat sie die Tschechische Republik bei internationalen Klimaverhandlungen. Während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2022 arbeitete sie für das Umweltministerium im Bereich Biodiversität und klimarelevante internationale Verhandlungen. Derzeit arbeitet sie am Forschungsinstitut für globalen Wandel der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und ist ist Klimaanalystin bei AMO – Association for International Affairs.
RNDr. Alexandr Vondra ist seit 2019 für die Bürgerdemokraten (ODS) Mitglied des Europäischen Parlaments. Während der Samtenen Revolution war er im November 1989 Gründungsmitglied des Bürgerforums (Občanské fórum) und deren Zeitung Informační servis, aus dem 1990 die Wochenzeitung Respekt hervorging. Von 1990 bis 1992 war er außenpolitischer Berater des letzten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel, von Juli 1992 bis März 1997 stellvertretender Außenminister der neu gegründeten Tschechischen Republik und von 1997 bis 2001 vertrat Vondra Tschechien als Botschafter in den USA. Zudem war er von 2006 bis 2012 tschechischer Senator, 2006–2007 Außenminister, 2007–2009 stellvertretender Premierminister und 2010–2012 Verteidigungsminister Tschechiens.
Dr. Jan Kajhanzl ist Sozial- und Umweltpsychologe. Er absolvierte ein Psychologiestudium mit dem Schwerpunkt Sozial- und klinische Psychologie (2004) und schloss anschließend seine Promotion im Bereich Sozialpsychologie (2010) an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag ab. Zu seinen beruflichen Interessen gehören die Kommunikation des Natur- und Umweltschutzes gegenüber der Öffentlichkeit, psychologische Fragen des menschlichen Kontakts mit der Natur und das Verhalten der tschechischen Öffentlichkeit in Umweltfragen.
Er ist Gründer und Leite des "Institut 2050" und arbeitet an der Abteilung für Umweltstudien der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk-Universität in Brünn. Zudem arbeitet er regelmäßig mit tschechischen Medien (z. B. dem tschechischen Rundfunk) und einer Reihe von staatlichen Stellen und NROs zusammen.
Folge 2: Tschechiens Beziehung zu Russland
Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát.
Die öffentliche Meinung zu Russland ist stark durch die historische Erfahrung geprägt, insb. durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und die Besetzung des Landes in 1968. Die Okkupation beendete den Prager Frühling, einen Demokratisierungsprozess des Regimes, der zu dieser Zeit im Gange war. Es begann die Zeit der sog. Normalisierung, die mit politischen Säuberungen, Zensur, Unfreiheit, groben Verstößen gegen die Menschenrechte und dem wirtschaftlichen Rückstand des Landes einherging. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verließen die sowjetischen Truppen 1991 das Gebiet der Tschechoslowakei. Mit der Samtenen Revolution befreite sich das Land aus der Einflusssphäre der Sowjetunion und wandte sich politisch und wirtschaftlich dem Westen zu.
Die Jahre seit der russischen militärischen Unterstützung der Separatisten im Osten der Ukraine im Jahr 2014 sind durchzunehmende diplomatische Spannungen gekennzeichnet. Tschechien unterstützte die internationalen Sanktionen gegen Russland wegen der Ukrainekrise. Im Frühjahr 2018 wies die Tschechische Republik als Reaktion auf die Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal in Großbritannien drei russische Diplomaten aus. Tschechien hat bereits in der Vergangenheit drei Mitglieder der russischen Mission wegen Spionageverdacht ausgewiesen. Zu einer weiteren Abkühlung der russisch-tschechischen Beziehungen kam es im Jahr 2019, als bekannt wurde, dass ein russischer Gesetzesentwurf die Soldaten, die an der sowjetischen Besatzung der Tschechoslowakei beteiligt waren, als Kriegsveteranen anerkennt und damit den Einmarsch der Truppen legitimiert. Der Präsident Milos Zeman lud den russischen Botschafter vor, um eine Erklärung aufzufordern. Im Jahr 2019 sorgte für Unmut in Russland der Beschuss der Stadtrat von Prag 6, das Marschall-Konew-Denkmal von 1980 in Prag zu entfernen und es durch ein Denkmal der Befreiung Prags am Ende des Zweiten Weltkriegs zu ersetzen. Die diplomatischen Beziehungen beider Länder kamen fast zum Erliegen, nachdem im Jahr 2021 der Öffentlichkeit die Ermittlungsergebnisse zu den Explosionen in Munitionslagern in Vrbětice im 2014 präsentiert wurden. Die Spuren führen eindeutig zu russischen Agenten, die bereits an der Ermordung von Skripal beteiligt waren. Nach einer gegenseitigen Ausweisung von einer größeren Anzahl von Diplomaten entschied Tschechien das Personal der sowieso ungewöhnlich stark besetzten russischen Botschaft dauerhaft zu senken und so zu deckeln, dass sie immer dem Personal der tschechischen Botschaft in der Russischen Föderation entspricht. Im Mai 2021 gab Russland dann eine offizielle Liste der nicht befreundeten Länder heraus. Neben der Tschechischen Republik standen zu der Zeit nur noch die USA auf dieser Liste. Die Enthüllungen führten auch dazu, dass die russische Firma Rosatom aus der Ausschreibung zum Ausbau des Atomkraftwerkes Dukovany ausgeschlossen wurde. Neben den üblichen diplomatischen Schritten griff Tschechien wiederholt auch zu etwas ungewöhnlichen Mitteln, um Russland seinen Unmut zu zeigen und es abzumahnen. So wurde im 2020 der Platz, auf dem nur die russische Botschaft ihren Sitz hat auf Platz von Boris Njemcov umzubenennen. Außerdem wurde eine weitere Straße in der Nähe der Botschaft auf die Anna Politkowskaja Straße umbenannt. Seitdem nutzt die Botschaft als ihre offizielle Postadresse die Adresse ihrer Konsularabteilung. Nach dem Russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wurde dann auch ein Teil dieser Straße auf die Straße der Ukrainischen Helden umbenannt.
Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."
Filip Rambousek:
"Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát. In der kommenden halben Stunde nehmen wir Sie aber auch mit auf eine regierungskritische Demonstration, bei der teils antiukrainische Parolen laut wurden. Zunächst aber begeben wir uns in ein friedliches Stadtviertel Prags, in dem bis vor gar nicht so langer Zeit ein Denkmal für einen berühmten Sowjet-Marschall stand. Mein Name ist Filip Rambousek, und ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.
Ich befinde mich im sechsten Prager Stadtbezirk. Hier bei mir ist der Historiker Karel Svoboda. Er ist Experte für jüngere russische Geschichte. Wir haben unser Treffen gerade hier in diesem Park vereinbart, da sich bis vor Kurzem ungefähr da, wo wir jetzt stehen, eine Statue für den sowjetischen Marschall Konew befand. Bis 2020, um genau zu sein. Dann wurde das Monument entfernt. Heute ist kaum noch zu erkennen, wo genau das Denkmal einst stand, es ist einfach spurlos verschwunden."
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die Statue wurde ursprünglich 1980 hier aufgestellt. Sie sollte ein Denkmal dafür sein, wie die sowjetischen Truppen die Tschechoslowakei oder konkreter: Prag befreit haben. Man erzählte sich, dass das Monument gerade an diesem Ort errichtet wurde, um jenen Genossen eine Freude zu machen, die hier entlang zum Hotel International fuhren. Dieses Hotel wurde in den 1950er Jahren zu Ehren Stalins erbaut. An der Statue war aus künstlerischer Sicht nichts Besonderes – das sagen zumindest die Kunsthistoriker. Auch historisch hatte sie eigentlich kaum Bedeutung. Wie bereits gesagt, wurde sie 1980 aufgestellt.“
Filip Rambousek:
"Dieses Entstehungsjahr lässt aufhorchen. Die Statue wurde nicht 1945 oder 1947 errichtet, sondern erst viele Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch von 1968. Das Monument hat somit eine andere Bedeutung, als wenn es kurz nach dem Krieg hier platziert worden wäre."
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die russische Geschichtsschreibung versucht, die Statue als ein Denkmal darzustellen, das die dankbaren Prager dem Marschall und Befreier Konew zu Ehren errichteten. In Wirklichkeit wurde sie aber eben viel später aufgestellt. Unter Stalin wäre diese Statue undenkbar gewesen, denn der hatte seinen eigenen Personenkult. Auch als Chruschtschow an der Macht war, hatte die Sowjetunion ganz andere Prioritäten. Erst in der späten Breschnew-Ära entstand wieder ein Kult um den Zweiten Weltkrieg – oder besser gesagt: den Großen Vaterländischen Krieg.“
Filip Rambousek:
"Derartige Gedenkstätten wurden aus politischen Gründen und als Machtsymbol erbaut, sagt Michael Romancov. Das sei im Übrigen schon zur Zeit des russischen Kaiserreichs so gewesen."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In allen Regionen, die das russische Imperium eroberte, wurde stets eine orthodoxe Kirche errichtet. Dadurch sollte die Zugehörigkeit des Ortes zur russischen Einflusssphäre gestärkt werden. Nach 1945 wurden aber natürlich keine Kathedralen mehr errichtet, sondern eben monumentale Denkmäler, die vor allem Stalin zeigten. Als kleine Randbemerkung sei erwähnt, dass die Tschechoslowakei eines der wenigen Länder des Ostblocks war, in dem nichts nach Stalin benannt war. In Ungarn, Polen oder der DDR war das anders, dort erhielten ganze Städte entsprechende Namen. Hierzulande gab es damals lediglich die Stadt Gottwaldov, die nach dem ersten kommunistischen Präsidenten der Tschechoslowakei benannt war. Aber es entstanden eben viele Denkmäler. Das Konew-Denkmal sollte vor allem die Zugehörigkeit Prags und der Tschechoslowakei zum sowjetischen Block zum Ausdruck bringen.“
Filip Rambousek:
"Dennoch wurde die Statue nicht sofort nach der Samtenen Revolution gestürzt. Die Rufe, die Statue zu entfernen, wurden erst ab 2015 lauter, also kurz nachdem Russlands Aggression im Osten der Ukraine begann. Ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit und der Politik habe damals die Notwendigkeit gesehen, ein Zeichen gegen den Konflikt zu setzen, sagt Karel Svoboda:"
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Man wollte auf Russlands aggressive Politik in den postsowjetischen Ländern reagieren. Nach 2014 wuchs der Druck der tschechischen Öffentlichkeit, Sowjet-Denkmäler und andere Dinge, die an unsere einstige Zugehörigkeit zum sozialistischen Block erinnerten, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Das führte zu einigen Debatten, gerade auch bei konservativen kommunistischen Politikern. Es wurden sogar einige kleinere Demonstrationen organisiert. Im Großen und Ganzen denke ich aber, dass die tschechische Öffentlichkeit es in der Mehrheit eher unterstützt hat, Denkmäler aus der sowjetischen Zeit zu entfernen.“
Filip Rambousek:
"Dies unterstreicht auch der Umstand, dass vor Kurzem nicht nur das Denkmal, sondern auch eine nach Konew benannte Straße im dritten Prager Stadtbezirk umbenannt wurde. Der Platz vor der russischen Botschaft wiederum wurde 2020 zum Boris-Nemzow-Platz erklärt. Im angrenzenden Park Stromovka entstand zur gleichen Zeit eine Promenade, die den Namen der ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja erhielt. Als Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine wurde zudem die Straße vor der russischen Botschaft in ‚Straße der Ukrainischen Helden‘ umbenannt."
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Vielleicht war es auch der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968, die später dazu führte, dass sich die Tschechoslowakei in den 1990er Jahren schnellstmöglich von den Machtstrukturen des ehemaligen Ostblocks losmachen wollte. Symbolisch brachte dies zum Beispiel der Bildhauer David Černý zum Ausdruck. 1991 bemalte er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen sowjetischen Panzer mit rosaroter Farbe. Das militärische Gerät galt eigentlich als Denkmal für die Befreiung Prags durch die Rote Armee. Die Aktion führte zu offiziellem Protest der sowjetischen Regierung. Wie Michael Romancov zudem betont, war die Tschechoslowakei der erste Staat, der den Abzug sowjetischer Truppen von seinem Gebiet durchsetzen konnte. Insgesamt handelte es sich um 70.000 Soldaten."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Die Armee der Sowjetunion verließ 1991 die Tschechoslowakei, noch bevor es im August desselben Jahres in Moskau einen Putschversuch gegen Gorbatschow gab. In dieser Zeit kam es zu mindestens zwei weiteren wichtigen Ereignissen, an denen die Tschechoslowakei bedeutenden Anteil hatte. Zum einen war das die Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zum anderen das Ende des Warschauer Paktes. Der Vertrag über die Auflösung dieses Militärbündnisses wurde in Prag im Palais Czernin unterzeichnet.“
Filip Rambousek:
"Da Russland in den 1990er Jahren zahlreiche innenpolitische Probleme hatte, sei es für die Tschechoslowakei – und nach der Staatsteilung 1993 für die Tschechische Republik – leichter gewesen, einen eigenen außenpolitischen Weg einzuschlagen, sagt Karel Svoboda."
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Außenpolitik zeichnete sich vor allem durch die Bemühungen aus, wieder ein Teil Europas zu werden. Der Weg ging eindeutig in Richtung Europäische Union. Russland sah man als einen chaotischen Koloss irgendwo im Osten an, den man nicht sonderlich im Blick haben muss.“
Filip Rambousek:
"Der Frontmann der damaligen prowestlichen Ausrichtung Tschechiens war Staatspräsident Václav Havel. Michael Romancov meint:"
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Havel war eindeutig proeuropäisch und proatlantisch. Er war nie antirussisch, hat aber stets vor Russland gewarnt und betont, dass es wichtig sei, vor dem Land auf der Hut zu sein.“
Filip Rambousek:
"Die symbolische Rückkehr nach Europa bestätigte Tschechien offiziell 1999 durch den Nato-Beitritt und 2004 durch den Eintritt in die EU. Staatsoberhaupt war damals noch immer Václav Havel. Die Eingliederung Tschechiens in westliche Strukturen sah er auch als Schutzmaßnahme vor einer eventuellen Bedrohung durch Russland. Zur gleichen Zeit habe sich aber die Dynamik zwischen Russland und Mitteleuropa zu verändern begonnen, betont Romancov:"
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In diesem Moment wurden wir für die Russen wieder interessant. Für sie war es nicht gerade eine Freude zu sehen, wie Tschechien, Polen, Ungarn und weitere Länder sozusagen die Seite wechselten. So nahm das Russland nämlich damals wahr. In der gleichen Zeit wurde Václav Klaus Tschechiens Staatspräsident. Das ist für mich ein Schlüsselmoment. Klaus war im Westen nicht so angesehen wie zuvor Václav Havel. Das bezog sich auf die Vereinigten Staaten genauso wie auf Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Meiner Meinung nach hat sich Klaus bewusst und programmatisch Russland zugewandt.“
Filip Rambousek:
"Klaus‘ Zuneigung zu Russland zeigte sich etwa darin, dass er Wladimir Putin bei dessen Prag-Besuch 2006 anbot, die Gespräche auf Russisch zu führen."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Putin quittierte das damals mit den Worten, er fühle sich geehrt. In Wirklichkeit muss ihm aber klargewesen sein, dass wir uns ihm damit unterwerfen. Denn weder Klaus noch sein Nachfolger Zeman, der diese Marotte später übernahm, sprach Russisch auf solch einem Niveau, dass er mit einem Muttersprachler eine gehobene Konversation führen konnte.“
Filip Rambousek:
"Einige Jahre später – 2009 – kam es zum Treffen zwischen dem damaligen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg und seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow. Laut Romancov offenbarte diese Begegnung besonders gut die Einstellung, mit der Russland auf Mitteleuropa blickt."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Karel Schwarzenberg sprach an, wie wir in Mitteleuropa die Lage in Osteuropa sehen. Lawrow unterbrach ihn und meinte, dass Tschechien kein mitteleuropäisches, sondern ein osteuropäisches Land sei. Schwarzenberg widersetzte sich dem, woraufhin Lawrow sagte, er hätte seine Aussage nicht konfrontativ gemeint. Er hätte Tschechien nur deshalb als Osteuropa bezeichnet, da das Land bei den Vereinten Nationen zur Gruppe der osteuropäischen Länder gehöre. Das mag objektiv gesehen zwar stimmen, die Russen haben damit aber eindeutig klargemacht, wo sie uns gern sehen würden. Klaus und Zeman haben dann leider alles unternommen, damit dieser Wunsch Moskaus in Erfüllung zu gehen schien.“
Filip Rambousek:
"Sowohl Staatspräsident Václav Klaus als auch sein Nachfolger Miloš Zeman haben laut Romancov dazu beigetragen, dass Tschechien Russland gewissermaßen nicht mehr als Sicherheitsrisiko sah. In den Mittelpunkt rückten stattdessen die Handelsbeziehungen und die Zusammenarbeit im Energiesektor. Zeman hielt an seiner prorussischen Einstellung sogar fest, als es zur Annexion der Krim kam und im Osten der Ukraine der Krieg ausbrach. Der Historiker Karel Svoboda spricht bei Zeman von einer besonderen Form des Pragmatismus."
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Zemans Pragmatismus hatte das Ziel, Russland als Handelspartner zu nutzen, der hierzulande in Firmen investiert. Befürchtungen vor Russland ließ er jedoch nicht gelten. Miloš Zeman äußerte sich sogar abfällig über all jene, die darauf aufmerksam machten, dass Russland eine Gefahr ist, das Land immer aggressiver wird und der Krieg im Osten der Ukraine kein Zufall, sondern nur der Anfang ist. All diese Stimmen tat Zeman ab. Gleichzeitig wurde im liberalen und eher rechten Parteienspektrum die Überzeugung immer größer, dass Russland eine Bedrohung darstellt.“
Filip Rambousek:
"Trotz dieser Warnsignale wurde Tschechien immer abhängiger von fossilen Brennstoffen aus Russland. Diese Abhängigkeit habe ihre Wurzeln in der Geschichte, schildert Svoboda."
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die meisten Öl- und Gaspipelines wurden gebaut, ohne auf die Interessen der einzelnen Nationalstaaten Rücksicht zu nehmen. In der Tschechoslowakei sah man die Sowjetunion als Freund an – und das „auf ewige Zeiten und nie anders“, wie es in einer Parole hieß. Die Leitungen für Öl und Gas führten von der Sowjetunion über die Tschechoslowakei nach Deutschland. Es gab keinen Grund, über Energiesicherheit zu diskutieren.“
Filip Rambousek:
"1997 konnte Tschechien zwar Erdgaslieferungen mit Norwegen vereinbaren, die ungefähr ein Viertel des tschechischen Bedarfs deckten. 20 Jahren später, also 2017, wurde der Vertrag aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht verlängert. Tschechien gelangte wieder in völlige Abhängigkeit von russischem Gas – bis die russische Armee in der Ukraine einmarschierte. Seit dem Februar 2022 konnte Tschechien in sehr kurzer Zeit die Gaslieferungen aus Russland quasi auf null herunterdrosseln. Beim Öl sehe das Ganze jedoch anders aus, betont Svoboda:"
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien konnte eine Ausnahme vom Embargo vereinbaren. Für einen gewissen Zeitraum darf also weiter Öl aus Russland bezogen werden. Das liegt zum einen daran, dass Tschechien keine Lieferungen von anderswo vereinbaren konnte, und zum anderen daran, dass die Raffinerien hierzulande nur mit russischem Öl funktionieren. Eine Umstellung auf einen Rohstoff von anderswo ist nicht ganz einfach. Deshalb kam es zu der zeitlich begrenzten Ausnahme.“
Filip Rambousek:
"Die Sonderregelung gilt bis 2025. Bis dahin soll die Erweiterung der TAL-Pipeline fertiggestellt sein, die Italien, Österreich und Deutschland miteinander verbindet. Interessant ist aber, dass der Anteil russischer Öleinfuhren gestiegen ist, wenn man sich die vergangenen Jahre ansieht. Während 2021 fast die Hälfte aller Ölimporte aus Russland kam, lag der Anteil 2022 bei 56 Prozent und in der ersten Jahreshälfte 2023 bereits bei 65 Prozent. Nicht außer Acht gelassen werden darf zudem der Bereich Kernenergie. Auch auf diesem Feld zeigte Miloš Zeman seine prorussische Haltung. Michael Romancov:"
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Zeman drängte darauf, dass der Auftrag für die Erweiterung des AKW Dukovany – der größte Deal im mitteleuropäischen Energiesektor – ganz nach dem Vorbild Ungarns ohne öffentliche Ausschreibung an Russland gehen sollte. Doch am Ende kam es anders. Das liegt vor allem daran, dass der Fall Vrbětice aufgedeckt wurde, als man über diese Dinge entschied.“
Filip Rambousek:
"Aber was genau hat es mit diesem Fall Vrbětice auf sich? Das erläutert Karel Svoboda:"
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„2014 kam es zu einer großen Explosion in einem Munitionslager im mährischen Vrbětice. Einige Zeit lang wurde in dem Fall ermittelt, doch es gab keine Ergebnisse. Dies änderte sich erst nach dem Giftanschlag auf Sergei Skripal in Salisbury. Man fand heraus, dass sich die zwei russischen Agenten, die für das Attentat auf Skripal verantwortlich waren, auch in Tschechien aufgehalten hatten – und dass ein Zusammenhang zur Explosion des Munitionslagers in Vrbětice bestand. Die tschechischen Sicherheitsorgane konnten eine Verbindung zwischen den Agenten und dem Besitzer des Munitionslagers nachweisen. Er hatte ihnen ermöglicht, die Explosion durchzuführen.“
Filip Rambousek:
"Der Fall Vrbětice hatte dabei noch eine weitere internationale Dimension, wie Michael Romancov weiß:"
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Explosion mit dem damaligen Krieg im Donbass im Zusammenhang stand. Denn die Munition, die dort eingelagert war, war für die Ukraine bestimmt. Sie sollte dort im Krieg eingesetzt werden – oder im Falle einer russischen Invasion. Deshalb verübten die Russen diesen Sabotageakt. Zwei tschechische Bürger verloren dabei ihr Leben. Tschechien hat also zwei Opfer im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu beklagen – und das mitten im eigenen Land. Nachdem der Fall aufgedeckt wurde, wies Prag 18 sogenannte russische Diplomaten aus, die vom tschechischen Geheimdienst als Agenten identifiziert worden waren. Als Reaktion darauf wurde Tschechien im Mai 2021 gemeinsam mit den USA auf Russlands ‚Liste feindlicher Länder‘ gesetzt.“
Filip Rambousek:
"Das vergleichsweise scharfe Vorgehen der tschechischen Regierung stand damals im Gegensatz zur Haltung von Staatspräsident Zeman. Dieser vertrat nach wie vor prorussische Positionen – seit seiner Amtseinführung im Jahr 2013 hatte sich daran nichts geändert."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Er zweifelte nicht nur eine Beteiligung Russlands am Krieg im Donbass an und empfahl der Ukraine, die Krim an Russland abzutreten. Sondern auch in vielen weiteren Aspekten verschloss er sich jenem Blick auf die Dinge, wie er im Westen überwog. Zum Anschlag auf Sergei Skripal sagte Zeman etwa, dass das verwendete Nervengift Nowitschok früher ja auch in Tschechien hergestellt worden sei. Damit befeuerte der Präsident auch seinen Konflikt mit den Journalisten in Tschechien. Zum Fall Vrbětice meinte Zeman nur, es gebe rund um die Explosion des Waffenlagers unterschiedliche Theorien der Ermittler. Das war alles. Seine Haltung änderte Zeman erst angesichts der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Grund dafür war aber nur, dass er sehr gut wusste, dass seine politische Karriere andernfalls zu Ende gegangen wäre.“
Filip Rambousek:
"Seit dem Februar 2022 sei die Meinung der tschechischen Öffentlichkeit zum russischen Einmarsch in die Ukraine relativ eindeutig, sagt Karel Svoboda:"
Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt zwar Parteien, die prorussisch eingestellt sind, vor allem die Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) und die Kommunistische Partei. Ich würde aber sagen, dass das eher kleinere Strömungen sind. Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass rund 80 Prozent der Menschen die Schuld für die Invasion eindeutig bei Russland sehen. Schon eher gehen die Meinungen darüber auseinander, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte. Aber dennoch würde ich sagen, dass die Unterstützung für die Ukraine immer noch sehr groß ist. Natürlich wächst eine gewisse Kriegsmüdigkeit, aber dazu kommt es immer – im Übrigen auch in Russland. Aber: Ich erlaube mir zu behaupten, dass die Mehrheit der Menschen in Tschechien die russische Aggression klar verurteilt.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Prag, 16. September 2023. Am oberen Ende des Wenzelsplatzes haben sich viele Menschen versammelt. Die meisten von ihnen haben tschechische Fahnen dabei. So viele tschechische Flaggen auf einmal habe ich wohl noch nie gesehen. Gleich soll hier eine Demonstration losgehen mit dem Motto „Tschechien gegen die Regierung“.
Es gibt hier viele Transparente. „Stoppt den Öko-Terror“, steht auf einem. „Nein zum Krieg“, heißt es woanders. Die ältere Frau, die gerade dieses Schild in die Höhe reckt, frage ich, wie sie das genau meint."
Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind wegen der Regierung hier. Sie ist gegen die Menschen. Warum da ‚Nein zum Krieg‘ steht? Die Regierung zieht uns geradezu in den Konflikt mithinein. Wir sind für Russland der Erzfeind Nummer eins. Schuld daran ist die Regierung. Und wir haben natürlich Angst. Wir wollen keinen Krieg. Und dann ist da noch die finanzielle Lage. Die Regierung hat die Menschen und das gesamte Land heruntergewirtschaftet. Jetzt kochen die Emotionen natürlich hoch. Die Leute können einfach nicht mehr. Manche vielleicht schon, aber ich habe genug von alldem.“
Filip Rambousek:
"Und den Grund dafür sehen Sie auch darin, dass die tschechische Regierung die Ukraine unterstützt? Das stört Sie?"
Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, genau. Waffen und überteuerte Flugzeuge stehen für die Regierung an erster Stelle. Aber den Rentnern und Schulkindern nehmen sie das Geld weg. Das Gesundheitssystem geht den Bach herunter, die Leute haben kein Geld mehr in den Taschen. Was soll man dazu noch sagen? Das ist eben die Regierung, die gegen die Menschen ist.“
Filip Rambousek:
"Später spreche ich noch mit einem Mann mittleren Alters.
„Hallo! Was bringt Sie hierher zu dieser Demonstration?“"
Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind unzufrieden mit der Regierung und damit, dass sie den Leuten das Geld wegnimmt und es stattdessen in die Ukraine pumpt.“
Filip Rambousek:
"Sie finden es also nicht gut, dass Tschechien Waffen an die Ukraine liefert?"
Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Das finde ich ganz und gar nicht gut.“
Filip Rambousek:
"Die meisten Menschen sind sicher der Meinung, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Wäre es da nicht gut, dass…"
Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Russland hat die Ukraine nicht angegriffen. Russland wurde in diesen Krieg mit der Ukraine hineingezogen.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"An der Demonstration im September nahmen Schätzungen zufolge rund 10.000 Menschen teil. Es war nicht der erste Protest in den vergangenen Monaten gegen die Regierung. Meist nehmen an den Veranstaltungen Menschen im mittleren und hohen Alter teil. Experten zufolge radikalisiert sich die Mittelschicht in Tschechien wie in anderen Ländern immer mehr. Die Protestierenden würden dabei unterschiedliche Meinungsströmungen vertreten, sie kämen von Linksaußen, aber auch vom rechten Rand, sagt der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"
Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Dass sich diese Menschen miteinander verbinden, ist sehr deutlich. Vor allem eint sie ihr starker Widerstand gegen den Westen, sie lehnen den westlichen Liberalismus ab und auch den Liberalismus allgemein. Stattdessen wenden sie sich dem Autoritarismus zu. Sie haben das Gefühl, Westeuropa sei – angesichts von LGBT, Veganismus und anderen Werten – verloren, dekadent und schwach. Es muss nicht immer so klar formuliert sein, aber die Vorstellung, der Westen sei verloren, führt bei vielen Menschen dazu, dass sie sich fragen, wo denn die Macht sei, auf die wir uns stützen könnten. Und wenn der Westen verloren ist, dann bleibt uns ja nur noch der Osten.“
Filip Rambousek:
"Offene prorussische Haltungen sind in Tschechien laut Charvát eher die Ausnahme. Umso stärker vertreten sind aber Meinungen, die die russischen Interessen indirekt unterstützen."
Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Parolen gehört habe, die auf den Demonstrationen vertreten wurden, fiel mir auf, dass das die Leitsätze aus den kommunistischen Lehrbüchern der 1980er Jahre sind. Die heutige mittlere und ältere Generation ist mit diesen Parolen aufgewachsen. Es sind Sprüche wie: ‚Wir wollen Frieden‘, ‚Frieden ist besser als Krieg‘, ‚Frieden um jeden Preis‘, ‚Russland ist ein Garant für Frieden‘ oder ‚Russland hat den Faschismus besiegt‘. All dies taucht dort auf. Dabei zeigt sich, dass ‚Frieden‘ in den Augen einiger Demonstranten bedeutet, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und wieder Handelsbeziehungen mit Russland aufzunehmen.“
Filip Rambousek:
"Ein weiteres wichtiges Thema der regierungskritischen Demonstrationen sind die Geflüchteten aus der Ukraine. Das Zehn-Millionen-Einwohnerland Tschechien beherbergt aktuell etwa 350.000 von ihnen. Während 2015 die Aufnahme von Geflüchteten von den meisten Tschechen abgelehnt wurden, sei die Stimmung im Februar 2022 ganz anders gewesen, schildert Jan Charvát:"
Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Die Unterstützung für die Ukraine erreichte über 90 Prozent Zustimmung, und ebenso groß war auch die Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter. Heute, ein Jahr später, ist zu sehen, dass Systemverweigerer und Vertreter der Desinformationsszene wieder genau die gleichen Narrative verwenden wie 2015. Sie sagen, die Migranten würden Arbeitsplätze wegnehmen, die Kriminalität würde steigen, die Eingewanderten würden mit Drogen handeln und Gelder vom Staat beziehen – zu Lasten der eigenen Bürger. Oftmals tauchen auch Behauptungen auf, dass es sich gar nicht um Flüchtlinge handele, da sie ja teure Autos und Handys hätten. Mich würde einmal interessieren, ob sich die diejenigen, die diese Narrative verbreiten, eigentlich dessen bewusst sind, dass sie ein und dasselbe von sich geben wie 2015.“
Filip Rambousek:
"Teile der tschechischen Öffentlichkeit lehnen die ukrainischen Flüchtlinge also ab. Dahinter stecke das subjektive Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, sagt Charvát."
Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Manche Menschen haben das Gefühl, der Staat kümmere sich nicht um sie, sondern stattdessen um andere. Es ist dann ganz egal, ob das Roma, Migranten aus Syrien oder Ukrainer sind. ‚Der Staat soll sich doch um mich kümmern, damit ich das Geld bekomme und nicht irgendwelche Flüchtlinge.‘ So sehen das manche Menschen.“
Filip Rambousek:
"Eine Rolle bei der Verbreitung derartiger Ansichten haben auch Desinformationskampagnen und weitere Formen falscher oder irreführender Informationen. Die Bedeutung prorussischer Fake News würde in Tschechien aber überschätzt werden, meint Charvát. Beim absichtlichen Verbreiten von Lügen sei nicht das zentrale Ziel, Russland als bestes Land der Welt darzustellen. Stattdessen solle das Vertrauen in die seriösen Medien und die Demokratie im Allgemeinen untergraben werden. Und in diesem Bereich leistet die Desinformationsszene in Tschechien ganze Arbeit…"
Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Aktuellen Studien zufolge gibt es scheinbar eine relativ große Gruppe von Menschen, die zwar nicht an Desinformationen glaubt, sich aber sagt: ‚Vielleicht ist da ja doch etwas dran. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas davon nicht doch stimmt. Ich habe das Vertrauen in das aktuelle System verloren.‘ Diese Menschen neigen dazu, Desinformationen am Ende zu glauben.“
Filip Rambousek:
"Die gezielte Polarisierung der Gesellschaft ist zudem ein Mittel, um unzufriedene Wähler für sich zu gewinnen. Dessen sind sich laut Michael Romancov auch die Veranstalter der derzeitigen Regierungsproteste bewusst."
Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Diejenigen, die prorussische Narrative vertreten – allen voran die kommunistische Partei in Tschechien, aber auch viele andere –, haben nach dem ersten halben Jahr wieder ihre eigene Agenda aufgetischt. Ich sehe das als Bestandteil innenpolitischer Machtkämpfe. Es geht um Wählerstimmen. Diejenigen, die diese Strömungen anführen, rechnen sich aus, Punkte gutzumachen, wenn sie die offizielle Haltung der Regierung zum Konflikt in der Ukraine ablehnen.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Der zweite Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ ist damit an seinem Ende angelangt. In der nächsten Folge geht es um die Rechte von LGBTQ+-Menschen in Tschechien und um die Rolle der katholischen Kirche in der öffentlichen Debatte zu diesem Thema.
Wenn Sie das Geschehen in Tschechien interessiert, schalten sie auch beim nächsten Mal wieder ein.
Einen schönen Tag wünscht Ihnen Filip Rambousek."
Zu Gast in dieser Folge:
Dr. Michael Romancov ist ein tschechischer politischer Geograph, Pädagoge und Publizist. Seine Schwerpunkte sind Geopolitik, Geschichte der internationalen Beziehungen, Russland, der Nahe Osten und Afrika. Er ist Absolvent der Pädagogischen Fakultät, der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität. Seit 1998 unterrichtet er auch an der Karlsuniversität, und zwar an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien. Seit 2005 ist er auch an der Metropolitan University Prag tätig. Von 2001 bis 2007 war er Dozent an der Westböhmischen Universität (Fachbereich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen). Er schreibt für eine Reihe tschechischer Zeitschriften. Neben Tschechisch spricht er auch Englisch und Russisch.
Dr. Karel Svoboda studierte Russistik und Osteuropastudien an der Karlsuniversität in Prag, wo er auch promovierte. Von 2012 bis 2013 war er Fulbright-Masaryk-Stipendiat an der University of Rochester, wo er Vorlesungen über politische Ökonomie der kommunistischen und postkommunistischen Welt hielt. Er hat ein langjähriges Interesse an der ehemaligen Sowjetunion. Er hat zahlreiche Artikel und wissenschaftliche Studien zu diesem Thema veröffentlicht.
Dr. Jan Charvát ist ein tschechischer Politikwissenschaftler, der sich auf politischen Extremismus spezialisiert hat.
Er ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien der Karlsuniversität, Lehrstuhl für Politikwissenschaft. In der Vergangenheit arbeitete er auch am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Philosophie an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem.
Er studierte Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität und politische Soziologie an der Högskolan Dalarna in Schweden. Er promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit einer Arbeit über die Formen des politischen Extremismus in der Tschechischen Republik nach 1989. Sein Spezialgebiet sind politischer Extremismus und verwandte Themen (Radikalisierung, extreme Rechte, extreme Linke, Rassismus und Subkulturen).
Er hat zahlreiche Bücher, Beiträge und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Thema Extremismus arbeitet er seit langem mit dem Non-Profit-Sektor zusammen zum Beispiel mit den Organisationen People in Need, Hate Free Culture und In IUSTITIA.
Folge 3: Die Lage der LGBTQIA+
Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu unseren Gästen.
Anmerkung: Die tschechischsprachigen Redebeiträge werden in der Folge wörtlich übersetzt, wodurch oft das generische Maskulin verwendet wird. In unseren Ausführungen möchten wir explizit alle Menschen ansprechen.
Tschechien ist im Hinblick auf Homosexualität relativ liberal. 2006 wurde die Eingetragene Lebenspartnerschaft (registrované partnerství) für homosexuelle Paare eingeführt. Historisch war es eines der wenigen Länder, die in den 1930er Jahren eine eigenständige organisierte Homosexuellenbewegung aufzuweisen hatte. Bereits in den 1930er Jahren gab es in der damaligen Tschechoslowakei eine Homosexuellenbewegung, die insbesondere in Prag und Brünn aktiv war. Die Československá Liga pro sexuální reformu (Tschechoslowakische Liga für Sexualreform, CLSR) war ein aktiver Teil der Weltliga für Sexualreform, der fünfte und letzte Kongress der Weltliga fand vom 20. bis 26. November 1932 in Brünn statt. Eine spezielle Homosexuellenorganisation war Osvětové a společenského sdružení Přátelství (Aufgeklärter Gesellschaftsverband "Freundschaft", OSSP). Aus der tschechoslowakischen Bewegung heraus wurden mehrere Zeitschriften herausgegeben, so in Prag Hlas bzw. Novy hlas von 1931 bis 1937, Kamarad (1932 in Brno) und Hlas přírody (1938). Hauptziel der Bewegung war der Kampf gegen den §129, der Homosexualität in der Tschechoslowakei kriminalisierte. Durch die Besetzung des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutschland und die anschließende Besetzung der Tschechoslowakei musste die Bewegung ihre Arbeit einstellen.
Homosexualität wurde zum 1. Januar 1962 durch das neue Strafgesetzbuch der Tschechoslowakei entkriminalisiert. Im Jahre 1990 wurde die Homosexualität der Heterosexualität gleichgestellt und das Schutzalter auf 15 Jahre angeglichen und Homosexuelle Menschen konnten Militärdienst leisten. Erste Antidiskriminierungsgesetzesänderungen fanden 1999 durch die Novellierung des Beschäftigungsgesetzes statt. Seit 2001 (Gesetz 273/2001 Sb.) wird die sexuelle Orientierung im Zuge der Umsetzung der Antidiskriminierungsvorschriften der Europäischen Union weitgehender geschützt. Seit dem 1. Juli 2006 können gleichgeschlechtliche Paare eine Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. Das Gesetz Nr. 115/2006 Sb. wurde am 16. Dezember 2005 vom tschechischen Abgeordnetenhaus und am 26. Januar 2006 vom tschechischen Senat verabschiedet. Ein Veto des tschechischen Präsidenten Václav Klaus wurde vom tschechischen Abgeordnetenhaus am 15. März 2006 überstimmt.
Eine eingetragene Partnerschaft ist eine Verbindung, die von Personen des gleichen Geschlechts eingegangen werden kann. Viele Menschen glauben manchmal fälschlicherweise, dass es sich um dieselbe Art von Verbindung wie die Ehe handelt, die aber anders genannt wird, weil sie für Homosexuelle bestimmt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn sie unterscheidet sich von der Ehe nicht nur im Namen, sondern auch in den Rechten. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nur in bestimmten Ämtern und nur in Kreisstädten eine Lebenspartnerschaft eingehen; eine kirchliche Trauung ist nicht möglich. Nur der Standesbeamte ist anwesend, und die Trauung wird (da es sich nicht um eine Zeremonie handelt) ohne die notwendige Anwesenheit von Zeugen vollzogen. Sie behalten ihre Nachnamen, und wenn sie eine Änderung wünschen, müssen sie diese gegen eine Gebühr beantragen. Außerdem haben die Partner kein Gemeinschaftseigentum, so dass ihr Eigentum nicht automatisch zusammengelegt wird. Die Parre müssten es selbst in ein Gemeinschaftseigentum umwandeln. Sie haben keinen Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente oder auf die Adoption von Kindern. Am 28. Juni 2016 wurde der § 13 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 115/2006 Slg. über eingetragene Partnerschaften, der es einem der Partner untersagte, ein Kind einzeln zu adoptieren, vom Verfassungsgericht aufgehoben. Nach tschechischem Recht kann ein Kind somit entweder von einem verheirateten Paar, d. h. derzeit von einem Mann und einer Frau, oder von einer Einzelperson adoptiert werden, unabhängig von deren sexueller Orientierung. Pflegefamilien für homosexuelle Paare sind jedoch möglich, und es ist sogar ein Fall bekannt, in dem Kinder in der Pflegefamilie eines homosexuellen Paares untergebracht wurden. Problematisch ist jedoch die Situation von gleichgeschlechtlichen Paaren, die zwar gemeinsam Kinder aufziehen, bei denen aber nur einer von ihnen nach dem Gesetz als rechtlicher Elternteil gilt.
Am 13. Juni 2018 reichte eine Gruppe von 46 Abgeordneten der ANO, der Piraten, der ČSSD, der STAN, der TOP 09 und der KSČM im tschechischen Abgeordnetenhaus einen Vorschlag zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein, um die Eheschließung für homosexuelle Paare zu ermöglichen und die Institution der eingetragenen Partnerschaft abzuschaffen. Die Änderung würde es gleichgeschlechtlichen Paaren auch ermöglichen, gemeinsam ein Kind zu adoptieren und gemeinsam eine Pflegefamilie zu unterhalten. Der Vorschlag erhielt am 22. Juni die Zustimmung der Regierung. Die Prüfung der Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs verzögerte sich jedoch um fast drei Jahre, so dass die erste Lesung erst am 29. April 2021 stattfand, die zweite Lesung jedoch nicht stattfand und das Gesetz in der neuen Legislaturperiode des Parlaments nicht angenommen wurde.
Eine neue, ähnliche Änderung des Zivilgesetzbuches wurde von Abgeordneten aus den Fraktionen ODS, TOP 09, ANO, Piraten und STAN unter der Leitung des Abgeordneten Josef Bernard von der STAN-Bewegung im Juni 2022 vorbereitet. Einen Kompromissvorschlag hat der Abgeordnete der Christdemokraten Jiří Navrátil vorgelegt, dieser wird gerade auch im Abgeordnetenhaus verhandelt. Deer Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der Eingetragenen Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Im Abgeordnetenhaus entstand jedoch noch ein weiterer Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel dieser Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker der Bürgerdemokraten sowie der ANO. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist.Nach den internationalen Menschenrechtsnormen darf niemand gezwungen werden, zwischen seiner Identität und seiner körperlichen Unversehrtheit zu wählen. Für Transmenschen ist die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität eine wesentliche Voraussetzung für ein freies, authentisches und offenes Leben. Nach tschechischem Recht (dem Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste) gibt es eine Reihe von Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Um eine Geschlechtsumwandlung in Personaldokumenten und staatlichen Systemen zu erreichen, muss man sich einer medizinischen Operation unterziehen, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, d. h. einer Sterilisation. Eine obligatorische Operation, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, wird jedoch als ungerechtfertigter Eingriff in die Rechte von Trans-Personen betrachtet, wie im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwähnt. In tschechischen Personalausweisen ist das Geschlecht einer Person als obligatorische Angabe aufgeführt, und auch die Geburtsnummern geben das Geschlecht an. Im Zuge der Geschlechtsumwandlung können Trans-Personen ihren Namen nicht willkürlich ändern, sondern müssen dafür strenge Regeln befolgen. Sie sind nur berechtigt, ihren Namen in einen so genannten neutralen Namen zu ändern (die Annahme des Namens hängt vom jeweiligen Standesamt ab). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der Justizminister mit der Vorbereitung von Änderungen im tschechischen Recht begonnen, die die Sterilisierung von Trans-Personen, die im tschechischen Bürgerlichen Gesetzbuch und im Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste enthalten ist, abschaffen würden. Der Änderungsantrag wurde vorbereitet und mit den wichtigsten Ministerien konsultiert, aber der Regierung nie zur Genehmigung vorgelegt. Transgender-Personen werden in der Tschechischen Republik immer noch sterilisiert, was gegen mehrere Menschenrechte verstößt, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Privatsphäre und Familienleben und das Recht auf den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard.
Laut einem Bericht von ILGA-Europe vom Mai 2019 belegte die Tschechische Republik in einem Index zur Einstellung gegenüber sexuellen Minderheiten den 31. Platz von 49 untersuchten europäischen Ländern. Dem Bericht zufolge fehlte es in der Tschechischen Republik an Gesetzen zur Ahndung von Hassreden aufgrund der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts sowie an einer gesetzlichen Regelung für gleichgeschlechtliche Familien mit Kindern oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Der Bericht erwähnte auch eine Predigt von Peter Pitha, einem der ranghöchsten Führer der katholischen Kirche, der im Oktober 2018 im Veitsdom die Istanbul-Konvention kritisierte.
Obwohl die öffentliche Meinung zu rechtlichen Fragen in Bezug auf LGBTQIA+-Personen im 21. Jahrhundert einen positiven Trend zeigt (in einer Umfrage der staatlichen Agentur CVVM im 2018 gaben 19 % der Tschechen an, dass sie sich keine homosexuellen Menschen als Nachbarn wünschen. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 lag dieser Anteil bei 42 % der Befragten, 2005 bei 34 % und 2007 bei 29 %), lehnen in einer Umfrage gleicher Agentur aus dem Jahr 2020 die gleichgeschlechtliche Ehe immer noch mehr Menschen ab (37 %) als sie befürworten (34 %). Auch der Aussage, dass ein gleichgeschlechtliches Paar ein Kind genauso gut großziehen kann wie ein heterosexuelles Paar, stimmen mehr Bürger nicht zu (36 % stimmen nicht zu, 31 % stimmen zu).
LGBTQIAI+-Menschen in der Tschechischen Republik sind immer noch Ziel von Vorurteilen und Diskriminierung, die oft in Gewalt gipfeln. Laut einer Studie des Ombudsmanns für Rechte aus dem Jahr 2019 ist nur ein Drittel der tschechischen Bevölkerung der Meinung, dass es Diskriminierung von LGBTQIA+ Menschen gibt. Andererseits glauben drei Viertel der befragten LGBTQIA+-Personen, dass es in der Tschechischen Republik Diskriminierung gibt. Der Studie zufolge hat sich mehr als ein Drittel der LGBTQIA+-Personen in den letzten fünf Jahren diskriminiert gefühlt - eine Zahl, die dreimal so hoch ist wie die von der tschechischen Öffentlichkeit angegebene. 15 % der Befragten haben körperliche oder sexuelle Gewalt, Angriffe und Drohungen erlebt. Eines der drängendsten Probleme besteht darin, dass Fälle, in denen LGBTQIA+-Personen diskriminiert oder mit Hassreden konfrontiert werden, in der Regel nicht bei der Polizei gemeldet werden. Nicht weniger als 91 % der LGBTQIA+-Befragten haben solche Fälle nirgendwo gemeldet. 47 % der Befragten bezeichneten sie als triviale Vorfälle, die es nicht wert sind, gemeldet zu werden, und 44 % glaubten, dass eine Meldung ohnehin nichts bewirken würde.
Obwohl weitgehend säkular, scheint sich die tschechische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten auf ihre christlichen Wurzeln zu Besinnen. Zumindest werden die christlichen Werte im öffentlichen Diskurs oft thematisiert, vor allem wenn es um kontroverse Themen wie Ehe für Alle, LGBTQIA+, reproduktive Rechte der Frauen, oder Migration geht.
Gegen das Gesetz Ehe für alle stellen sich jedoch aktuell viele Abgeordnete. Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist ein relativ hoher Anteil an Christen unter den Spitzenpolitikern. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkularer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe.
Gemessen an der Zahl ihrer Gläubiger, sollte der Einfluss der katholischen Kirche eher bescheiden sein, doch beide ehemaligen Präsidenten, Václav Klaus und Miloš Zeman – beide Atheisten – pflegten enge Kontakte zu dem nicht unumstrittenen Kardinal Duka und ließen sich gerne mit ihm sehen. Es ist davon auszugehen, dass solche Beziehungen den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik stärken. Neben einigen Kirchenvertretern mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistenten oder Berater einflussreicher Politiker der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium.
Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."
Filip Rambousek:
"Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber spreche ich mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu meinen Gästen. Zunächst in ich aber bei einem Umzug der Prague Pride, der Mitte August dieses Jahres stattfand…
Auf das untere Ende des Prager Wenzelsplatzes strömen nach und nach immer mehr Menschen. Überall sind Regebogenfarben zu sehen. Hier hinten, in der Mitte des Platzes, sehe ich eine riesige Regenbogenflagge. Sie liegt aktuell noch auf dem Boden, aber rundherum stehen bereits um die 20 Menschen, die die Flagge wohl gleich bei dem Umzug tragen werden. Jeden Augenblick beginnt hier der 13. Jahrgang der Prague Pride – ein Marsch, bei dem gleiche Rechte für alle Menschen gefordert werden, ganz egal welche sexuelle Orientierung oder welche Gender-Identität man hat.
Hallo, Sie gehen scheinbar auch auf die Prague Pride. Warum unterstützen Sie diesen Umzug?"
Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir gehen natürlich auf die Pride, weil wir schwul sind, genauso wie alle unsere Freunde. Die Aktion hier macht einfach Spaß. Wir kommen schon seit fünf Jahren hierher, die Atmosphäre ist immer super. Aber es geht nicht nur um das Vergnügen, sondern auch um die Menschenrechte. Wir kämpfen nämlich für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare.“
Filip Rambousek:
"Und wie sehr freuen Sie sich auf den Umzug?"
Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir freuen uns sehr. Die Stimmung hier ist super. Ich muss nur immer darüber nachdenken, dass wir bis nach oben auf die Letná-Anhöhe sehr viele Treppen zu steigen haben werden!“
Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Stellung von LGBTQIA+ in Tschechien? Wo besteht am meisten Nachholbedarf?"
Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Vor allem bei der Regierung. Wenn sie sich auch dafür einsetzen würde, dann dürfte das auch Einfluss auf die breite Bevölkerung haben. Außerdem können gleichgeschlechtliche Paare immer noch nicht heiraten und für Trans-Personen ist es sehr schwierig, beim Amt ihr Geschlecht ändern zu lassen.“
Filip Rambousek:
"Das sollte sich also verbessern… Und dafür wollen Sie heute einstehen?"
Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ganz genau.“
Filip Rambousek:
"Hallo, Sie haben eine große Regenbogenfahne dabei. Darf ich fragen, warum Sie heute hier sind?"
Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ich komme jedes Jahr hierher. Mir macht das einfach Spaß.“
Filip Rambousek:
"Wie schätzen Sie die rechtliche Stellung von queeren Menschen in Tschechien ein? Woran mangelt es am meisten? Was sollte sich ändern?"
Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Im Vergleich zu vor ein paar Jahren hat sich unser Leben wesentlich zum Guten gewandelt. Das steht ganz außer Frage. Wir sehen aber auch, dass viel Unsicherheit herrscht – vor allem, wenn man sich anschaut, welche Auswirkungen manche Meinungen aus Osteuropa haben. LGBTQIA+ müssen deshalb weiter kämpfen. Derzeit geht es dabei vor allem um die Ehe für alle.“
Filip Rambousek:
"Der farbenfrohe Umzug der Prague Pride hat sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Nach einem Marsch durch die Straßen der Altstadt und über eine Moldaubrücke erreichen die Teilnehmer den Letná-Park.
Guten Tag, haben Sie am ganzen Umzug teilgenommen?"
Dritte Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, wir sind vom Wenzelsplatz bis hier oben auf die Letná-Anhöhe mitgelaufen.“
Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Lage von LGBTQIA+ in Tschechien? Denken Sie, dass sie gute Bedingungen haben? Oder sehen Sie hingegen eine Menge Luft nach oben?"
Dritte Person auf der Prague Pride(übersetzt ins Deutsche):
„Die Lage ist nicht gut. Es gibt ein juristisches Vakuum. Wir wünschen uns eine neue Rechtsprechung, durch die die Rechte von queeren Menschen mit denen von heterosexuellen Paaren und Familien gleichgesetzt werden. Denn für Regenbogenfamilien mit Kindern führt die gegenwärtige Lage zu viel Stress.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"An dem Umzug sollen den Angaben zufolge bis zu 60.000 Menschen teilgenommen haben. Wie mehrere Teilnehmer*innen sagten, ist die Ehe für alle in Tschechien gerade ein wichtiges Thema. Als erster Schritt wird dabei oft die Entkriminalisierung der Homosexualität angesehen, zu der es 1961 in der sozialistischen Tschechoslowakei kam. Michal Pitoňák forscht am Nationalen Institut für seelische Gesundheit. Er sagt:"
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„In der Tschechoslowakei wurde Homosexualität ab dem Beginn der 1960er Jahren nicht mehr bestraft. Das hing auch mit einigen Gerichtsprozessen zusammen, die als ungerecht angesehen wurden. Zudem war die Sexualwissenschaft in der Tschechoslowakei recht weit fortgeschritten. Dank fortschrittlicher Sexologen ist den Menschen klargeworden, dass Homosexuelle keine Störung haben und sie deshalb auch nicht verfolgt werden sollten.“
Filip Rambousek:
"Zum Vergleich: In der DDR wurde die Homosexualität erst 1968 legal, in Westdeutschland sogar noch einige Jahre später. In allen Fällen galt dabei eine Altersgrenze von 18 Jahren. Eine weitere Verbesserung für die Stellung gleichgeschlechtlicher Paare trat erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein."
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Nach 1989 entstanden in der Tschechoslowakei – und später in der Tschechischen Republik – schnell Organisationen, die für Gleichberechtigung eintraten. Sie forderten unter anderem eine Senkung der ungleichen Altersgrenze für Geschlechtsverkehr von 18 auf 15 Jahre, und sie machten sich stark für den Schutz gegen sexuell übertragbare Infektionen. In den 1990er Jahren öffneten sich die Grenzen, und dadurch erlebte die Prostitution einen großen Aufschwung. Tschechien wurde als slawisches Land gesehen, das für die gut betuchten Kunden aus dem Westen recht erschwinglich war. Die NGOs beschäftigten sich damals vor allem mit der Frage, wie die Angehörigen sexueller Minderheiten ein sicheres Leben führen können. Zu dieser Zeit wurden auch erstmals Rufe danach laut, gleichgeschlechtliche Paare als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, die ein Recht darauf haben, eine Ehe einzugehen.“
Filip Rambousek:
"Im Laufe der 1990er Jahre tauchten gleich mehrere Anträge auf, homosexuelle Ehen anzuerkennen. Keiner wurde aber angenommen. Einen Teilerfolg konnten die Befürworter*innen erst 2006 verzeichnen. Damals wurde das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft beziehungsweise die registrierte Partnerschaft verabschiedet. Michal Pitoňák sagt:"
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Erst im ungefähr fünften Entwurf wurde das Gesetz 2006 angenommen – und das in einer Minimalversion. Die Vorlage umfasste nämlich eine Bedingung, die die Fraktionen der Bürgerdemokraten und der Christdemokraten durchsetzten. Dadurch wurde registrierten Partnern explizit verboten, eine Adoption zu beantragen. Und dies galt auch für jeden der Partner individuell.“
Filip Rambousek:
"Diese Regelung hat zu einer absurden Lage geführt, wie die Juristin Adéla Horáková von der Initiative Jsme fér (Wir sind fair) an einem konkreten Beispiel darlegt:"
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man homosexuell war, aber keine Lebenspartnerschaft eingetragen hatte, konnte man als Alleinstehender ein Kind adoptieren. Sobald man aber eine Partnerschaft registrieren ließ, verlor man dieses Recht. Für einen normalen Menschen muss das doch absurd klingen. Aber dieses Vorgehen ist leider symptomatisch für die Gesetzgebung in Tschechien, was die Rechte von LGBTQIA+ angeht. Es kommt zwar zu kleinen Zugeständnissen, gleichzeitig soll uns aber auch das Leben schwerer gemacht werden – und eine wirkliche Gleichberechtigung rückt so in weite Ferne. Das Verbot individueller Adoptionen bestand zehn Jahre lang und wurde erst durch ein Urteil des Verfassungsgerichts geändert.“
Filip Rambousek:
"Auch nachdem diese strittigen Bedingungen angepasst worden seien, bestünden aber weiterhin spürbare Unterschiede zwischen Ehe und registrierter Partnerschaft, erläutert Pitoňák:"
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist im Grunde ein formeller Rechtsakt. Man braucht keine Zeugen, man braucht im Grunde gar nichts. Sie bringt keinen Anspruch auf eine Namensänderung mit sich, diese muss erst gesondert beantragt werden. Es entsteht auch keine Gütergemeinschaft. Wenn einer der Partner stirbt, steht dem Hinterbliebenen keine Witwenrente zu. Anders ist das, wenn einer von zwei Ehepartnern ums Leben kommt. Dann rechnet das System mit der zweiten Person, und es entsteht ein Anspruch auf Unterstützung. Bei eingetragenen Lebenspartnern ist das nicht so.“
Filip Rambousek:
"Adéla Horáková macht noch auf einen weiteren zentralen Unterschied aufmerksam: So führt die Lebenspartnerschaft aktuell nicht zu den gemeinsamen Rechten in einer Familie."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Kinder, die mit zwei Müttern oder Vätern aufwachsen, wachsen rechtlich in einem schlechteren Umfeld auf als der Nachwuchs eines heterosexuellen Paares. Die Kinder gleichgeschlechtlicher Paare haben damit kein Problem, sie sehen beiden Elternteile als ihre Eltern an, als zwei Mütter oder Väter. Vor dem Gesetz gestaltet sich das jedoch anders. Einer der beiden Elternteile gilt im Grunde als Mitbewohner. Es ist schon absurd, dass sich Menschen, die sich gegen die Rechte von Familien stellen, auf einmal den Rechten von Kindern verschreiben. Damit meine ich die Vertreter der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie, die Christdemokraten, die Bürgerdemokraten und einen großen Teil der Partei Ano. Sie alle behaupten, sie wollten die Kinder beschützen. In Wahrheit tun sie jedoch das Gegenteil: Sie schaden ihnen. Die Kinder rufen: ‚Schützt unsere Familien, erkennt unsere beiden Eltern an.‘ Aber diese Politiker sagen: ‚Wir schützen euch, indem wir eure Eltern nicht anerkennen.‘“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Der Gesetzesvorschlag zur Ehe für alle wird derzeit im Abgeordnetenhaus verhandelt. Eingebracht wurde er von Abgeordneten der liberalen Parteien, also den Piraten, der Top 09 und der Bürgermeisterpartei Stan. Aber auch einige Politiker*innen der konservativen Bürgerdemokraten und der populistischen Ano haben sich daran beteiligt. Gleich bei der ersten Lesung sorgte die Novelle für hitzige Diskussionen – und es wurde auch starke Kritik laut. Šimon Heller, Abgeordneter der Christdemokraten, sagte damals:"
Zitat von Šimon Heller (KDU-ČSL) (übersetzt ins Deutsche):
„Bei uns in Südböhmen, da ist Rindfleisch Rindfleisch und Hühnerfleisch Hühnerfleisch. Alles hat seinen Namen. Und die Ehe wird für mich immer ein Bund von einem Mann mit einer Frau sein.“
Filip Rambousek:
"Auch Jan Síla von der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) driftete in seiner Rede ab zu abfälligen Aussagen. In Zusammenhang mit Homosexualität sprach er etwa von einer „biologischen Anomalie“. Der christdemokratische Abgeordnete Hayato Okamura äußerte sich etwas gemäßigter. Aber auch er ist gegen die Ehe für alle, Zitat:"
Zitat von Hayato Okamura (übersetzt ins Deutsche):
„Natürlich fordert eine Gruppe von Menschen Rechte ein. Darüber lässt sich diskutieren. Es geht um die Wünsche einiger in dieser Gruppe, denn wie wir wissen, will nicht jeder, der in einer homosexuellen Beziehung lebt, auch gleich verheiratet sein und hält an der Bezeichnung Ehe fest. Ich will aber klarstellen, dass es hier um eine wichtige Sache geht. Die Institution der Ehe hängt eng mit der Institution der Familie zusammen und somit auch mit der Erziehung von Kindern, Enkeln und künftigen Generationen. Wir dürfen nicht die wichtigen Rechte von Kindern vergessen, die in einer Ehe als Verbindung von Mann und Frau aufwachsen und aus ihrer Überzeugung heraus diesen Ehebund in seiner Form als wertvoll ansehen. Nicht alles, was es hier über lange Jahre gab, ist schlecht. Dass es nun eine neue Entwicklung gibt, die in ein paar anderen Staaten vorangetrieben wurde, heißt noch lange nicht, dass dieser Trend auch richtig ist.“
Filip Rambousek:
"Da Ansichten wie diese im tschechischen Parlament sehr stark vertreten sind, entstand im Abgeordnetenhaus auch ein Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel der Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker*innen der Bürgerdemokraten sowie der Ano. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist. Das Bemühen, die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in der Verfassung zu definieren, ist laut Adéla Horáková keine Überraschung."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein derartiges Gesetz ist ein Osteuropa keine Neuheit. Es kann als Flaggschiff homophober Regierungen angesehen werden. Natürlich haben Ungarn und Polen die Änderung schon durchgewinkt. Zuletzt wurde sie 2020 in Russland verabschiedet. Der Text, der nun im tschechischen Parlament liegt, ist fast identisch mit dem, der in die russische Verfassung Eingang fand. Dabei kommt der Vorschlag von Parteien wie den Bürgerdemokraten und Christdemokraten, deren Slogan noch im Wahlkampf lautete, dass Tschechien zum Westen gehören würde.“
Filip Rambousek:
"Auch von der tschechischen Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, gibt es Kritik an den Bestrebungen, die Ehe in der Verfassung als Bund von Mann und Frau zu definieren:"
Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Recht sollte vor allem zum Schutz konkreter Menschen da sein, nicht irgendwelcher abstrakter Rechtsinstitutionen. Es geht nicht darum, die Familie zu schützen, sondern ihre einzelnen Mitglieder – die Kinder, Mütter und Väter. Wir sollten nicht die Ehe schützen, sondern die Ehemänner und Ehefrauen, die einzelnen Glieder dieses Bundes und die Familien als solche. Durch rechtliche Regelungen können soziale oder etwa steuerliche Vorteile ermöglicht werden. Das Gesetz ist aber nicht dazu da, um vor einer mutmaßlichen Gefährdung zu schützen oder nur eine richtige Form einer Partnerschaft vorzuschreiben.“
Filip Rambousek:
"Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Debatte zu den Rechten gleichgeschlechtlicher Paare nicht nur zwischen diesen zwei Polen abspielt, wo auf der einen Seite die Unterstützer*innen der Ehe für alle und auf der anderen die Befürworter*innen der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau stehen. Die tatsächliche Vielfalt der Meinungen zeigt etwa die Haltung des christdemokratischen Parlamentariers Jiří Navrátil:"
Jiří Navrátil (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Debatte im Abgeordnetenhaus verfolgt habe, habe ich beschlossen, zu ihrer Kultivierung beizutragen und einen Kompromiss anzubieten. Ich wollte dadurch verhindern, dass die Ehe in der Verfassung als Bund zwischen Mann und Frau definiert wird. Denn dadurch wären sämtliche Bemühungen um eine bessere rechtliche Stellung gleichgeschlechtlicher Paare in Zukunft blockiert. Ich habe außerdem festgestellt, dass einige Abgeordnete zwar für die Ausweitung der Rechte gleichgeschlechtlicher Paare waren, sie aber das Wort ‚Ehe‘ oder die gemeinsamen Rechte als Familie störten. Meine Parteikollegen und ich haben deshalb an einem Alternativvorschlag gearbeitet. Denn von uns Christdemokraten sollte niemand erwarten, dass wir aktiv die Ehe für alle unterstützen.“
Filip Rambousek:
"Der genannte Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der registrierten Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Laut Michal Pitoňák ist dieser Plan aber nicht ausreichend."
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Es wird behauptet, die Vorlage sorge für eine Rechtegleichstellung. Dabei wird der Bereich des Familienrechts komplett außen vorgelassen – ob es nun um die Anerkennung der Rechte von Eltern geht oder um die Möglichkeit, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Es handelt sich um ein Oxymoron, einen weiteren Entwurf, durch den uns die Vorstellung aufgezwängt werden soll, dass es gleiche Rechte für alle geben kann, ohne dass wir das Wichtigste gewährleisten: und zwar den Schutz gleichgeschlechtlicher Familien.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Während die Ehe für alle im Abgeordnetenhaus kontrovers diskutiert wird, herrscht in der tschechischen Öffentlichkeit relative Einigkeit. Seit Langem unterstützen zwei Drittel der Menschen in Tschechien die gleichgeschlechtliche Ehe. Wie kommt dieser Zwiespalt zwischen der Politik und der Stimmung in der Gesellschaft zustande? Die Juristin Adéla Horáková sagt dazu:"
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, und ich habe immer noch keine Antwort darauf. In jedem Falle sticht der Zwiespalt absolut ins Auge. Alle merken das, die Journalisten, LGBTQIA+ und auch alle anderen, die uns unterstützen. Von überall werden ich gefragt: ‚Wie kann das sein, dass es nicht vorwärts geht? Die Mehrheit in der Öffentlichkeit steht doch hinter uns?‘ Diese Fragen sollten sich die Abgeordneten von Freiheit und direkte Demokratie, Bürgerdemokraten, Christdemokraten und einem großen Teil der Partei Ano stellen. Viele Politiker haben eine derart verbissene Meinung, dass es keinen Raum gibt, mit ihnen zu diskutieren. Aber wenn das tschechische Parlament die Stimmungen in der Gesamtgesellschaft abbilden würde, dann hätten wir schon längst die Ehe für alle.“
Filip Rambousek:
"Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist laut Horáková der relativ hohe Anteil an Christ*innen unter den Spitzenpolitiker:innen. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkulärer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu vermählen – standesamtlich oder kirchlich. Die kirchliche Eheschließung liegt komplett in der Macht der Kirchen. Sie können bestimmen, zu welchen Bedingungen sie wen trauen wollen. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Der Staat greift in keiner Form ein. Für diejenigen, die nicht kirchlich heiraten wollen, gibt es die standesamtliche Trauung. Die römisch-katholische Kirche in Tschechien greift aber stark in die Debatte zu diesen weltlichen Trauungen ein und sagt uns, wie sie aussehen sollen. Die Kirche betreibt aktive Lobbyarbeit dafür, dass die weltliche Trauung für homosexuelle Paare nicht möglich gemacht wird.“
Filip Rambousek:
"Die Haltungen und Ambitionen von führenden Vertretern der katholischen Kirche werden etwa deutlich an einer Erklärung, die im Juni dieses Jahres von der tschechischen Bischofskonferenz verabschiedet wurde, Zitat:"
Zitat der Bischofskonferenz (Citace ČBK (mužský hlas)) (übersetzt ins Deutsche):
„Mit Sorge beobachten wir die Bestrebungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen als ‚Ehe‘ zu legalisieren. Wir danken den Gesetzgebern, die sich einer solchen Änderung widersetzen. Die Ehe basiert auf der treuen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die offen für die Aufnahme von Kindern sind. Als ein solches Bündnis genießt die Ehe die Unterstützung des Staates. Eine harmonische Familie, die aus Vater und Mutter besteht, ist das beste Umfeld für die Erziehung von Kindern. Woher nimmt unsere Gesellschaft den Mut, Kindern in Zukunft das Recht zu verweigern, ihre Mutter und ihren Vater zu haben und zu kennen? Ist das nicht eine neue Form von Gewalt gegen Kinder?“
Filip Rambousek:
"Neben einigen Kirchenvertreter*innen mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistent*innen oder Berater*innen einflussreicher Politiker*innen der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium. Die Menschenrechtsbeauftragte Klára Šimáčková Laurenčíková sagt:"
Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein Teil der katholischen Kirche und einige Lobbyorganisationen – wobei man hier unterscheiden muss, dass es sich nicht um ein und dasselbe handelt – setzen das Thema der Gleichberechtigung von LGBTQIA+ mit dämonischen Zuständen gleich. Sie verbreiten in der Öffentlichkeit und auch unter den Politikern Horrorszenarien, was mit unserer Gesellschaft passieren würde, wenn die Ehe für alle gesetzlich verankert wird. Wenn dann noch die andere Seite nicht dazu in der Lage ist, diese Informationen kritisch zu bewerten, fallen die Aussagen auf fruchtbaren Boden. Diese Angstmache kann dann funktionieren, die Unterstützung für LGBTQIA+ sinken und die Angst die öffentliche Meinung beeinflussen – oder genauer gesagt die Ansichten der Politiker.“
Filip Rambousek:
"Zugleich muss aber betont werden, dass die katholische Kirche – und auch die anderen christlichen Kirchen in Tschechien – keine homogenen Organisationen sind. Mehrere Angehörige christlicher Kirchen haben etwa in diesem Jahr die tschechische Regierung dazu aufgefordert, die Mitglieder der „Allianz für die Familie“ von allen Beratungsorganen und weiteren Strukturen des Staates auszuschließen. Die entsprechende Petition wurde von 17.000 Menschen unterzeichnet. Die evangelische Kirche der Böhmischen Brüder wiederum hat in diesem Jahr beschlossen, dass ihre Pfarrerinnen und Pfarrer homosexuelle Paare segnen dürfen. Und auch in der katholischen Kirche sind die Ansichten zur gleichgeschlechtlichen Ehe mannigfaltiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies zeigt etwa der vergleichsweise moderate Ton des katholischen Priesters Miloš Szabo – wenngleich auch er auf die zentralen Unterschiede zwischen der kirchlichen und der weltlichen Auffassung von Ehe aufmerksam macht."
Miloš Szabo (übersetzt ins Deutsche):
„In der Kirche wird von der Unauflöslichkeit der Ehe gesprochen. Bevor jemand eine kirchliche Ehe eingeht, muss er damit übereinstimmen. Bevor er dies schriftlich bekräftigt, wird er bei der Trauung gefragt, ob er diese Form der Ehe eingehen möchte. Im Zivilrecht hingegen taucht diese Bedingung überhaupt gar nicht auf. Aber niemand aus der Kirche würde doch auf die Idee kommen, auf die Barrikaden zu gehen, weil Ehen abgeschlossen werden, die nicht den Bedingungen der Kirche entsprechen und dass man in so einem Fall doch nicht von einer Ehe sprechen könnte. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum die Kirche nun solch einen Radau macht, weil sich die Zivilgesellschaft weiterentwickelt – obwohl es um eine Entwicklung geht, die ich persönlich nicht gerade für glücklich halte, denn der Begriff ‚Ehe‘ bekommt dadurch eine ganz andere Bedeutung. Es wird wohl auch nicht zum letzten Mal sein, dass sich die Terminologie des Zivilrechts und des Kirchenrechts voneinander unterscheidet. Ich werde auf gar keinen Fall eine Petition für die Ehe für alle unterschreiben. Das heißt aber nicht, dass ich damit ein Problem hätte, wenn sie in der Zivilgesellschaft eingeführt werden würde.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Wie also ist es um die Lage queerer Menschen in Tschechien bestellt? Und wie steht das Land im internationalen Vergleich da? Das hänge natürlich auch davon ab, mit wem man sich vergleiche, sagt Adéla Horáková."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man Tschechien mit Ungarn, Polen oder der Slowakei vergleicht, stehen wir natürlich sehr gut da. Wenn man aber Deutschland, Österreich oder Großbritannien nimmt, sieht es schon nicht mehr so toll aus. Ich habe das Gefühl, dass die Politiker Tschechiens eigentlich weniger gern Vergleiche zu Polen, Ungarn und der Slowakei anstellen. Sobald es aber um das Thema LGBTQIA+ geht, um gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien, wird geradezu gewetteifert, wer sich am schnellsten an Ungarn oder Polen orientiert.“
Filip Rambousek:
"Auch die Regierungsbeauftrage für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, hält die aktuelle rechtliche Stellung von LGBTQIA+ für nicht hinreichend."
Klára Šimáčková Laurenčíková(übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwar etwa die registrierte Lebenspartnerschaft, wenngleich in einer eingeschränkten Form. Wir haben aber etwa keinen Rechtsschutz von queeren Menschen vor Hasskriminalität. Und nach wie vor muss man sich sterilisieren lassen, um beim Amt eine Geschlechtsänderung zu beantragen. An beidem wird gearbeitet – am besseren Schutz gegen Hasskriminalität und an einer Abschaffung der verpflichteten Kastrierung. In den anderen Visegrád-Staaten sind einige dieser Teilfragen bereits geklärt, aber dort gibt es dann dafür noch nicht einmal die Möglichkeit, die Partnerschaft registrieren zu lassen. Ich würde also nicht sagen, dass Tschechien sonderlich positiv heraussticht. Es besteht auf jeden Fall Luft nach oben.“
Filip Rambousek:
"Mit dieser Einschätzung stimmt auch die Juristin Adéla Horáková überein. Vor allem die Zwangssterilisation sei ein drängendes Problem, auf das unterschiedliche Nichtregierungsorganisation bereits seit vielen Jahren aufmerksam machen."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ist eines der letzten europäischen Länder, in dem es so etwas noch gibt. Sogar Polen und Ungarn haben diese Bedingung bereits abgeschafft. Was das angeht, stehen wir also viel schlechter da. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die tschechische Regelung bereits als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention deklariert. Bei den Vereinten Nationen wird ein solches Vorgehen mit Folter gleichgesetzt. Es handelt sich um einen erzwungenen Eingriff in den Körper eines Menschen. Diese Leute bedrohen niemanden, sie stören niemanden, sie wollen einfach nur einen Buchstaben auf ihrem Personalausweis ändern lassen. Und als Voraussetzung dafür zwingt der Staat die Menschen, sich einer derart schwerwiegenden Operation zu unterziehen.“
Filip Rambousek:
"In einem Gesichtspunkt kann Tschechien gegenüber Polen, Ungarn oder der Slowakei aber Punkte gut machen. So wolle die breite Öffentlichkeit hierzulande schon seit Langem die Rechte von LGBTQIA+ stärken, sagt Michal Pitoňák."
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ähnelt in dieser Hinsicht eher Staaten in Westeuropa. Dies zeigt etwa die Landkarte der öffentlichen Meinung, die vom Thinktank ‚Queer Geography‘ veröffentlicht wird. Tschechien denkt wie Deutschland oder Österreich – und nicht wie Polen, Ungarn und die Slowakei. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Gesellschaften der vier Visegrád-Länder deutlich voneinander.“
Filip Rambousek:
"Auch Adéla Horáková schätzt die gesamtgesellschaftliche Stimmung gegenüber queeren Menschen in Tschechien positiv ein."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Vereinfacht kann man sagen, dass das Problem nicht bei den Menschen auf der Straße herrscht. Natürlich fallen auch hierzulande feindselige Äußerungen, und Menschen werden diskriminiert. Das sind Probleme, auf die wir ständig aufmerksam machen. Es handelt sich aber nicht um eine Eigenschaft der gesamten tschechischen Gesellschaft. Die meisten Anfeindungen kommen leider aus dem tschechischen Parlament und von Vertretern der Kirche.“
Filip Rambousek:
"Deshalb kann Horáková zufolge nicht ausgeschlossen werden, dass Tschechien den gleichen Weg einschlägt wie Ungarn oder Polen. Dort hat sich die Situation für LGBTQIA+ in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert."
Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt viele konkrete Gründe für diese Befürchtungen, da reicht es sich anzuschauen, welche Gesetze hierzulande im Abgeordnetenhaus eingebracht werden und wie sich Politiker quer durch das Parteienspektrum äußern – ganz gleich, ob sie in der Regierung sind, oder nicht. Die queeren Menschen in den Visegrád-Staaten haben es wegen der Regierungen nicht leicht. Im weltweiten Kontext verkommt Osteuropa langsam zu einem homophoben Freilichtmuseum.“
Filip Rambousek:
"Dies belegen auch die Ergebnisse der regelmäßigen Studien, die in 50 Ländern vor allem in Europa vom queeren Konsortium ILGA-Europe durchgeführt werden. Michal Pitoňák sagt:"
Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„2013 lag Tschechien unter den rund 50 Ländern auf dem 18. Platz. 2023 belegte das Land aber nur noch Rang 33. Der Trend geht also nach unten. Und der Grund dafür ist offensichtlich. Seit 2006 wurde hierzulande – mit Ausnahme der registrierten Lebenspartnerschaft von 2016 – nichts für queere Menschen unternommen. In anderen Staaten hingegen verschlafen die Politikerinnen und Politiker die Entwicklung nicht. Und sie schrecken auch nicht davor zurück, Entscheidungen zu treffen, die sie den Bürger mitunter erst einmal erklären müssen.“
Musikalische Blende
Filip Rambousek:
"Die dritte Folge von „Sechsmal Tschechien“ ist an ihrem Ende angelangt. In der nächsten Ausgabe schaue ich mir an, wie es hierzulande um die Lage der nationalen Minderheiten bestellt ist.
Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."
Zu Gast in dieser Folge:
Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.
Adéla Horáková ist Anwältin und eines der Gesichter der Initiative "It's Only Fair" (Jsme fér, Wir sind fair), die sich für die Ehe von Schwulen und Lesben in der Tschechischen Republik einsetzt ("Ehe für alle"). Sie ist Mitglied des Exekutivausschusses von PROUD (Plattform für Gleichheit, Anerkennung und Vielfalt) und Vorstandsmitglied des Prager Wirtschaftsforums. In der PROUD arbeitet sie ehrenamtlich als Anwältin, um Menschen vor Diskriminierung zu schützen, und bietet Rechts- und Kommunikationsdienstleistungen an. Bevor sie sich dem LGBTQIA+-Aktivismus anschloss, arbeitete sie 12 Jahre lang als Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht in erstklassigen Anwaltskanzleien in der Tschechischen Republik.
Dr. Michal Pitoňák absolvierte die naturwissenschaftliche Fakultät der Karlsuniversität in Prag mit den Schwerpunkten Biologie (B.Sc., M.Sc.), Geographie (B.Sc., M.Sc.), Sozialgeographie und Regionalentwicklung (RNDr., Ph.D.). In seiner Dissertation eröffnete er erstmals das interdisziplinäre Thema der so genannten Geographien der Sexualitäten in der tschechischen Geographie, in dessen Rahmen er vor allem die so genannte soziale Heteronormativität und deren Einfluss auf die soziale Organisation und Lebensqualität nicht-heterosexueller Menschen in der Tschechischen Republik untersuchte. Im Zuge der weiteren Vertiefung seines Interesses an diesem Forschungsgebiet befasste sich Dr. Pitoňák mit Themen wie der raum-zeitlichen Aushandlung nicht-heterosexueller Identitäten, Homophobie in Schulen, Queer-Theorie, Theorien über Minderheitenstress und dessen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Nicht-Heterosexuellen, der sozialen Epidemiologie von HIV/AIDS, Entstigmatisierung und LGBTQIA+-Psychologie, die er derzeit im Rahmen der so genannten "Sozialpsychologie der Heterosexualität" entwickelt. Syndemische Theorie, ein ganzheitlicher biopsychosozialer Ansatz mit dem Potenzial, transdisziplinäre Erkenntnisse zu gewinnen.
Jiří Navrátil ist ein tschechischer Politiker, seit Oktober 2021 Mitglied der Abgeordnetenkammer der Tschechischen Republik, seit 2012 Abgeordneter und seit 2016 stellvertretender Gouverneur der Mährisch-Schlesischen Region, seit 2010 Abgeordneter und stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Mořkov in der Region Novojičín, Mitglied der KDU-ČSL.
Miloš Szabo ist ein römisch-katholischer Priester, der ursprünglich aus der Slowakei stammt. Seit 1995 lebt er in Prag, wo er als Bezirksvikar des IV. Prager Vikariats und Pfarrer an der Kirche St. Prokop in Žižkov und seit Juli 2015 auch als Administrator excurrendo in der Pfarrei der Kirche der Erhöhung des Heiligen Kreuzes in Prag - Vinoř tätig ist. Seit Oktober 2015 ist er Dozent für Kirchenrecht und dessen Geschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag und gleichzeitig Pfarrer der St. Gothard Kirche in Prag 6-Bubeneč. Er ist Richter am Metropolitankirchengericht in Prag, Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Artikel. Außerdem war er viele Jahre lang Projektleiter der Nacht der Kirchen und Mitglied des Teams für posttraumatische Intervention bei der Polizei der Tschechischen Republik in Prag.