Kein Beitritt auf Augenhöhe
Eine solch niveauvolle Debatte über den schon 35 Jahre währenden deutschen Vereinigungsprozess kann man jederzeit und nicht nur am 3. Oktober führen. Zwei Monate nach dem Feiertagstermin hätte es der Brücke kaum bedurft, die Landeszentralen-Direktor Roland Löffler schlug. Denn auch die Landeszentrale wurde vor 35 Jahren gegründet. Der Anlass führte in diesem Sommer schon die Sachsen und die Pate stehende Partnerzentrale aus Baden-Württemberg in der Kulturhauptstadt Chemnitz zusammen.
Direktor Löffler kehrte mit einem Vergleich dann auch bald zum Hauptthema des Abends im Saal der Landeszentrale zurück. Auch in einer Ehe sei nach 35 Jahren, also zwischen silberner und goldener Hochzeit, nicht mehr alles frisch. Aber sie halte!
Geliefert wie bestellt?
Der Abend mit dem Untertitel „Vom Werden und Wachsen einer demokratischen Gesellschaft“ schlug einen Bogen von den Protesten gegen die Herrschaft der morbiden SED 1989 über das Vereinigungsjahr 1990 bis zu Analysen des deutsch-deutschen Befindens heute. Schon die kritisch formulierte Einladung ließ ahnen, dass dies aber kein Feiertagspodium als Einstimmung auf einen anschließenden Sektempfang werden würde. „Geliefert wie bestellt?“ fragte der Haupttitel. Formulierungen von einem „bisweilen fast überstürzt anmutenden Prozess“ und einer „Wohlstandserwartung“ neben dem Freiheitswillen passen auch im Jahr 35 neuer deutscher Zeitrechnung noch nicht so recht ins Master Narrative. Ein Buffet mit Wein und Schnittchen bot die ebenfalls Geburtstag feiernde Landeszentrale im Foyer trotzdem.
Markus Meckel als Aktiver und Kritiker des Vereinigungsprozesses
Angesichts der Ambivalenzen und Widersprüche bei der späteren Bewertung der entscheidenden Umbruchsphase erwies es sich als ein guter Griff, mit Markus Meckel den letzten Außenminister der DDR einzuladen. 1952 geboren, darf der Theologe und Pastor uneingeschränkt der DDR-Opposition zugerechnet werden, gründete mit seinem Freund Martin Gutzeit am 40. „Republikgeburtstag“ 7. Oktober 1989 die sozialdemokratische Partei SDP. Zeitzeugen wissen, wie wenig ernst man ihn und andere überzeugungsgeleitete Idealisten im Westen und bei den 2+4-Verhandlungen zur Zukunft Deutschlands nahm.

Meckel sprach in seinem Eingangsstatement sehr persönlich und verbarg seine widersprüchlichen Wahrnehmungen nicht. „Ich treffe eine Menge Menschen, die nicht gerade in Freudenschreie ausbrechen“, beschrieb er seine heutigen Eindrücke. Und doch bleiben für ihn die Jahre 1989/90 eine „Sternstunde der Geschichte“, in der sein unerfüllbar scheinender Wunsch nach dem Leben in einer Demokratie in Erfüllung ging. Trotz der immer lauter werdenden Rufe nach schneller und bedingungsloser Vereinigung beider deutscher Staaten, trotz der Missachtung durch die DDR-Bevölkerung verteidigt Markus Meckel bis heute das Prinzip der Selbstdemokratisierung der DDR-Diktatur, um auf Augenhöhe und als Subjekt mit der Bundesrepublik verhandeln zu können. Zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März stimmten nur noch 2,9 Prozent für die im Bündnis 90 vereinigten Bürgerrechtler. Eine Tatsache, die in allen Feiertags-Lobreden auf die friedlichen Revolutionäre des Herbstes 1989 beharrlich unterschlagen wird.
„Wir sind die Erfinder des Einigungsvertrages!"
Ja, die deutsche Einheit kam, weil wir es wollten, bestätigt Meckel heute. Aber der damalige Kanzler der Bundesrepublik Helmut Kohl „hat seine Zeichnung in den Köpfen verankert“. Meckel fordert deshalb ein anderes Narrativ. „Wir sind überhaupt nicht respektvoll behandelt worden!“ Noch heute frage ihn ein westdeutscher Student, wie es damals gewesen sei, „als die DDR zu Deutschland kam“. Im Podium bekräftigte er später, dass für ihn nur ein selbstbestimmter demokratischer Weg zur unvermeidlichen Einheit infrage kam. Für Helmut Kohl und die Bundesrepublik offenbar keine Selbstverständlichkeit. „Wir sind die Erfinder des Einigungsvertrages – daran hatten die gar nicht gedacht!“
Er bezeichnet es deshalb als „Katastrophe“, dass kein einziges Buch die ziemlich einseitigen Verhandlungsprozesse damals nachzeichnet. Sorge schwang abschließend bei dem nur wenige Monate amtierenden ehemaligen Außenminister mit, als er mahnte: „Wir brauchen Selbstbewusstsein, auch, um die damals erkämpfte Demokratie zu verteidigen.“
Endlich Demokratie, aber nicht unbedingt gleich der Beitritt
Nach der Öffnung der Diskussion ins Publikum brachte ein aus Westdeutschland stammender Gast ebenso unverblümt und ehrlich deren Perspektive ein. „Der Westen war stolz auf sein Grundgesetz und die Entwicklung der Bundesrepublik. Er hatte 1990 auch etwas zu verlieren!“ Das daraus folgende Eingeständnis sprach dann aber niemand mehr aus: Die auf einen schnellen Beitritt drängenden Ostdeutschen haben auch den Westen verunsichert.

Zunächst aber bekam Markus Meckel Unterstützung im Podium vom ZDF-Journalisten Thomas Bärsch. Anschaulich schilderte er seinen inneren Zwiespalt 1989. Er wollte als junger Mann weg aus der DDR, trampte auch im Sommer nach Ungarn, landete über dessen halboffene Grenzen in Wien und schließlich in Bremen. Aber er wollte trotz guten Starts dort seine Heimat nicht verlieren. Der Gedanke „Der Westen macht weiter und die DDR kommt dazu“ behagte ihm auch nicht.
Überraschend deutlich grenzte sich die sächsische SED-Opferbeauftragte Nancy Aris vom herrschenden Master Narrative ab. Sie hatte zuvor schon viele Jahre in der Behörde gearbeitet, die zunächst für den Umgang mit Stasi-Unterlagen zuständig war. Aris teilte nicht einmal Markus Meckels noch bis ins Frühjahr 1990 anhaltende Euphorie. Bis zum Mauerfall ja, „elektrisierend“ sei das gewesen, aber mit dem Wahlsieg der Allianz für Deutschland aus CDU und DSU am 18. März konnte sie sich nicht mehr identifizieren. „Erst einmal selbst das Land verändern statt zu schnelle Weichenstellung!“ Den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bezeichnete sie als arrogant. Er habe nicht auf Augenhöhe diskutiert. „Man muss sich nicht wundern, dass Menschen das heute nicht als ihre Einheit ansehen“. Auf den Einwand von Moderator Roland Löffler, es habe sich doch um ein legitimes übliches Verfahren gehandelt, antwortete Nancy Aris mit einem Vergleich zu heute. Eine Elitetruppe habe damals verhandelt, wenn auch unter dem Druck eines Großteils der DDR-Bevölkerung. Bedenken und Einwände hätten keine Chance gehabt.

Ein nachgeborener erst Zwanzigjähriger relativierte den kritischen Rückblick und stützte doch unbeabsichtigt manche Thesen. Laurenz Frenzel ist Vorsitzender der Jungen Liberalen in Leipzig, engagiert sich ehrenamtlich und gewann einen Preis im Wettbewerb „Jugend debattiert“. Ja, Markus Meckels Erzählungen und der gewaltfreie Umsturz in der DDR spielten im Schulunterricht praktisch keine Rolle. Nach seinen Zugehörigkeitsgefühlen gefragt, beschrieb Frenzel einen wohl typischen Mix dieser Generation. Gefühlter Sachse, Deutscher, Europäer, Ostdeutscher jedoch eher durch die Zuschreibungen anderer. „Ich kann eine ostdeutsche Identität nicht klar abgrenzen, aber im Ausland fühle ich mich spontan mit Ostdeutschland verbunden.“
Umso klarer grenzen offenbar Medien ab. Mit dem Aufkommen von AfD und Pegida habe der Osten überproportionale Programmanteile beim ZDF erhalten, berichtet Thomas Bärsch. Und erklärt den Bedarf an Ost-Erklärungen mit der Ahnung, dass hier die Vorläufer auch für Prozesse im Westen wachsen, etwa beim Rechtsextremismus. Eine Schieflage in der Wahrnehmung aber bestätigt auch der Journalist. „Ein Bericht über den Einheitstag ist immer ein Bericht über das Beitrittsgebiet, das Hinzugekommene, der Westen setzt immer den Maßstab.“
Lebenswerter Osten, aber ein unberechenbares Volk
Aber läuft nicht auch einiges im Osten besser, wollte Moderator Löffler wissen? Und gab selbst einige Stichworte vor: Frauenerwerbstätigkeit, Kinderbetreuung, Kultur. Der junge Laurenz Frenzel fügte dem noch Vorzüge für Studierende hinzu, bezahlbare Wohnungen, aber auch lebenswerte Kleinstädte. „Warum fragen Westdeutsche immer nach Nazis, gerade wenn die Zivilgesellschaft funktioniert wie in diesem Chemnitzer Kulturhauptstadtjahr?“ Am Schluss plädierte der Student für Interesse und Verstehenwollen statt pauschaler Narrative.

Stimmen aus dem Publikum bedauerten auch, dass Altkanzler Willy Brandt mit seiner Prognose nicht recht behielt, jetzt wachse zusammen, was zusammengehört. Ein relevantes Thema ist weiterhin die schwindende Akzeptanz von Parteien, ausgenommen die AfD. Warum trauen ihr so viele Bürger mehr zu als den etablierten Parteien? Die Erinnerung an 1989 sei heute wichtig für die Motivation, Demokratie selbst zu gestalten, an die Veränderbarkeit von erstarrten Zuständen zu glauben, meinte eine 61-Jährige.
Ein Rentner warf eine im demokratietheoretisch-historischen Diskurs viel zu wenig beachtete ketzerische Frage auf, nämlich die nach der Rolle des „Volkes“, seiner Verführbarkeit und seinen Irrtümern. „Ohne Volk wären 40 Jahre DDR nicht möglich gewesen!“ Andere Völker hätten später den Brexit oder Donald Trump gewählt. „Wir sollten alle nach Hause in die Familien und in die Arbeitskollektive gehen und geraderücken, was Populisten darstellen!“
Auf Irrtümer der „Wir sind das Volk“-Rufer von 89/90 hatte zuvor ja auch schon die SED-Opferbeauftragte Nancy Aris zumindest angespielt. Im Schlusswort wünschte sie sich eine „Graswurzelbewegung des gegenseitigen Kennenlernens“. Und sie wolle sich hier nicht immer wie eine Zoobewohnerin fühlen. „Wie der Westdeutsche tickt, fragt niemand!“ Der Schlusswunsch des einstigen Wehrdienst-Totalverweigerers Markus Meckel überraschte. „Die Ukraine sollte den Krieg gewinnen und Deutschland einen wesentlichen Anteil daran haben.“ Dafür gab es den stärksten Beifall des Abends.