Polen als „Klassenprimus“ und Problemland zugleich

Hat die bald ablaufende polnische Ratspräsidentschaft die Europäische Union und Polen selbst verändert? Eine Diskussion der Landeszentrale und des EU-Netzwerkes Europe Direct im Dresdner Kraszewski-Museum im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Polen lenkt Europa".

 

Der Ort und der Zeitpunkt für eine Beschäftigung mit unseren polnischen Nachbarn konnte nicht passender gewählt sein. Das Kraszewski-Museum im Dresdner Nordosten ist Hauptsitz der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen. Und am Veranstaltungstag 5. Juni lag die Wahl des Staatspräsidenten in Polen erst fünf Tage zurück. Sie dominierte erwartungsgemäß, auch wenn das Thema der polnischen Ratspräsidentschaft in der EU schon länger geplant war.

Ratspräsidentschaft als „Kaffeedirektion“?

Im halbjährlichen Turnus übernimmt stets einer der 27 EU-Mitgliedsstaaten den Ratsvorsitz. Auf den ersten Blick eher eine organisatorische Aufgabe in einem der sieben Gremien der Europäischen Union. Im Rat kommen die Fachministerinnen und -minister der Mitgliedsstaaten zusammen. Das präsidierende Land leitet dessen Sitzungen wie auch die Fachgruppen und Ausschüsse. Hier werden also Richtlinien, Verordnungen, eben die manchmal ungeliebte europäische übergeordnete Gesetzgebung vorbereitet. In der Veranstaltung wurde die Ratspräsidentschaft salopp mit der Rolle des „Kaffeedirektors“, treffender aber auch mit der des „Primus inter pares“ verglichen. Je nach Gegenstand kann der Europäische Rat Partner oder Gegenspieler der Kommission in Brüssel und des Parlamentes in Strasbourg sein, den anderen beiden wichtigsten Gremien der EU.

Seit Januar 2025 präsidiert nun Polen im Europäischen Rat. Für eine Bilanz wäre also die Diskussion unter der Überschrift „Polen lenkt Europa“ vier Wochen zu früh gekommen. Ihr eigentlicher Wert bestand darin, dass sie einen weiten Bogen zur Bedeutung Polens in Europa allgemein und zu seinem wechselvollen Verhältnis zum deutschen Nachbarn schlug. Sachsen, das seit der Regentschaft Kurt Biedenkopfs in den 1990-er Jahren stets besonders weit entfernt von Brüssel liegt, spielte nur mit Blick auf die verschärften Grenzkontrollen eine Rolle.

Polnische Träume und Albträume

Niemand widersprach im Podium, als MDR-Moderator Malte Piper zu Beginn einen „Blick in die polnische Glaskugel“ ankündigte. Er verriet auch, dass im Vorgespräch Polens Stellung in der NATO angesichts der russischen Bedrohung fast noch wichtiger erschien als die Ratspräsidentschaft. Doch zunächst sollte es um das stolze, aber keineswegs geeinte Polen selbst gehen und um die Frage, inwieweit mit der Präsidentenwahl eine Richtungsentscheidung verbunden ist.

„Schockiert“ vom Wahlergebnis zeigte sich die promovierte Germanistin, Journalistin und Vertreterin der Europäischen Kommission in Polen Marzenna Guz-Vetter. Der knappe nationalistische Wahlsieger Karol Nawrocki gilt ihr als „Albtraum“. Guz-Vetter verwies auf das Vetorecht des polnischen Präsidenten, der vergleichsweise über mehr Macht verfüge als der deutsche Bundespräsident.

„Uns Polen gelingen die Träume am besten“, führte sich Czeslaw Fiedorowicz ins Gespräch ein. Der langjährige Abgeordnete im Sejm der Republik Polen wurde 1990 in seiner Geburtsstadt Gubin Bürgermeister und ist derzeit Präsident der Euroregion Spree-Neiße-Bober. Von einer „normalen Welt“, in der es ein eigenständiges Subjekt sein könne, habe Polen seit Jahrhunderten geträumt, „Deshalb war die Europäische Union stets unsere Erwartung!“ Damit verbunden habe er bei seinen Kindern stets auch einen „Hauch von Freiheit“ verspürt, sagte der 67-Jährige, auch wenn Polen von einem niedrigen wirtschaftlichen Niveau gestartet sei.

Fiedorowicz hält Donald Tusk, der am 11. Juni im Sejm die Vertrauensfrage stellt, für den wichtigsten polnischen Politiker der vergangenen beiden Jahrzehnte. Er müsse auf seinen Schultern zugleich die gesamte Kritik jener an der EU tragen, die die Union nur für eine „Ansammlung von Ländern zur Verteilung von Fördergeldern“ halten. Fiedorowicz beschönigte weder die anhaltende Macht der Katholischen Kirche noch eine gewisse Faszination der USA und ihrer krassesten Exponenten Donald Trump oder Elon Musk bei jungen Leuten. Ausgeprägter seien solche restaurativen Neigungen allerdings im östlichen, eher ländlichen Polen.

Auch Polen ist eine gespaltene Nation

Hier stieg Marta Kozlowska ein, angeregt durch eine Frage nach einem gespaltenen, ja blockierten Polen, wie es das knappe Wahlergebnis signalisiert. Die junge Soziologin und promovierte Politikwissenschaftlerin arbeitet seit 2018 am Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) der TU Dresden. Bis ins 16. Jahrhundert reiche eine Lagerbildung zurück, also eine Teilung in die alternativen Visionen eines geschlossenen oder offenen, interkulturellen Polens.

Über die Sprache könne sich ein Austausch und der Grundrespekt voreinander wieder entwickeln. „Denn man trifft sich einfach nicht und redet nicht miteinander“, klagte Marta Kozlowska. „Also wie in Deutschland“, musste ein Journalist wie Moderator Malte Pieper einwerfen. Czeslaw Fiedorowicz sieht in einem „reifen Dialog“ eine Möglichkeit, diese Polarisierung aufzuheben. Dafür müsste weit mehr für europäische Bildung getan werden, denn „die Weltlüge gewinnt überall“. Es sei ein großer Fehler, dass die EU ihr Jugendförderprogramm eingeschränkt habe, auch dem deutsch-polnischen Jugendwerk Geld fehle. Der engagierte Euroregionsvertreter stellte sich aber auch schützend vor die Landsleute in Ostpolen, denen zum Teil Unwahrheiten nachgesagt würden.

Wenige Tage nach der Veranstaltung bestätigte der sehr bekannte polnische Publizist Adam Krzeminski im Deutschlandfunk zwar eine Art innere Teilung Polens. Er beobachtet aber auch eine Milderung der Lagerkonfrontation allein schon dadurch, dass der neu gewählte Staatspräsident Nawrocki eine gewisse Distanz zum ultrakonservativen Kaczynski-Flügel der PIS wahrt.

Verteidigung gegen Russland und Flüchtlinge?

Gelegentlich klang ironische Selbstdistanz an, wenn die praktischen Aufgaben einer EU-Ratspräsidentschaft beschrieben wurden. Sie sei vor allem eine „riesige Verwaltungsaufgabe“, wenn in dem halben Jahr etwa 900-1.000 Treffen zum Zwecke der Kompromissfindung organisiert werden müssten. Hunderte Beamte zusätzlich habe Polen nach Brüssel geschickt. Mit der Sitzungsleitung bestimmt das amtierende „Zugpferd“ der EU aber auch Tagesordnungen und damit Themen. Zwei dieser Schwerpunkte dominierten das Gespräch im Kraszewski-Museum.

Die nationale und kollektiv-europäische Verteidigungsbereitschaft ist für Polen angesichts des immer greifbarer werdenden russischen Expansionsdranges ein existenzielles Thema. Sie ist freilich kein originäres EU-Thema, auch wenn dort jetzt das 150 Milliarden Euro teure Safe-Programm zur Debatte steht. Polen gilt mit zwei Prozent Anteil Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt als „Klassenbester“. Hitlerdeutschland und die Sowjetunion Stalins hatten 1939 zwar Polen schon einmal unter sich aufgeteilt. Aber die Angst vor einer erneuten russischen Eroberung sitzt am tiefsten. „Man darf Russland nicht vertrauen“, postuliert Marta Kozlowska.

Zugleich kritisiert sie die in Europa schon fast neurotisch empfundene Angst vor Überforderung durch unkontrollierte Zuwanderung. „Man kann keine völlige Abschottung erreichen“, verschont sie auch ihre Landsleute nicht. „Wenn man das Thermometer zerstört, hat man kein Fieber mehr“, sei ein verbreiteter Irrtum in Polen. Sie und Marzenna Guz-Vetter bekundeten allerdings ein gewisses Verständnis für polnische Abschottungsversuche gegenüber belarussischer Destabilisierungsattacken durch massenhafte Einschleusung von Flüchtlingen. Es fiel auch der Satz, dass auch eine Million aufgenommener ukrainischer Flüchtlinge „etwas kosten“ würden.

„Jede Form, die den Grenzverkehr einschränkt, schmerzt!“

Die polnische Tusk-Regierung lehnt den vor einem Jahr mühsam errungenen Migrationspakt der EU weiterhin ab. Polen vermeide während seiner Ratspräsidentschaft, darüber Verhandlungen zu führen, ließ Kommissions-Fachfrau Guz-Vetter Distanz erkennen. Eben diese Kommission halte sich zurück und sage nichts gegen deutsche Grenzkontrollen und die damit verbundene Aushebelung des Asylverfahrens. Das Fehlen klarer Worte sei „klassisch europäisch“, ätzte Marta Kozlowska sogar. Es fehle am politischen Willen, einen Konflikt mit Deutschland zu riskieren, auch beim Besuch von Neukanzler Merz in Warschau.

Noch emphatischer stimmte ihr Czeslaw Fiedorowicz zu. „Jede Form, die den Grenzverkehr einschränkt, schmerzt!“ Polnische Bürger hätten neue Brücken zu Deutschland gebaut. Die „politisch sinnlosen“ Maßnahmen zeigten eigentlich die Schwäche des Staates. In seiner Heimatstadt Gubin gebe es fast keinen Grenzverkehr mehr. Und Polizisten täuschten den angeblichen Grenzschutz auch nur vor. Deutsche und Polen müssten über kluge Lösungen sprechen.

Wie das praktische geschehen könnte, schlug der Präsident der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen Sebastian Klähn in Erinnerung an Pandemiezeiten vor. Damals setzten Graswurzelbewegungen Kontakte beispielsweise mit „Frühstücken mit Nachbarn“ fort. „Es wäre aber auch gut, wenn sich die polnische Polizei etwas mehr einbringen würde und Illegale, die eigentlich in Polen hätten um Asyl bitten müssen, festhalten würde“, wandte Marzenna Guz-Vetter ein. Es sei bequem für Polen, wenn Deutschland diese Last trage.

Deutschland und Europa sind doch beliebt

Die EU-Kommissionsvertreterin wagte aber auch die schärfste Kritik an einer polnischen „Präsidentschaft nicht genutzter Chancen“. Als Beispiel nannte sie die ausgebliebene Normierung der Waffensysteme. Die Präsidentenwahl sei wichtiger gewesen als die Ratspräsidentschaft.

Der Ausklang der Diskussion aber leitete ausgesprochen versöhnlich zum alkoholfreien Buffet über. Nach wie vor ist Polen ein Land mit den höchsten Zustimmungsraten zur Europäischen Union. Und Nachbar Deutschland gilt entgegen gefühlter Stimmungslagen sogar als Vorbild. Positiv etwa hinsichtlich seiner politischen Bildung, aber auch als warnendes Beispiel, Fehler in der Integrationspolitik betreffend. Zwei Drittel finden laut Umfragen die Deutschen, die ihnen vor mehr als 80 Jahren noch Furchtbares angetan haben, inzwischen sympathisch.

Weitere Veranstaltungen der Reihe "Polen lenkt Europa":

12.06.2025, 18:00 Uhr in Leipzig: Was bedeutet die EU-Ratspräsidentschaft für Polen?

13.06.2025, 18:00 Uhr in Chemnitz: Was bedeutet die EU-Ratspräsidentschaft für Sachsen?