„Ich dachte damals, da bewegt sich unglaublich viel“ (Mirko Krizanovic)

Mirko Krizanovic begleitete als Fotograf die Revolutionen, die ab 1989 Osteuropa erfasst haben. Jahrelang reiste er von einem Land zum anderen, beobachtete den Alltag der Menschen, erlebte Euphorie und Enttäuschungen.

Herr Krizanovic, in welchen Ländern haben Sie im Wendejahr 1989 fotografiert?

Ich war zu jener Zeit Redaktionsfotograf der F.A.Z. und hauptsächlich für die Rhein-Main-Region zuständig. Die Grenzen zwischen den Ressorts waren jedoch fließend, es gab auch die Möglichkeit, außerhalb Deutschlands zu fotografieren. Die Entwicklungen im Osten haben mich fasziniert. Der Umbruch ging erst im Herbst 1989 richtig los, aber dann schlagartig. Damals bin ich nach Ostdeutschland gereist, später noch kurz nach Prag. Die größte Geschichte in jenem Jahr war Rumänien, dort habe ich an den Weihnachtstagen die Revolution beobachtet. Um den 22. Dezember kamen widersprüchliche Meldungen an. Keiner wusste Bescheid, wie weit es mit der Revolution war. Es fehlten Bilder. Darüber habe ich mich geärgert. Darauf meinte der F.A.Z.-Nachrichtenchef: Fliegen Sie doch einfach hin! Ich konnte es kaum glauben, aber zwei Stunden später war ich auf dem Frankfurter Flughafen, hab mir noch eine Winterjacke gekauft und bin los.

Wie wichtig war Ihre persönliche Verbindung zum Osten?

Ich bin als Kroate im heutigen Serbien geboren, habe also durch meine Kindheit ein Gefühl für den Osten. Ich bin in einem Staat aufgewachsen, der diktatorisch durch das Tito-Regime geprägt war. Mit meiner Familie war ich in den 1960er-Jahren auch viel in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei unterwegs. Schon damals haben wir einschneidende Ereignisse beobachtet, zum Beispiel die Ankunft der russischen Panzer in Bratislava. Da kriegt man mit, welche Dynamik solche Ereignisse auslösen können. Auch eine gewisse Ohnmacht vor der Staatsmacht hat man gefühlt. Meine Familie ist nach Westdeutschland gezogen, als ich zehn war. Meine Eltern hatten eine klassische Gastarbeitergeschichte. Ich wurde Fotograf. Im Westen war auch erst mal der Schwerpunkt meiner Arbeit, aber es hat sich ein Kreis geschlossen, als ich ab 1989 durch den Osten gereist bin. Es war eine Rückkehr zu vielen Dingen, die mir bekannt vorkamen.

Wie liefen Ihre Foto-Reisen ab?

Mal war ich allein, mal mit einem Redakteur unterwegs. Wir haben den Alltag beobachtet an Orten, wo Fotografen der Agenturen meist nicht hinkamen, weil dort kein großes Ereignis stattfand. In der F.A.Z. gab es die sogenannten Hintergrundberichte, ein großer Luxus in der Presselandschaft. Man konnte relativ exklusiv und in Ruhe das Leben der Menschen beobachten, sich treiben lassen. In Berlin bin ich auf der Straße mal in einen Pulk Jugendlicher geraten. Ich dachte: Wo wollen die denn hin? Ich habe mich angeschlossen, und habe so zufällig die Erstürmung der Stasizentrale an der Normannenstraße mitbekommen. Auch die Montagsdemonstrationen haben wir begleitet. Man wusste nicht, was im nächsten Moment passiert. Wie die Staatsmacht auf diese Menschenmengen reagiert. Die Revolutionen im Osten, von Ostdeutschland 1989 bis Ex-Jugoslawien 1999, waren für mich eine Art professioneller Trance-Zustand. Man ist von einem Flecken zum anderen gereist, immer dahin, wo gerade etwas los war, um die Entwicklungen zu dokumentieren.

Gab es Motive, die sich die deutschen Zeitungsredaktionen besonders gewünscht haben?

Die Redaktion war auf die Korrespondenten vor Ort angewiesen. Also hatten wir einen recht großen Einfluss darauf, was in die Zeitung kommt. Vorgaben gab es nicht, nur die Leitlinie: Wir sollten die aktuellen Entwicklungen abbilden und zwar möglichst facettenreich.

Die Revolutionen von 1989 haben die Ost-Staaten unterschiedlich verändert. Wie haben Sie diese Kontraste erlebt?

Wie unterschiedlich die Revolutionen verlaufen würden, war erst mal nicht abzusehen. Durch die Öffnung, die von Michael Gorbatschow ausging, war nur klar, dass das nicht nur die DDR ergreifen würde, sondern auch andere Staaten. In welcher Form war dann allerdings sehr speziell. Jedes Land ist eigen. Rumänien kann man nicht mit der DDR vergleichen. Das ist eine ganz andere Atmosphäre, es gibt eine andere Mentalität, ein anderes Verhältnis zum Staat. Im Osten Europas hatte eher die DDR eine spezielle Rolle, weil das Land doch sehr deutsch geprägt war, auch im Sozialismus. Andere Ostländer waren stärker durch eine lange Mangelwirtschaft beeinflusst. Die Bevölkerung dort lernte auf eine seltsame Weise, damit umzugehen. Da bildet sich eine große Geduld, unglaublich viel Gutmütigkeit aus. Und auf der anderen Seite Menschen, die diese Situation skrupellos ausnutzen. Diese Leidensfähigkeit, die in Oststaaten eigentlich durchgehend zu finden ist, gibt es im Westen viel weniger.

Wie blicken Sie heute auf diese Welle der Revolutionen?

Mein Grundgefühl ist eher desillusioniert. Jedenfalls, wenn man es mit dem Gefühl vergleicht, das sich damals durch ganz Osteuropa gezogen hat: diese unglaubliche Euphorie, das neue Denken, der Wille zum Aufbruch. Ich dachte damals, da bewegt sich unglaublich viel. Aber im Grunde hat eine Liberalisierung nicht stattgefunden, die anfängliche Aufbruchsstimmung hat schließlich nur Platz gemacht für neue Despoten. Die politischen Systeme in den meisten Ostländern sind recht starr. In diese Länder fließen heute teils enorme EU-Gelder, allerdings oft in korrupte Systeme, das ändert also nicht viel. In Ungarn oder Rumänien versickert viel Geld bei den reichsten Leuten des Landes. Bei der Bevölkerung herrscht dagegen häufig Armut. Ostdeutschland hat bei der Aufzählung der Revolutionen eine Sonderstellung, weil damals etwas grundsätzlich Verbindendes da war.

Die Einheit von Ost und West ist also aus Ihrer Sicht gelungen?

Ich glaube, dass es von beiden Seiten eine große Bereitschaft gab und gibt, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Was daraus geworden ist, das kann sich sehen lassen. Aber der Preis der Wiedervereinigung, gerade für die ostdeutsche Bevölkerung, war sicher emotional hoch. Es waren natürlich auch Enttäuschungen im Spiel. Die Menschen haben viel Kraft gelassen, um ihre Leben neu zu sortieren. Auch die Entwicklung von radikalen Kräften, die sich auch heute wieder zeigt, kommt nicht von ungefähr. Ich habe 1990 in Jugendzentren fotografiert, zum Beispiel in Zwickau, wo man sehen konnte, wie Linke und Rechte aufeinanderprallten. Wie sich vor allem die Rechten schnell radikalisiert haben. Ich habe dort eine zum Teil orientierungslose Jugend gesehen. Man hatte das Gefühl, die Eltern fehlen.

Sie standen als Fotograf ständig in aufwühlenden Momenten, zwischen Freudentaumel und Kriegsszenen. Wie gehen Sie mit solchen Emotionen um?

Es gibt den Spruch: Nichts ist subjektiver als das Objektiv des Fotografen. Ich versuche einerseits der neutrale Berichterstatter zu sein, also Geschichten zu erzählen, wie sie mir begegnen, und dabei nicht tendenziös zu sein. Aber ich sehe mich auch als eine Art Katalysator. Ich will die Gefühle, die mir begegnen, rüberbringen.

Haben Sie mediale Inszenierungen erlebt?

Als absolute Ausnahmen. In Rumänien habe ich allerdings einen Fall erlebt, der war so eklatant, der reicht für zehn. Die Situation war damals unübersichtlich. Es waren auch einige Journalisten in der Gegend. Wenn irgendwo was los war, hat man sich gegenseitig informiert. Es kam die Nachricht von einem Fund auf dem Friedhof in Timișoara. Wir sind hin und sahen dort diese unglaublich grausame Szene: 25 Leichen aufgereiht, mit aufgeschnittenen und wieder zugenähten Bäuchen, einem Fötus obendrauf platziert. Diese Bilder wird man nie wieder los. Dass es eine Inszenierung war, kam erst einige Monate später heraus. Die Leichen waren aus der Pathologie eines Krankenhauses. Die Opposition hatte sie benutzt, um Propaganda gegen das Ceaușescu-Regime zu betreiben.

Besteht die Gefahr, beim Fotografieren Extreme abzubilden?

Damals viel weniger als heute. Der Fotojournalismus hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert. Inzwischen läuft vieles in Echtzeit. Die Fotografen machen bei einem Ereignis Hunderte Bilder, das Material fließt sofort an die Agenturen, da sitzt jemand und sucht aus, vielleicht auch mit Blick auf die krassesten Bilder. Es ist kaum noch Zeit für Reflektion. Vor 30 Jahren war ich froh, wenn ich bei einer Geschichte zwei, drei Bilder absetzen konnte. Ich habe noch analog, mit meinen Leicas, fotografiert. Teilweise habe ich ein mobiles Labor in Hotelzimmern aufgebaut, die Bilder dort entwickelt und sie jemandem mitgegeben, der zurück nach Frankfurt geflogen ist. Wenn ich damals irgendwo in der bosnischen Provinz fotografiert habe, brauchte ich auch erst mal etliche Stunden zurück nach Zagreb. Dort habe ich mir dann noch die Nacht um die Ohren geschlagen, um mich mit den Motiven zu beschäftigen, bevor ich irgendwas rausgegeben habe. Es gab Zeit zu entscheiden, welche Bilder die Geschichte am authentischsten erzählen.

Eines Ihrer berühmtesten Bilder ist der Trabi-Korso 1989 in Obersuhl, das Bild wurde später sogar auf eine Briefmarke gedruckt. Wie blicken Sie heute auf dieses Foto?

Dieser große Wunsch nach Einheit, diese emotionale Begrüßung von Ost und West, die man an diesem Sonntagmorgen an der Grenze gesehen hat. Das war ein sehr einschneidender Moment, den ich nie vergessen werde.

Reisen Sie immer noch in den Osten?

Solange ich noch fotografieren kann, wird dieses Thema für mich nicht beendet sein. Ich war auch in den letzten Jahren immer wieder im Osten unterwegs, in der Ukraine, in Russland. Solche Reportagereisen sind weniger geworden. Aber wenn sich irgendwo eine Möglichkeit bietet, nehme ich sie mit. Ich will die Veränderungen, auch den Stillstand in den Oststaaten, weiter abbilden.

Das Interview führte Doreen Reinhard