Kulturhauptstadt – auf dem richtigen Gleis!
Trommelwirbel, Sambaklänge, aufgeregte Rufe und begeisterter Applaus. Mitten durch Chemnitz rollt am 18. Januar 2025 eine historische Dampflokomotive. Laut klatschen die Zuschauer, die den Bordstein säumen, zerren ihre Mobiltelefone aus den Taschen, fotografieren aus jedweder Perspektive. Gewöhnlich steht das gute Stück im Museum und kann längst nicht mehr fahren. Auch jetzt wird die Lok weder von Dampf, noch von Kohlenfeuer angetrieben, obwohl das ihre Bauart suggeriert. Pechschwarz glänzt die metallene Oberfläche, wölbt sich um den gewaltigen Kessel. Aus dem Führerhäuschen ohne Scheiben beugt sich ein Schaffner in traditioneller Uniform.
Menschen sind es, die das Ungetüm jetzt durch die Straßen zerren, Freiwillige, mit langen geflochtenen Seilen in Händen, 120 Männer und Frauen, die sich gemeldet haben, um die Lokomotive wieder auf Fahrt zu bringen. Die alte „Hegel“ aus der Fabrik des genialen Ingenieurs Richard Hartmann, Dampflok 98 7056 sollte rollen. Trommler mit grasgrünen Mützen feuern die Treidler an, bestimmen den Rhythmus, nachdem sich die Seile gespannt haben. Wild klatschen die Zuschauer. Während die einen lachen und rufen, keuchen die anderen und schwitzen, doch fröhlich sind sie alle, machen begeistert mit.
Was ein unbeschwerter Wettkampfspaß zur Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt werden sollte, wäre beinahe an technischen Hindernissen gescheitert. Denn früher wurden Hartmanns Dampflokomotiven von Pferden aus der Stadt hinausgezogen. Weit außerhalb befand sich die Zugstation. Chemnitz war damals noch nicht ans Eisenbahnnetz angeschlossen. Über Lafetten, tief im Boden verankert, wurden die tonnenschweren Fahrzeuge abtransportiert.

Solche Zeiten sind selbstredend längst vorbei. Heute ziehen sich Schienen durch die ganze Stadt, Straßenbahnen sind es, die darauf verkehren, und sie haben ihre ganz spezielle Breite. Die passt gemeinhin nicht zum Schienenabstand, den eine alte Dampflok braucht.
Doch die Kulturhauptstädter hatten Glück. Ab 2002 wurde das Chemnitzer Modell entwickelt. Idee war, die Stadt und das Umland zu verbinden, umsteigfreier Reiseketten waren das Ziel. Also wurden Schienen in der Stadt verlegt, auf denen Eisenbahnen verkehren können, Züge eingesetzt, die auch durchs Umland eilen. Und überall herrscht derselbe Gleisabstand.
Tag für Tag steuern diese Bahnen jetzt die Zentralhaltestelle an, einen Verkehrsknotenpunkt im Zentrum der Stadt. Hunderte von Menschen kommen hier an und fahren wieder ab, warten auf ihren Busanschluss, steigen ein und ziehen weiter. Fast jeder Bewohner der 250.000 Menschen starken Stadt und Region kennt diese Haltstelle, hat hier mindestens einmal in seinem Leben gestanden und abgewartet, bis es für ihn weiterging.
An diesem Ort wurde Hartmanns Dampflok zur Eröffnungsfeier „eingegleist“, wie es in Chemnitz heißt, ein Procedere, das auf ewig in der DNA der Chemnitzer verankert ist, denn davon hing im 19. Jahrhundert der Fortschritt ab, der Anschluss an den Rest der Welt, zum Händler und zum Kunden. Abertausende von Strumpfhosen nahmen ihren Weg von hier rund um den Globus, kunstvoll gewebte Stoffe, gewirkte Ware, geschnitzte Engel, passgenau genähte Handschuhe, geklöppelte Decken, geschmiedetes Werkzeug, geschweißte Motoren,- und immer und immer wieder brauchte es die Eisenbahn, das Fahrzeug, das die kostbare Ware aus der Region hinaustrug. Ja, auch die „Hegel“ zog Waggons mit solchen Produkten über die Schienen, auch diese Dampflok brachte Chemnitzer Kostbarkeiten in die Welt hinaus. Über achtzig Jahre lang tat sie ihren Dienst, wurde erst 1967 aufs Abstellgleis geschoben, ins Museum gebracht und jetzt wieder neu zum Leben erweckt.
Und siehe da: das Vorhaben gelang. Die neue Spurbreite passte zu der historischen Bahn. Die Menschen jubelten. Sie zogen die Seile an, und das Fahrzeug rollte los, fuhr am Rathaus und Marktplatz vorbei bis zum Roten Turm und fast bis zum Karl-Marx-Monument. Es hat funktioniert. Das Kulturhauptstadtjahr konnte beginnen.

In der Hartmannfabrik, wo manche das Wunder am Bildschirm verfolgten, sprangen sie von den Sitzen, rissen die Arme in die Höhe, tanzten und lachten, fielen Udo Pfeifer um den Hals, dem Unternehmer, dessen Familie die Halle heute gehört, gratulierte ihm zu dem gewaltigen Coup. Tausende von Euros hat er in die Fabrik investiert, hat sie trockengelegt und hochgezogen, saniert und wiederhergestellt. Jetzt heißt sie die Besucher der Kulturhauptstadt willkommen, ist Begrüßungssalon und Empfangshalle zugleich, steht verlässlich am Ufer der Chemnitz und erwartet die zahlreichen Gäste.
Chemnitz – Stadt der Moderne, Manchester Sachsens, Herzkammer des Maschinenbaus, Hersteller und Zulieferer für die Autoindustrie, Kunststätte mit hochkarätigen Sammlungen, Tanz- und Musikclubs, Theatern, Konzertstätten und Oper, Architekturbauten und imposanten Skulpturen. Chemnitz ist eine moderne Stadt, eine Metropole, die diesen Namen wirklich verdient, denn ihre Bewohner verbinden Tradition mit Fortbestand, schauen weit voraus und vergessen dabei das Alte nicht, kämpfen um ihr Ansehen. Chemnitz ist auf dem richtigen Gleis!