Warme Mädchenfreundschaft im Kalten Krieg

Eine Begegnung der Landeszentralen von Baden-Württemberg und Sachsen in Chemnitz wird flankiert von einer deutsch-deutschen „Erlebnislesung“

 

„Omnia vincit amor!“ Dieser lateinische Spruch Vergils von der alles überwindenden Liebe hätte über einem Lese-und Liederabend im Chemnitzer Soziokulturellen Zentrum „Subbotnik“ stehen können. Aus einem Zufallskontakt wächst eine berührende Mädchenfreundschaft und trägt über deutsch-deutsche Grenzen und Jahrzehnte hinweg. Fürwahr eine passende Geschichte am Vorabend des 3. Oktober.

Dem Zufall half die damals sechsjährige Stefanie aus Heidelberg allerdings etwas nach. Einen quietschgelben gasgefüllten Luftballon wollte sie unbedingt haben und schickte ihn am 20. März 1977 auf eine Reise ins Unbekannte, versehen mit ihrer Anschrift. Die daraus erwachsende herzerwärmende Erzählung würde der deutsche Bürokratismus heute wahrscheinlich verhindern, denn in vielen Fällen braucht man für einen Ballonaufstieg eine Genehmigung zur Luftraum-Sondernutzung.

Beginn einer deutsch-deutsche Brieffreundschaft

Es klingt nach einem erfundenen Filmdrehbuch, aber nach drei Tagen landete der Ballon mit seiner Adresskarte tatsächlich und wurde gefunden, und zwar weit hinter dem Eisernen Vorhang auf dem Acker einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft LPG der DDR. Denschütz heißt das winzige Dorf bei Lommatzsch und Meißen. Ein Opa brachte den geheimnisvollen Boten der fernen weiten Welt seiner Enkelin Anke, ebenfalls sechs Jahre jung. Dank beider Mütter, die zunächst die Post für ihre gerade erst schulpflichtigen Töchter verfassten, entspann sich so eine stabile deutsch-deutsche Brieffreundschaft.

Deren Zustandekommen ist eine hübsche Anekdote, mit Flaschenpost-Abenteuern vergleichbar. Außergewöhnlich aber ist aus Ost-Perspektive Post von Kindern und Schülern auch an unbekannte Partner in Ländern des bösen Klassenfeindes nicht. Im frühen Englischunterricht wurde beispielsweise auch der briefliche Austausch mit Schülern auf der britischen Insel durch die Schule vermittelt – ähnlich wie der übliche mit Kindern in der Sowjetunion.

Wie sich der Austausch zwischen Stefanie und Anke unter deutsch-deutschen nachbarschaftlichen wie feindlichen Aspekten entwickelte, beschreibt Autorin Stefanie Wally im Buch „Akte Luftballon“. Sie tourt mit „Erlebnislesungen“ damit eben auch bis nach Chemnitz, am Klavier begleitet und unterstützt von Paul Taube, einem geborenen Greifswalder.

Pädagogische Herausforderung: deutsch-deutsche Geschichte

Der Chemnitzer Anlass am Vorabend des Tages der deutschen Einheit ist freilich ein besonderer. In den vergangenen Jahren haben die Landeszentralen für Politische Bildung in Baden-Württemberg und Sachsen ihre Verbindungen und ihren Austausch wiederbelebt, berichtet die für diese Chemnitzer Begegnung verantwortliche Heike Nothnagel. Man könnte darin auch eine Reminiszenz an das Jahr 1990 sehen. Denn die Stuttgarter Zentrale stand Pate beim Aufbau der sächsischen, die quasi als Außenstelle der Baden-Württembergischen in Dresden gegründet wurde.

Geplant war zum 35. Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik anfangs ein gemeinsamer Schülerwettbewerb, verrät Heike Nothnagel. Aber dieses Mittel ist nicht mehr besonders originell, und vor allem besteht große Unsicherheit, wie die Vorgeschichte und die ambivalenten Folgen der staatlichen Einheit den heutigen Heranwachsenden pädagogisch zu vermitteln sind. Darüber wollte man sich erst einmal deutsch-deutsch verständigen. In Stuttgart hatte man schon mit Stefanie Wally zusammengearbeitet, lud sie nach Chemnitz ein. Ihre Performance gestaltete nun den Einstieg in einen dreitägigen Austausch im Projektbüro der Landeszentrale am „Nischel“ und im urig-anarchistischen Chemnitzer „Subbotnik“. Das Soziokulturelle Zentrum steht beispielhaft für ein in Chemnitz häufiger anzutreffendes Milieu, mit dem die Kulturhauptstadt aber bislang auch „the unseen“ war, wie es im Slogan für dieses Kulturjahr heißt. Im Publikum saßen folglich überwiegend Lehrkräfte, elf aus Baden-Württemberg, drei aus Sachsen.

Was als „Brief aus einem fremden Land“ in der Geschichte begann, setzte sich zwischen den beiden Mädchen schon fast ritualisiert fort. Dreimal im Jahr, zum Geburtstag, zu Weihnachten und im Urlaub. Seitens Ankes durchsetzt von Schilderungen „aus einem fremden Land“, die die verschiedenen Lebenswelten offenbaren. Konsum und Intershop für den Kontrasteinkauf, mutmaßliche Postöffnungen durch die Stasi, oder dass man in der DDR kein Mickey-Mouse-T-Shirt tragen durfte. Westpakete, in die keine Bücher oder Schallplatten gepackt werden durften, östlicher Dank dafür mit Stollen und Erzgebirgsschnitzereien.

„Wir waren Freundinnen, Seelenverwandte“

Auch die Eltern schreiben schließlich, Ankes Eltern laden sogar zur Konfirmation in die Lommatzscher Pflege ein. Doch Stefanies Mutter darf als Sekretärin des Bürgermeisters nicht in die DDR einreisen, ihr ultrakonservativer Vater will nicht. Später geht es um existenzielle Laufbahnfragen. Für ein gehobenes Gastronomiestudium hätte Anke in die Einheitspartei SED eintreten müssen, wie es zumindest für Führungskräfte der besseren Hotels mit westlichen Gästen in der DDR unabdingbar war.

Nach elf Jahren Wartezeit wird dann noch vor dem Mauerfall eine erste persönliche Begegnung möglich. Stefanies Schulklasse fährt zum Schuljahresabschluss nach Berlin, für einen Tag sogar am 22. Juni 1988 nach Ostberlin. Beide Mädchen erscheinen nicht als renitente Typen, sprechen eher über typische Themen Siebzehnjähriger. „Wir waren Freundinnen, Seelenverwandte“, konstatierten sie danach. Im Herbst 1988, also in der Gorbatschow-Ära, kann Stefanie Anke sogar zu Hause besuchen, vor allem Schloss Moritzburg, denn den dort gedrehten Kultfilm „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ kannte man auch im Westen.

Solidarität nicht für Andersdenkende

Lange erscheint die Mädchenfreundschaft anrührend offen und ehrlich und nur gestreift von den Auswirkungen des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz. Als gereifte Frau hält sich die Autorin rückblickend im Gespräch zwar für ein “politisiertes Mädchen“. Immerhin trat sie den Jusos bei. Am Buch aber fällt auf, dass ausschließlich die DDR als Problemland erscheint, aus der unbefangenen Sicht eines heranwachsenden Mädchens logischerweise als Verursacherin erzwungener unnatürlicher Distanz. Nicht ansatzweise hinterfragt Stefanie Verhältnisse in ihrer angestammten Bundesrepublik, die aber auch nicht penetrant verklärt oder als das bessere Deutschland dargestellt wird.

Umso stärker wirken gegen Ende die vorgetragenen Passagen von „Wut und Frustration“, die Stefanie nach Ankes verhindertem Studium befielen. Sogar ihre Westkontakte hätte die Freundin abbrechen müssten. Der real existierende Sozialismus sei eben nicht so frei wie behauptet oder sogar von ihr angenommen, empört sich Stefanie nun, die von ihren DDR-Reisen Marx und Engels und das Programm der SED mitbrachte. Solidarität gelte offenbar nicht für Andersdenkende. Für Freundin Anke schmiedete sie schon „naive“ Fluchtpläne aus der DDR, die sich 1989 erledigten. Eine tiefe Enttäuschung für einen erwachenden kritischen Geist, der nunmehr auch hinter die eigenen gewohnten Verhältnisse blickt: „Bei uns zu Hause werden nur die Ellenbogen ausgefahren!“

"Hinterm Horizont geht´s weiter"

Das trägt Stefanie Wally ohne Attitüden eher schlicht vor, und manchmal singt sie auch gemeinsam mit Pianist Paul Taube. „Über sieben Brücken musst Du geh´n“ in den Versionen von Karat und Peter Maffay sogar als deutsch-deutsches Duett. Taube biedert sich mit zahlreichen Anklängen an niveauvollen DDR-Pop nicht an, knallt dann aber auch das unsägliche „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ von Louis Fürnberg dagegen. Alle finden sich wieder bei Karussell „Als ich fortging“ oder bei „The Wall“ von Pink Floyd. Und alle singen am Schluss bei Udo Lindenbergs „Hinterm Horizont geht´s weiter“ mit.

Es wirkt folgerichtig nach einem Schlussappell, ja einer kleinen Predigt am Ende einer „Lesung im Zeichen von Respekt und Menschlichkeit“, so die Autorin. Sie plädiert für Zuversicht und Zivilcourage und für eine Freiheit, für die man jeden Tag auf- und einstehen müsse. „Wir leben in einem großartigen Land, dass wir nicht wieder Hass und Hetze opfern dürfen!“ Und nationalstaatlichem Kleingeist.

Woraufhin Pianist Paul Taube sowohl die Haydn-Melodie des „Liedes der Deutschen“ als auch Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude anstimmt. Noch tiefer saß die Pointe eines liebenswürdigen und charmanten Grußvideos, das die Ko-Heldin der Mädchengeschichte Anke selber aufgenommen hatte. Eine passendere Einstimmung auf ihre Wochenendbegegnung konnten sich Lehrerinnen und Lehrer aus BaWü und Sachsen und die Landeszentralen kaum wünschen.