Das Kirschberghaus war ein Jugendclub in Leipzig-Grünau. Grünau liegt im Westen von Leipzig und war zu DDR-Zeiten ein bedeutungsvoller Industriestandort. Im Zuge der Wiedervereinigung kam es auch an diesem Standort zu einem Abbau von Arbeitsstellen und dem Niedergang der Industrie. Viele Menschen zogen aus Grünau weg und die einst so anerkannte Gegend wurde von außen nun eher als Problemviertel wahrgenommen. Wenngleich sich bemüht wurde, den Stadtteil attraktiv zu bewerben und unter anderem ein Kino und ein Einkaufszentrum gebaut wurden, kam es zu mehr Fort- als Zuzügen. Bemängelt wurden die wenigen Orte für Begegnung und Freizeit und die fehlende Anbindung an die Stadt. (Zschocke 2022).

Das Kirschberghaus in den 1990er Jahren

Im Stadtteil gab es drei Jugendeinrichtungen, die alle mit dem Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“ agierten. Eines davon war das Kirschberghaus in Grünau-Mitte. Das Kirschberghaus wurde seit 1990 kommunal betrieben, 1995 durch ein offenes Jugendtreff und 1996 durch das Treff 2 im gleichen Gebäude erweitert (Zschocke 2022).

Die Verknüpfung des Kirschberghauses mit der rechten Szene in den 1990er Jahren wird im Folgenden geschildert. Das Kirschberghaus dient hier als ein Beispiel unter Vielen, an dem nachvollzogen werden kann, wie die rechte Gewalt von Jugendlichen in den sogenannten Baseballschlägerjahren institutionell gefördert und ausgelebt wurde.

Einige rechtsorientierte und rechtsextreme Jugendliche hielten sich an öffentlichen Plätzen in Grünau auf und sorgten für Unruhe, Gewalt und Unsicherheit. Nicht nur alternative, linksorientierte und rassistisch diskriminierte Jugendliche begannen diese Orte zu meiden, sondern auch die breite Anwohnerschaft. Daraufhin veranlasste das Jugendamt 1996 das Eingreifen durch Streetworker.

Rechte Szene im Jugendtreff

Die Sozialarbeiter holten die Jugendlichen in das Kirschberghaus und gründeten den Treff 2. Dies war ein Jugendtreff, der in Selbstverwaltung in der Hand der Jugendlichen lag (Zschocke 2022). Nicht-rechte Jugendliche wurden zu großen Teilen aus dem Haus vertrieben. Es entstand ein Umschlagplatz für eine organisierte rechte Szene. Vom Verfassungsschutz beobachtete rechtsextreme Bands konnten dort proben und Konzerte spielen, NPD-Vertreterinnen und Vertreter und Mitglieder der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ trafen sich zu Besprechungen und rekrutierten Jugendliche vor Ort, Propagandamaterial wurde erstellt und verteilt (Hagemann, Anke und Stecker, Heidi 2004). Das Kirschberghaus „funktionierte bald als Bilderbuchrekrutierungsfeld für Nazikader" (Wagner et al. 1999). Die Gewalt im Stadtteil nahm also nicht ab, sondern wurde besser organisiert.

Zusammenarbeit mit Polizei

Am Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“ festhaltend, wurde auch die Zusammenarbeit mit der Polizei in der Annahme des Akzeptierens und Begleitens vollzogen. Propagandadelikte wurden nicht bei der Polizei angezeigt und auch nicht jede Körperverletzung. Außerdem wurden "andere Strafverfolgungsverfahren" in Absprache mit den Kontaktbeamten "im Interesse der Jugendlichen" im Kirschberghaus intern behandelt (Wagner et al. 1999). Weder in der pädagogischen Begleitung noch im Kontakt mit der Polizei haben die rechtsextremen Positionen und Handlungen also Konsequenzen hervorgerufen.

Der Umgang der Polizei mit der rechten Gewalt in den Baseballschlägerjahren ist mindestens genauso kritisch zu betrachten, wie das Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“.

Ziviler Widerstand

Nachdem Ende der 90er Jahre die rechten Übergriffe immer häufiger wurden, entstand ein ziviler Gegenwind insbesondere von linksorientierten Jugendlichen aus dem Stadtteil. Sie waren der Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt und setzten sich zur Wehr. Die linken Gruppen organisierten Demos vor dem Kirschberghaus, schrieben einen offenen Brief, plakatierten eine Chronik der rechten Gewalt in Grünau und forderten ein Handeln des Jugendamtes und des Bürgermeisters. Diese hielten jedoch an dem Kirschberghaus fest und negierten im weitesten Sinne ein Problem mit rechter Gewalt in Leipzig (Hagemann, Anke und Stecker, Heidi 2004). Im Zuge dieser Aktionen kam es zu Auseinandersetzungen mit den rechtsextremen Jugendlichen. Während die Übergriffe der rechten Szene kaum Aufmerksamkeit in der Presse oder Gesellschaft gefunden haben, wurde nun um „linke Störenfriede“ viel Medienwind betrieben. Obwohl also die Berichterstattung und die Resonanz der Verantwortungsträger ablehnend und ignorant ausfiel, schafften die linken Gruppen es, Aufmerksamkeit auf die Thematik zu lenken (Zschocke 2022).

Ebenso setzte sich eine Gruppe von kritischen Sozialpädagoginnen dafür ein, eine neue Strategie im Umgang mit rechtsextremen Jugendlichen zu entwickeln, die „Strategie contra Ohnmacht“ (ScO). Sie kritisierten insbesondere, dass staatliche Gelder verwendet wurden, um die Strukturen der rechten Szene zu stützen und keine alternativen Räume für Betroffene der rechten Gewalt geschaffen wurden. Sie forderten öffentlich eine Schließung oder wenigstens einen Trägerwechsel des Kirschberghauses. Der Fachkreis ScO initiierte ein Gutachten. Eine Diplomarbeit mit umfangreichen Recherchen und vielen Interviews mit Zeitzeugen entstand. Sie enthielt viel Beweismaterial aus dem Kirschberghaus, welches teilweise illegal rechtes Gedankengut belegte und machte wichtige rechte Akteure bekannt.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen brachte dieses Gutachten im Jugendhilfeausschuss des Stadtrates Leipzig vor. Diese klare und gut dokumentierte Beweislage brachte die Entscheidungsträger nun doch zum Agieren. Es kam zu Personalwechseln: der Leiter des Jugendamtes wurde durch Siegfried Haller ersetzt und ein neuer Beigeordneter für Jugend, Schule und Sport, Burkhard Jung, wurde ernannt. Das Kirschberghaus bekam einen neuen Träger und das Treff 2 wurde geschlossen. Ein neuer Maßnahmenkatalog zeigte die Grenzen im Umgang mit rechtsorientierten und rechtsradikalen Jugendlichen auf und es wurde eine Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt gegründet. Ebenso begann die Polizei härter gegen die rechte Szene vorzugehen. (Hagemann, Anke und Stecker, Heidi 2004).

Konsequenzen

Die Zivilcourage der betroffenen Jugendlichen in Grünau (unterstützt von Menschen aus anderen Stadtteilen) und das engagierte Vorgehen der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen führte zu einem Umdenken im Kirschberghaus und in Grünau im Umgang mit der rechten Szene.

Ihre Bemühungen zeigen deutlich auf, dass Zivilcourage, Zusammenarbeit und das Einfordern des Handelns der Verantwortungsträger ein effektives Mittel gegen rechte Strukturen sein kann.

Die Maßnahmen wurden nicht alle sofort umgesetzt und der Trägerwechsel im Kirschberghaus brachte wenige personelle Veränderungen mit sich. Eine Zeit lang waren die rechten Jugendlichen noch  präsent im Kirschberghaus und die Bitte nach einem Jugendclub für „nicht-rechte“ Jugendliche wurde nicht erfüllt. Doch mit der Zeit nahmen andere Jugendkulturen wie aus dem Hip-Hop und der Skaterszene Raum ein und auch die Polizei ging deutlicher gegen rechte Gewalt vor.

Die rechten Akteure bestimmten weniger das Geschehen in den öffentlichen Räumen, waren aber nicht verschwunden. (Hagemann, Anke und Stecker, Heidi 2004). Die rechte Szene hat sich nicht aufgelöst oder ist weniger organisiert, sondern agiert in eigenen (privaten) Räumen. Die Protestbewegungen wie Pegida/Legida oder Querdenkern sowie die Wahlergebnisse der AFD zeigen diese fortbestehende Präsenz.

Geschichten wie die des Kirschberghauses haben sich auch an anderen Orten wiederholt. Dennoch ist es „ein Sonderfall im positiven Sinn, weil er Strategien und Möglichkeiten aufweist, die rechte Hegemonie zu bekämpfen und die öffentliche Lethargie aufzubrechen. Mutiger und beharrlicher Widerstand, obwohl selbst permanent Ziel von Vorwürfen und Verleumdungen, führte zum politischen Einlenken und zur Rückeroberung städtischer Territorien. Wenige vergleichbare Ereignisse haben eine so starke - regionale -Medienpräsenz und Auseinandersetzung erzeugt.“ (Hagemann, Anke und Stecker, Heidi 2004).

Quellen:

  • Hagemann, Anke und Stecker, Heidi (2004): Workingpaper: Leipzig streitet um das Kirschberghaus
  • Wagner, Bernd; Weber, Ilona; Kirschnick, Sylke (1999): Rechtsextreme Erscheinungen und rechtsextreme Bestrebungen in Leipzig-Grünau im Zusammenhang mit Jugend und Jugendarbeit. Eine Darstellung bedeutsamer Aspekte. In: Bulletin- Schriftenreihe Zentrum für demokratische Kultur, S. 19–33.
  • Zschocke, Paul (2022): Leipzig-Grünau: Wie die Baseballschlägerjahre zum heutigen Erfolg der AFD beitragen. In: Mullis, Daniel und Miggelprink, Judith (Hg.): Lokal extrem Rechts: Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Bielefeld: transcript Verlag, S. 145–164.