In Frauen Macht Geschichte geht es um Frauen, die für ihre Rechte kämpften: in den 1920er Jahren und heute, in Polen und in Deutschland, im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg. In sieben Folgen beleuchtet der Podcast Themen, die noch heute politisch kontrovers diskutiert werden – und Frauen in Deutschland und Europa bewegen.
Frauen macht Geschichte ist ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Die Inhalte haben Studierende und Wissenschaftlerinnen recherchiert – und gemeinsam mit der SLpB und dem Sounddesigner Bony Stoev dramaturgisch umgesetzt. Basierend auf dem Lektürekurs „Wissen - Praktiken - Visionen. Die deutsche und polnische Frauenbewegung von ihren Anfängen bis 1933“ sowie der SLpB-Eigenpublikation „Frauen in Sachsen“ und auf gemeinsamen Workshops und Table Reads wurden sieben Folgen zu spannenden Persönlichkeiten und frauengeschichtlich relevanten Themen erarbeitet. Kursleiterinnen an der TU Dresden waren Prof. Susanne Schötz (Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) und Dr. Angelique Leszczawski-Schwerk. Die Idee und das Konzept des Podcasts haben Silke Nora Kehl (SLpB) und Susanne Salzmann (TU Dresden) entwickelt. Produktion im Studio: Bony Stoev.
Folge 1 erscheint am 29.11.2024 überall da, wo es Podcasts gibt.
Teaser Frauen Macht Geschichte - Ein Podcast in sieben Folgen
In Frauen Macht Geschichte geht es um Frauen, die für ihre Rechte kämpften: in den 1920er Jahren und heute, in Polen und in Deutschland, im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg.
In sieben Folgen beleuchtet der Podcast Themen, die noch heute politisch kontrovers diskutiert werden – und Frauen in Deutschland und Europa bewegen: Es geht um die Geschichte des §218 in der Weimarer Republik und um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Polen. Unsere Autorinnen nehmen biographische, soziale, gesundheitliche und politische Aspekte in den Blick. Und stellen eine der ersten Dresdnerinnen vor, die als Abgeordnete in den Reichstag einzog.
Ein wichtiges Thema ist die politische Partizipation von Frauen: Die erste polnische First Lady kämpfte als bewaffnete Schmugglerin gegen Russland. Gilt sie zu Recht als Ikone der polnischen Frauenbewegung? Und welche Rolle spielten die Frauen, die 1946 in den ersten Sächsischen Landtag der Nachkriegszeit einzogen? Hatten sie im kommunistisch geprägten Gesellschaftssystem genauso viel Macht und Gestaltungsspielraum wie Männer? Abschließend blicken wir auf das 19. Jahrhundert und die Initiatorin der deutschen Frauenbewegung, Louise Otto-Peters. Was hat sie mit August Bebel gemein und wieso hat er im kollektiven Gedächtnis einen größeren Platz als sie? Wer schreibt Geschichte, wer bleibt in Erinnerung?
Folge 1: Der §218 in der Weimarer Republik (1/2)
Rauschende Partys, gesellschaftlicher Aufbruch, kulturelle Blüte – und gleichzeitig extreme Armut in Arbeiterfamilien, zerstörte Leben nach dem Ersten Weltkrieg, Inflation. Und die erste Demokratie in Deutschland: Mit der Weimarer Republik begann 1918/19 eine neue Epoche, in der gleich zu Anfang auch das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Unsere Autorinnen Hannah Schollmeier und Mina Weidner wollten wissen: Wie wurde in dieser Zeit über den §218 debattiert? Seit wann gibt es den Paragraphen überhaupt? Die beiden haben dazu geforscht und sind auf Anna Margarete Stegmann gestoßen, eine in Dresden lebende Ärztin. 1924 wurde sie Abgeordnete im Deutschen Reichstag und ihre Reden zum §218 und zur sozialen Frage sind schriftlich überliefert. Unter welchen Bedingungen Arbeiterfrauen und bürgerliche Frauen Familien gründeten, warum sie Schwangerschaften abbrachen, und was es bedeutete, unehelich schwanger zu werden: Darüber spricht Privatdozentin Dr. Silke Fehlemann im Interview mit unseren Autorinnen. PD Silke Fehlemann ist Historikerin und forscht im Bereich Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden zu Frauen- und Familiengeschichte.
Anmerkung: Im Beitrag sagen unsere Autorinnen, dass Anna Margarete Stegmann von 1924 bis 1932 Reichstagstagsabgeordnete war. Es muss heißen: 1924 bis 1930. Dafür entschuldigen wir uns.
Mehr Informationen zu dieser Folge:
Für Folge 1 Der §218 in der Weimarer Republik (1/2) wurde folgende Literatur verwendet:
Quellen
- Stegmann, Margarete: Redebeitrag zum §218, in: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 385 (1924), Berlin 1925, S. 1133-1137, URL: https://daten.digitale-sammlungen.de/0000/bsb00000069/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=00000069&seite=32 [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
- Stegmann, Margarete: Beitrag zur Psychologie des Kindsmords (Dissertation), Leipzig 1910.
- §§ 218-219 RStGB. In: Reichsgesetzblatt, Nr. 24, 1871, S. 167 f.
Literatur
- Archiv der deutschen Frauenbewegung: Eine tiefliegende Misogynie, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, URL: Eine tiefliegende Misogynie / Digitales Deutesches Frauenarchiv [Zuletzt abgerufen am 29.10.2024].
- Behren, Dirk von, Die Geschichte des §218 StGB, Gießen 2019.
- Boak, Helen: Women in the Weimar Republic, Manchester 2013.
- Deutsche Biographie: Art. Stegmann, Margarete, URL: Deutsche Biographie - Stegmann, Anna Margarete [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
- Dienet, Christiane: Das 20.Jahrhundert (I). Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau, in: Jütte, Robert (Hrsg.): Geschichte der Abtreibung von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, S. 140-168.
- Hagemann, Karen: Frauenalltag und Männerpolitik, Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990.
- Soden, Kristine von: „§218 - streichen, nicht ändern!” Abtreibung und Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Staupe, Gisela (Hrsg.): Unter anderen Umständen, Zur Geschichte der Abtreibung, Dresden 19962, S. 36-50.
- Schroot, Tanja: Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Metz-Becker, Marita (Hrsg.): Wenn Liebe ohne Folgen bliebe...: zur Kulturgeschichte der Verhütung, Marburg 2006, S. 35 – 41.
- Scriba, Arnulf: Der Abtreibungsparagraph 218, in: Lebendiges Museum Online (02.09.2014), URL: LeMO Weimarer Republik – Alltagsleben -Abtreibungsparagraph 218 [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
- Usborne, Cornelie: Social Body, Racial Body, Woman’s Body. Discourses, Policies, Practices from Wilhelmine to Nazi Germany, 1912-1945, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 36/2 (2011), S. 140–61.
Zum Weiterlesen über die Weimarer Republik hinaus: Archiv der deutschen Frauenbewegung (Hrsg.): Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch, Kassel 2021.
Intro: Frauen. Macht. Geschichte.
Susanne Salzmann:
Hallo, mein Name ist Susanne Salzmann und ich sitze heute hier mit Mina und Hannah und wir sprechen über das Thema Abtreibung in der Weimarer Republik. Mina, möchtest du erstmal was zu dir sagen als Vorstellung?
Mina:
Ja, hi, ich bin Mina und ich studiere an der TU Dresden Geschichte auf Lehramt. Gemeinsam mit Hannah haben wir ein Seminar zur Frauenbewegung im frühen 20. Jahrhundert besucht und uns dann für dieses Thema entschieden.
Susanne Salzmann:
Hannah, wie sieht das bei dir aus?
Hannah:
Also ich bin Hannah, ich studiere auch Lehramt für Geschichte – und, wie Mina schon gesagt hat, wir haben uns das Thema Abtreibung in der Weimarer Republik ausgesucht und da ein bisschen Recherche betrieben.
Susanne Salzmann:
Und was hat Euch daran bewegt? Also Abtreibung ist ja nicht das Thema, auf das man jetzt wahrscheinlich zuallererst kommt, wenn man sich mit dem Thema Frauenbewegung, oder, na gut, vielleicht ist es naheliegend, aber was hat euch bewegt? Also warum habt ihr Euch ausgerechnet für dieses Thema entschieden?
Mina:
Ja, spannend an dem Thema ist eben, dass es auch nach 100 Jahren noch nicht an Aktualität verloren hat.
Hannah:
Genau, also in Deutschland ist es ja, wie gesagt, noch nicht mal 100 Jahre her, dass so das, was wir heute als modernes Abtreibungsgesetz bei uns ansehen und im Gegensatz zu vielen Ländern auch recht fortschrittlich ist. Und wenn man das vergleicht mit Roe v. Wade zum Beispiel in den USA letztes Jahr oder der Situation in Polen, die ja jetzt erst vor kurzem wieder sich gelockert hat, dann ist natürlich interessant zu sehen, woraus sich das entwickelt hat in den letzten 100, 200, 500 Jahren.
Mina:
Und weil es so ein großes Thema ist, haben wir es eben in zwei Folgen geteilt. Und in der ersten Folge wird es jetzt um Anna Margarete Stegmann gehen, eine relativ unbekannte, aber doch auch einflussreiche Frau, die sich während der Weimarer Republik dafür eingesetzt hat, dass die beiden Paragraphen 218 und 219 reformiert werden.
Susanne Salzmann:
Ja, dann freue ich mich auf die erste Folge jetzt mit euch beiden. Ihr habt dazu gearbeitet und ich bin sehr gespannt, wie Ihr das Thema jetzt beleuchtet.
Teaser: Frauen macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.
Hannah:
My Body, My Choice. Dieser Satz wird wichtig, wenn es um die Abtreibungsdebatte geht. In Deutschland werden Abtreibungen im Paragraph 218 geregelt. Darin steht, wer die Schwangerschaft nicht innerhalb von zwölf Wochen und nach intensiver Beratung beendet, muss das Kind austragen, zum Schutz des ungeborenen Lebens. Doch der Paragraph ist nichts Neues, im Gegenteil.
Musik
Sprecher, männlich:
Die goldenen 20er Jahre. Junge Menschen feiern rauschende Partys, durchtanzen die Nächte zu Charleston-Musik und der Champagner fließt in Strömen. Mit der Weimarer Republik hat sich nach dem Ersten Weltkrieg die erste deutsche Demokratie etabliert und zum ersten Mal dürfen auch Frauen zur Wahlurne schreiten und als Politikerinnen in die Parlamente einziehen. Doch die Zeit, die im kulturellen Gedächtnis oft als glanzvoll erscheint, blendet häufig die Schattenseiten einer Gesellschaft aus, in der Armut und Not das Leben vieler Menschen prägte. Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit waren trauriger Alltag vieler Deutscher. Besonders hart traf es Familien mit Kindern, deren Väter im Krieg gefallen oder so stark verletzt worden waren, dass, wenn überhaupt, nur ein Einkommen zur Versorgung der Familie zur Verfügung stand.
Hannah:
Nachvollziehbar, dass die Entscheidung, ein Kind auszutragen, eine existenzielle Frage darstellte, die nicht nur gesellschaftlich, sondern auch politisch Streitpunkt einer heftigen Debatte war.
Mina:
Eine Frau, die sich ganz besonders für die Reform der Paragrafen einsetzte, war die Ärztin, Frauenrechtlerin und Politikerin Anna Margarete Stegmann.
Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Meine Herren und Damen, der Paragraf 218 des bisherigen Strafgesetzbuches, der Zuchthausstrafen für einen Eingriff in eine bestehende Schwangerschaft vorsieht, ist ein Gesetz, das von Männern am Grünen Tisch ausgedacht worden ist. Am Grünen Tisch, wo sie die Erfahrungen, die sie draußen gemacht haben, vergessen hatten.“
Hannah:
Was bedeutet es eigentlich, etwas am Grünen Tisch zu machen?
Mina:
Ja, etwas am Grünen Tisch zu entscheiden bedeutet, dass bei Verhandlungen oder Beratungen ohne Bezug zur Realität oder zur Praxis über etwas entschieden wird.
Hannah:
Sie sagt also, dass der Paragraf 218 ein Gesetz ist, bei dem über die Köpfe der Frauen hinweg von Männern entschieden wurde, obwohl der Paragraf ja eigentlich nur Personen betrifft, die schwanger werden können.
Mina:
Ja, das ist ein Kernpunkt ihrer Argumentation. Aber sie führt noch weitere Argumente an, und das ist ganz interessant, weil sie da direkt an zeitgenössische Debatten anknüpft und uns so einen Einblick in die Bandbreite der Diskussion ermöglicht. Ihre Begründungen sind wirklich vielfältig und reichen von der sozialen Frage über medizinische Aspekte bis hin zur Religion. Sie greift auch zeitgenössische Vorstellungen der sogenannten Rassenhygiene auf, die bereits vor 1933 in Deutschland und anderen Ländern eine Rolle spielte. Die Basis ihrer Argumentation ist aber die soziale Frage, gleichzeitig auch Kernpunkt ihrer Partei.
Hannah:
Und um das besser zu verstehen, müssen wir einen Blick in das Leben von Anna Margarethe Stegmann werfen.
Musik
Mina:
Geboren am 12. Juli 1871, wächst sie als das zwölfte Kind eines Schweizer Landwirtes auf. Nach dem Abitur entscheidet sie sich für ein Medizinstudium in Bern und Zürich. Sie promoviert und arbeitet als Assistenzärztin in Zürich, bevor sie 1920 in Deutschland ihre Zulassung erhält und eine Praxis für Allgemein- und Nervenmedizin in Dresden eröffnet. Hier macht sie sich nicht nur als einfühlsame und verständnisvolle Ärztin, sondern auch als Kunstsammlerin einen Namen, die im regen Austausch mit zeitgenössischen Künstlern wie Paul Klee oder Emil Nolde steht.
Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann: „Die Schaffung besserer Zustände ist unsere Pflicht. Aber auf dem Wege dahin müssen wir diese ganze Not, die in der Frauenwelt lebt, begreifen und ihr Rechnung tragen, wenn wir den Frauen die Freiheit und die Selbstverantwortlichkeit über sich geben.”
Hannah:
Zwei Themen begleiten sie hierbei ihr Leben lang – soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte. Bereits in ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit den psychologischen Hintergründen von Kindsmord und der Opferrolle der Frau. Sie ist Mitglied in zahlreichen sozialnützigen und frauenrechtlichen Vereinen. Und sobald es 1918 für Frauen möglich wird, parteipolitisch aktiv zu werden, tritt sie der SPD bei.
Mina:
Zunächst wirkt sie als unbesoldete Stadträtin in Dresden. Sie und zwei weitere Frauen waren die ersten weiblichen Stadträte in Dresden überhaupt. 1924 wurde sie schließlich in den Reichstag gewählt, wo sie sich bis 1932 aktiv für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit sowie eine Reform der Paragraphen 218 und 219 einsetzte. Hannah, woher kommen die beiden Paragraphen eigentlich und was besagen sie?
Hannah:
Die Paragraphen 218 und 219, so wie sie in der Weimarer Republik existierten, gibt es bereits seit 1871.
Sprecher, männlich:
„Paragraph 218: Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welche mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat. Paragraph 219: Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getötet hat, gegen Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.“
Hannah:
Wie wir gehört haben, stehen hohe Strafen auf Abtreibung. Das hat lange Tradition, seit dem 16. Jahrhundert, nur stand es davor sogar noch unter Todesstrafe.
Mina:
In der Weimarer Republik forderten dann viele Frauen die Abschaffung oder Reform der Paragraphen, die sie für hohe Todeszahlen bei illegalen Abtreibungen verantwortlich machten und als Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts als Menschenrecht anprangerten. So auch Anna Margarete Stegmann.
Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Wir haben die Erschütterungen über die Tatsache des Krieges und des Kriegsgräuels noch nicht überwunden. Wir sind noch wurzellos. Wir stehen noch viel mehr in der Luft, als die meisten von uns wissen. Das sind Lebensbedingungen, die für Zeugungs- und Mutterwillen sehr ungünstig sind, die auch in absehbarer Zeit keine wesentlichen Besserungen erfahren werden. In dieser Zeit bedeuten die Strafandrohungen für Eingriffe in das keimende Leben einen Fluch, eine unberechtigte Härte, eine Grausamkeit und eine ganz sinnlose Vermehrung der Not. Dieser Fluch ist auf jene gelegt, die unter allen ungünstigen Verhältnissen ohnehin am meisten zu leiden haben, auf die Hilflosen, auf die Frauen.“
Hannah:
Wir haben mit Privatdozentin Dr. Silke Fehlemann gesprochen, um noch einmal einen anderen Blickwinkel auf das Thema zu bekommen. An der TU Dresden forscht sie als Historikerin, unter anderem zum Thema Frauen- und Familiengeschichte. Frau Dr. Fehlemann, vor welchen Herausforderungen standen Familien, insbesondere Frauen, in der Weimarer Republik?
Dr. Silke Fehlemann:
Frauen waren besonders vor wirtschaftliche Schwierigkeiten gestellt und Armut war weiblich. Der Anteil an Fürsorgeempfängerinnen war höher als bei den Männern. Die drei wesentlichen Armutsfaktoren waren hier Mutterschaft, Alter und Krankheit. Und diese Risiken verstärkten sich noch mit der wirtschaftlichen Depression in den späten 1920er und frühen 30er Jahren. Und dabei bestand in Deutschland die höchste Rate an weiblichen Selbstmorden. Dabei war Armut mit Einschränkung ein schichtenübergreifendes Phänomen. Denn die Hyperinflation hatte dazu geführt, dass sich eigentlich nur Familien mit Immobilienbesitz ihr Vermögen halten konnten.
Hannah:
In den Quellen wird häufig eine Differenz zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen aufgemacht. Inwiefern zeichnen sich Unterschiede in Bezug auf ungeplante Schwangerschaften ab?
Dr. Silke Fehlemann:
Die Weimarer Republik war eine Zeit des Umbruchs, so auch in Bezug auf ungeplante Schwangerschaften. Dabei bestanden Unterschiede zwischen proletarischen und bürgerlichen Familien, die sich aber im Verlauf der Republik dann zunehmend einebneten. Während der Zeit der Republik wurde es auch in bürgerlichen Familien zunehmend unüblich, eine unehelich schwangere Frau zu verstoßen. Dennoch muss man sagen, dass es aufgrund ökonomischer Heiratsbeschränkungen in proletarischen Verhältnissen durchaus verbreiteter war, unehelich schwanger zu werden und in gewisser Weise auch normaler. Insgesamt wurde vorehelicher Geschlechtsverkehr in der Republik üblicher und das Wissen um Verhütungsmittel verbreiteter. Mindestens so stark wie die Unterschiede zwischen Arbeiterschichten und bürgerlicher Herkunft waren aber die zwischen Stadt und Land.
Hannah:
Was bedeutete es eigentlich für Frauen, ehelos schwanger zu werden?
Dr. Silke Fehlemann:
Die Erfahrung war natürlich sehr individuell, aber der Mutterschutz bzw. auch das Wochengeld war äußerst begrenzt. Es war aber so, dass während der Weimarer Republik Wöchnerinnenleistungen auch an uneheliche Mütter grundsätzlich ausgezahlt wurden. Also in gewisser Weise verbesserte sich die Akzeptanz und auch die politischen Rahmenbedingungen wurden besser. Aber was eben sehr ins Gewicht fiel, war, dass die ökonomischen Bedingungen sich verschlechterten und das traf ehelose Mütter in besonderem Maße. Dabei gab es Fürsorgeleistungen wie zum Beispiel Mütterberatungsstellen, wo die Frauen sich aber eher im Hinblick auf Kindererziehung und Kinderhygiene beraten lassen konnten. Für ehelose Mütter war Wohnungs- und Arbeitssuche natürlich äußerst schwierig und viele uneheliche Schwangere suchten sogenannte Engelmacherinnen auf und ließen sich auf illegale Abtreibungen ein.
Hannah:
Gab es soziale Konsequenzen oder Verpflichtungen für die Väter?
Dr. Silke Fehlemann:
Uneheliche Väter konnten nur schwer belangt werden, da die Vaterschaft geleugnet werden konnte. Insgesamt erkannten 60 Prozent die Vaterschaft an ohne Gerichtsverfahren und weitere 20 Prozent nach einem Richterspruch. Knapp 70 Prozent derer, die die Vaterschaft eben problemlos, also ohne Richter anerkannten, stammten aus der Arbeiterschicht. Also da sieht man auch schon, dass es eben in der Arbeiterschicht weitaus üblicher war, unehelich schwanger zu werden sozusagen oder uneheliche Kinder zu bekommen. Die Fürsorgebehörden kümmerten sich darum, die nicht zahlenden Väter um Unterhalt zu ersuchen. Dabei gab es natürlich zahlreiche Schwierigkeiten wie Ummeldung, Leugnen der Vaterschaft oder Zahlungsunfähigkeit.
Hannah:
Es wird nochmal ganz deutlich, dass Beweggründe für einen Schwangerschaftsabbruch in gesellschaftlichen Problemen lagen. Das sieht auch Anna Margarete Stegmann. Laut ihr sind Frauen von diesen Problemen ganz besonders betroffen, in allen Schichten. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch bürgerliche Frauen abtrieben. Das betont auch Stegmann in einer Rede von 1925.
Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Nicht als ob wir nicht wüssten, dass es nicht bloß Proletarierinnen sind, die unter der Not dieser Strafgesetzparagraphen leiden. Nein, wir wissen ganz genau, dass auch die bürgerlichen Frauen dadurch betroffen werden!“
Mina:
In diesem Teil des Podcasts haben wir uns viel mit den Hintergründen der Paragraphen und den Gründen für eine Abtreibung beschäftigt. Im nächsten Teil möchten wir schauen, wie die Gesellschaft das Thema verarbeitet und wie sich der Rest der Frauenbewegung dazu positioniert. Vielen Dank fürs Zuhören.
Abspann:
Das war Folge 1 von Frauen macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorinnen: Mina Weidner und Hannah Schollmeier. Sprecherin: Kirsten Schumann. Sprecher: Robby Langer. Redaktion: Professorin Susanne Schötz und Silke Nora Kehl. Produktion: Bony Stoev. Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl