Muslimische Gefängnisseelsorge

Unter dem Titel „Muslimisches Leben und Strafvollzug“ fand die 21. sächsische Strafvollzugstagung, die gemeinsam vom Verein HAMMER WEG e.V. und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung organisiert wurde, am 20. und 21. Mai in Dresden statt. Fachleute berichteten aus der Praxis und tauschten sich in Workshops aus. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz, das die Tagung unterstützte und auf der Konferenz vertreten war, kündigte Verbesserungen bei der muslimischen Gefängnisseelsorge an.

Als Imam Husamuddin Meyer 2008 das erste Mal zum Freitagsgebet in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden rief, überraschte ihn der große Andrang: „Von den damals etwa 90 muslimischen Insassen kamen 60 bis 70 zum Gebet. Das hat mich auch deshalb erstaunt, weil die Häftlinge zwischen 19 und 24 Jahre alt waren, also jung.“ Zu den evangelischen oder katholischen Andachten in der JVA wären im Jugendstrafvollzug in der Regel nur wenige Gefangene gekommen, manchmal nur drei oder vier Personen. Das starke Interesse muslimischer Inhaftierter am gemeinsamen Gebet und auch an der Feier islamischer Feste sei dagegen bis heute erhalten geblieben, berichtete Imam Meyer, der seit 14 Jahren in Wiesbaden als muslimischer Gefängnisseelsorger tätig ist.

Das kontinuierliche Interesse bezeuge, dass es den Inhaftierten um mehr gehe als um Abwechslung im Gefängnisalltag, da ist er sich sicher: „Die Leute, gerade auch die jüngeren, verstehen sich von ihrer Identität her als Muslime. Als ich meinen Dienst als muslimischer Seelsorger begonnen habe, sagten sie: ‚Endlich einer von uns‘“, erinnert sich Husamuddin Meyer. „Dass die jungen Menschen mich gleich akzeptiert haben, war für mich allerdings auch überraschend. Denn ich bin deutsch und erst als Erwachsener zum Islam konvertiert – und dann komme ich ursprünglich auch noch vom Dorf. Somit habe ich einen ganz anderen Hintergrund als die meisten der Inhaftierten.“

Sprachliche und kulturelle Vielfalt

Die Stelle als Seelsorger in der JVA habe er damals bekommen, weil ausdrücklich nach einem deutschsprachigen Imam gesucht worden sei. „Vor zehn, fünfzehn Jahren war das noch ungewöhnlich.“ Da unter den muslimischen Haftinsassen deutsche, ausländische und Menschen mit Migrationsgeschichte waren und sind, treffen im Gefängnis wie draußen unterschiedliche Kulturen und Sprachen aufeinander: neben Deutsch etwa Albanisch, Afghanisch, diverse arabische Dialekte, Türkisch oder Somalisch. „Aufgrund dieser sprachlichen Vielfalt entschied man damals, dass der Imam nicht Arabisch oder Türkisch, sondern vor allem Deutsch sprechen soll – weil das in dem Fall die Sprache war, die von den meisten gesprochen und verstanden wurde.“

Imam Husamuddin Meyer hielt den Eröffnungsvortrag auf der Tagung „Muslimisches Leben und Strafvollzug“, die am 20. und 21. Mai stattfand und gemeinsam vom Dresdner Verein HAMMER WEG e.V. und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung organisiert wurde. Begrüßt wurden die Teilnehmenden der 21. Sächsischen Strafvollzugstagung vom Theologen und langjährigen Vorstandsvorsitzenden des HAMMER WEG e.V., Prof. Ulfrid Kleinert: Ein Interview zu dieser Tagung mit ihm finden Sie hier.

Friedemann Brause, Referent für Innenpolitik und Zivilgesellschaftliches Engagement bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, gab zur Einführung in das Tagungsthema unter anderem einen Überblick über Zahlen. Er verwies darauf, dass es laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019 etwa 5,5 Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland gab. Dies entspreche einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 6,7 Prozent. Die Zahl muslimischer Menschen in Deutschland sei seit 2015 um knapp eine Million gestiegen.

Neue Herausforderungen für den Strafvollzug

„Aus den reinen Zahlen lässt sich jedoch nur ein grobes Bild zeichnen“, stellte er klar. „Nicht alle Menschen muslimischen Glaubens sind darin erfasst – genauso wenig lässt sich aus den Zahlen ableiten, welche Rolle Kultur und Religion im individuellen Leben spielen. Es wird aber eine stärkere gesellschaftliche Diversität sichtbar, auch in Sachsen.“

96 Prozent aller Musliminnen und Muslime lebten in Westdeutschland, so Friedemann Brause. In Ostdeutschland handle es sich größtenteils um Geflüchtete, die seit 2015 nach Deutschland gekommen seien. „Schauen wir auf den Strafvollzug: In Sachsen stieg der Anteil ausländischer Strafgefangener von 15 Prozent im Jahr 2014 auf 32 Prozent im Jahr 2019.“ Nach Angaben der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland läge der Anteil von muslimischen Strafgefangenen in Sachsen derzeit bei etwa 10 Prozent, in anderen Bundesländern seien die Zahlen teils deutlich höher.

Aus dieser Situation ergäben sich neue Herausforderungen und Perspektiven für den Strafvollzug, erläuterte Brause. „In Gesprächen mit Bediensteten im Strafvollzug oder dem Justizministerium haben wir gehört, wie herausfordernd es ist, religiöse und kulturelle Diversität zu berücksichtigen, Konflikte zu schlichten und den gegenseitigen Respekt sicherzustellen.“ Die Tagung stelle daher drei große Fragen: „Erstens: Wie können die religiösen und kulturellen Bedürfnisse Strafgefangener mit muslimisch geprägten Biografien berücksichtigt werden? Zweitens: Wie gelingt ein respektvoller Umgang unter Strafgefangenen sowie zwischen Bediensteten und Inhaftierten? Drittens: Was lässt sich tun, um islamistische Radikalisierung während der Haft zu erkennen und zu verhindern?“

„Seelsorge ist wichtiger und dringender als Deradikalisierung“

Imam Husamuddin Meyer, der auch Leiter der Beratungsstelle Salafismus Wiesbaden ist, ging in seinem Vortrag auf den Aspekt islamistischer Radikalisierung ein: „Es ist ein kleiner Anteil der Straftäter, der Radikalisierungspotential hat, etwa 10-15 Prozent.“ Dazu zählten auch diejenigen die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anschlössen. „Die Seelsorge-Arbeit halte ich für wichtiger und dringender als die Deradikalisierung“, erklärte der Imam. „Aber für Deradikalisierung gibt es mehr Geld.“ Dabei seien die Gründe für Radikalisierung oftmals in der seelischen Verfasstheit des Einzelnen zu suchen: „Wenn man sich selbst hasst, ist man zu allem fähig“, so Husamuddin Meyer. Und sei daher empfänglicher für Gruppen, die ideologisch arbeiten und darauf abzielen, psychisch instabile Menschen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

„Die Sorgen von Geflüchteten sind nochmal multipliziert im Vergleich zu denen der anderen Strafgefangenen. Ein 13-Jähriger, der aus dem Sudan hierher geflohen ist, hatte Morde mit ansehen müssen und war während seiner Flucht selbst in Lebensgefahr. Oder ein junger Mann, der im Irak ein Sprengstoffattentat überlebt hat, das die Körper von Kindern zerfetzt hat – was sie erlebt haben, ist für uns teils unvorstellbar schlimm“, schilderte Meyer. Ihnen die Chance zu geben, diese traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten und sie dabei zu begleiten, betrachte er als eine seiner wichtigsten Aufgaben.

Männerarbeit in Berlin-Neukölln

Sich um die Seele der Menschen kümmern, ihnen zur Seite stehen mit psychologischer Beratung und vielen persönlichen Gesprächen – das tut auch der Berliner Kazım Erdoğan, seit 2003 Vorsitzender des Vereins Aufbruch Neukölln e.V. Er gab in seinem Vortrag einen Überblick über die Arbeit des Vereins: „Wir bieten Beratung für Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte an. Zum Beispiel Männerarbeit, Familienberatung, mobile Rechtsberatung und anonyme Telefonberatung.“ Der Verein unterstütze auch spielsüchtige Männer, die es nicht allein schaffen, aus der Sucht auszusteigen und deswegen Schulden und familiäre Probleme haben – oder drohen, in die Kriminalität abzurutschen.

Kazım Erdoğan zog Anfang der 1970er Jahre aus der Türkei nach Berlin und studierte an der Freien Universität Soziologie und Psychologie. Er arbeitete zehn Jahre lang als Hauptschullehrer, 15 Jahre als Schulpsychologe und 14 Jahre als Familienberater beim Bezirksamt Neukölln. Nebenbei arbeitete er ehrenamtlich und gründete viele Projekte, so wie 2007 die türkische Männer- und Vätergruppe, zu der auch ehemalige Inhaftierte kommen. „Wie können wir Gewalt gegen Frauen, Gewalt in Familien verhindern?“, habe er sich gefragt, als er die Gruppe initiierte, die er bis heute leitet.

Ausstieg aus der Gewalt

„Gewalt ist das Produkt der Enttäuschung, der Verzweiflung und der Hilfslosigkeit“, davon ist der Psychologe und Soziologe überzeugt. „97 Prozent der Menschen geben das weiter, was sie als Kind gesehen, gelernt und gehört haben.“ Deswegen sei sein Ansatz, den Männern zuzuhören und sie zu ermutigen, sich bei Gesprächen in der Gruppe zu öffnen. „So wie Mehmet. Er hat darüber gesprochen, wie er seine 8-jährige Tochter mit dem Gürtel geschlagen hatte. Als ihm klar wurde, wie schlimm das ist, hat er vor uns allen geweint“, schilderte Erdogan. Das sei vor vielen Jahren gewesen. „Heute bietet er selbst Beratungsgespräche für Männer an, die aus der Gewalt aussteigen und bessere Väter, Großväter oder Ehemänner werden wollen.“ Es gehe darum, sich der Prägung durch selbst erlittene Gewalterfahrungen bewusst zu werden, um diese nicht immer wieder weiterzugeben an die eigenen Kinder, die Partnerin oder den Partner.

Auch soziale und kulturelle Faktoren könnten zu gewalttätigem Verhalten gegenüber Frauen und Kindern, insbesondere Töchtern, führen. „Türkische, kurdische, arabische, muslimische Männer, sie kommen oft mit dem Konzept von Ehre“, berichtete Kazım Erdoğan. „Wenn ich sie frage, was ‚Ehre‘ für sie bedeutet, hat kein einziger von ihnen eine konkrete Antwort darauf. Sie sagen dann: ‚Das ist, was unsere Vorfahren uns mitgegeben haben‘.“ In der Männergruppe vermittle er, dass Gewalt in der Familie niemals der richtige Weg sei, sondern respektvolle Kommunikation, Empathie und Selbstreflexion.

„Importbräutigame“ aus der Türkei

Kazım Erdoğan verwies auch auf einen weitgehend unbekannten sozialen Hintergrund von Gewalttätigkeit: „In den Medien wurde und wird gelegentlich von ‚Importbräuten‘ aus der Türkei geschrieben. Was in der deutschen Mehrheitsgesellschaft jedoch nicht bekannt ist: Bei 40 Prozent dieser sogenannten Import-Eheschließungen geht es um Männer aus der Türkei, also um ‚Importbräutigame‘. Während die Familien der Frauen schon seit ein oder zwei Generationen in Deutschland leben, kommen die Männer aus der Türkei – und haben hier beruflich kaum Perspektiven.“

Das bedeute konkret: Die jungen Ehemänner müssten von Sozialhilfe oder Niedriglohnjobs leben und würden in einigen Fällen von ihren Frauen nicht anerkannt und nicht respektiert, in manchen Fällen sogar erniedrigt oder verlassen. Aus Gefühlen der Kränkung, Perspektivlosigkeit und Einsamkeit heraus entstehe dann das Potential, gewalttätig oder gar zu Mördern zu werden. Diesen Männern zeige der Verein Aufbruch Neukölln andere Wege aus der Krise auf und unterstützte sie dabei, gefestigtere Persönlichkeiten mit neuen Perspektiven zu werden.

„Gewalt kennt keine Religion“

Kazım Erdoğan stellte grundsätzlich aber auch klar: „Gewalt kennt keine Ethnie, Gewalt kennt keine Religion, Gewalt ist ein globales Phänomen“. Ihm erscheine es daher auch etwas problematisch, dass die Tagung unter dem Motto „Muslimisches Leben und Strafvollzug“ stand. Er selbst definiere sich beispielsweise gar nicht über den islamischen Glauben, sondern über Sprache und Staatszugehörigkeit, erklärte Erdogan. Und so gehe es auch den meisten Strafgefangenen.

Als Ehrenamtlicher betreute er türkischsprachige Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, da das dortige Personal kein Türkisch konnte. Dort habe er festgestellt: „Religion spielte für die Gefangenen kaum eine Rolle. Und dass es zudem mehr als 20 unterschiedlichen Glaubensrichtungen im Islam gibt, erschwert ein Angebot muslimischer Gefängnisseelsorge“.

Sein Fazit am Ende der Konferenz war jedoch positiv: „Es war insgesamt eine sehr gute Tagung mit spannendem fachlichen Austausch – und der Impuls, mehr Respekt vor anderen Kulturen und anderen Religionen im Gefängnis umzusetzen und zu leben, ist begrüßenswert. Dazu gehört auch, Seelsorge für alle Religionsgemeinschaften anzubieten und mehrsprachige Sozialarbeiter einzusetzen.“

Sächsisches Justizministerium stellt muslimischen Gefängnisseelsorger ein

Jörn Goeckenjan, Abteilungsleiter für den Justizvollzug im Sächsischen Staatsministerium der Justiz, kündigte zum Abschluss der Tagung konkrete Schritte an: Bis zum Ende des Jahres soll in der JVA Dresden eine Stelle für die muslimische Gefängnisseelsorge besetzt werden. Auf die neue Seelsorgerin oder den neuen Seelsorger komme eine wichtige und herausfordernde Stelle zu, so Goeckenjan. Sowohl in der Islamwissenschaft, als auch in der seelsorgerlichen Begleitung brauche es umfassende Kenntnisse.

Die Tagung profitierte, so die Einschätzung einiger Teilnehmenden, von den vielfältigen Perspektiven aus Praxis, Wissenschaft und verschiedenen biografischen Hintergründen. „Bewusst haben wir auch Fachleute aus Westdeutschland und Berlin eingeladen, da wir uns gegenseitig durch neue oder schon länger existierende Ansätze inspirieren können“, hielt Friedemann Brause vom Organisationsteam der Tagung fest.