Ist die EU nah dran an 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern?

Anlässlich des 30. Jahrestags des Vertrags von Maastricht geht es bei einer Online-Debatte um die Frage: Hat die EU ein Demokratie-Problem? Der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger verteidigt die Vorteile der EU und schildert seinen Blick auf Probleme.

Die Europäische Union vereint 27 Mitgliedsstaaten, die Gemeinsamkeiten haben und Differenzen, die austariert werden müssen. Die EU fungiert als Dach für 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Der Vertrag von Maastricht sollte 1992 eine Union begründen, in der Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden. Kann das bei so einer schieren Menge an unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen gelingen? Die demokratischen Prinzipien wurden im Laufe der Jahre ausgebaut. Doch reicht das aus? Oder ist etwas dran am Vorwurf, der immer wieder zu hören ist, der EU mangele es an demokratischer Legitimität?

Genau 30 Jahre nach Vertragsunterschrift

Anlässlich des 30. Jahrestags der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags soll über die Zukunft Europas diskutiert werden. Bei einer Reihe, die gemeinsam veranstaltet wird von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Politischen Bildungsforum Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Zentrum für Internationale Studien und dem Institut für Internationales Recht, Geistiges Eigentum und Technikrecht der TU Dresden. Am 7. Februar – genau 30 Jahre nach der historischen Vertragsunterschrift - war Günther Oettinger, ehemaliger Vizepräsident und Mitglied der Europäischen Kommission, zur Online-Diskussion geladen. Unter dem Motto: „Diktat aus Brüssel – Hat die EU ein Demokratieproblem?“

Das sei „provokant getitelt“, gibt Moderator Dominik Steiger zu. Ein rhetorischer Verweis auf den Einfluss von Populisten, die teils fundamentale Kritik an der EU äußern. Worüber sollte gerungen werden, fragt Steiger. Etwa über Fragen wie: „Wo bleiben die Stimmen der Bürger?“ oder „Haben die Deutschen zu wenig Einfluss in der EU?“. Und was hilft, um Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen? 

"Es gibt kein Diktat aus Brüssel"

Den zugespitzten Titel weist Günther Oettinger zu Beginn sogleich von sich. „Freunde, schminkt euch diesen blödsinnigen Gedanken ab“, sagt er. „Es gibt kein Diktat aus Brüssel, es gibt Entscheidungen aus Brüssel.“ Die Europäische Union sei „nicht perfekt, aber ganz klar demokratisch“. Von Oettinger ist ein leidenschaftliches Plädoyer zu hören, zur EU und deren Parlament, in dem er lange gearbeitet hat. Er verweist auf Beispiele wie Malta und Deutschland – auf einen der kleinsten Mitgliedsstaaten und einen der größten. Beide sind bei Entscheidungen beteiligt, zwar mit unterschiedlichen Stimmgewichten, aber die Anzahl der EU-Abgeordneten ist nicht direkt proportional zur Bevölkerungsgröße eines Landes. „Das ist das Prinzip Europas, dass auch die Kleinen am Tisch vertreten sind“, sagt Oettinger. Was das Personal angeht, sei das EU-Parlament „relativ schlank unterwegs“, im Gegensatz zum Parlament in Berlin, wo es „immer mehr Staatssekretäre“ gäbe.

Ein stetiger Anlass für Diskussionen ist das Prinzip der Einstimmigkeit bei einigen EU-Abstimmungen. Ist das angemessen oder sollte es Reformen geben? „Es gibt nur noch wenige Themenbereiche, wo die Einstimmigkeit Grundlage ist, etwa die Steuer- und Haushaltspolitik.“ Oettinger glaubt, dass es in einigen Bereichen Veränderungen hin zu Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip geben wird. „Ich glaube, dass es in der Außenpolitik kommen wird“, sagt er. „Ich glaube eher nicht bei der Steuerpolitik.“

Schwierigkeiten mit der Einstimmigkeit

Dazu gibt es auch Fragen von Zuschauern, die per Chat und Video an der Debatte teilnehmen können. „Für mich ist die EU etwas ganz Wichtiges und ich bin froh, dass es bei allen Holprigkeiten funktioniert“, sagt eine Frau. „Zugleich habe ich mit der Einstimmigkeit schon Schwierigkeiten.“ Sie will wissen, wann über Änderungen der Regularien diskutiert und entschieden wird. „Ich glaube, dass der Rat der Außenminister seine Bereitschaft in den nächsten ein, zwei Jahren äußern wird“, sagt Oettinger.

Noch ein Detail, eine Alltagsfrage beschäftigt die Zuschauerin. Was ist mit der Sommer- und Winterzeit? Ist denn bei diesem Thema mit Änderungen durch die EU zu rechnen? Oettinger verneint, er glaubt nicht, dass die EU bei der Zeitumstellung eingreift und ändert. „Das ist ein emotionales Thema in Deutschland, aber ich denke, es bleibt alles, wie es ist.“

Ein Zuschauer fragt: „Was ist Ihre Vision von Europa als ideale Demokratie? Und wie würden sich die Bürger darin verhalten?“ Oettinger wünscht sich mehr Fokus auf die EU, intensivere Erläuterungen, auch mehr Berichterstattung in Medien, zum Geschehen in Brüssel. Bürger müssten mehr wahrnehmen, dass sie drei Hauptstädte haben – ihre Landeshauptstadt, Berlin und Brüssel. Er wirbt für Besuche am EU-Sitz. „Es lohnt sich, die Abgeordneten haben Interesse am direkten Dialog mit dem Bürger“, sagt er. Das Parlament sei „keine Raumstation, es ist erreichbar und durchaus transparent“.

Nationalstaaten sind keine Option

Auch Zuschauer fragen nach Skepsis gegenüber der EU. Einige wollen wissen: Woher kommt diese? Oettinger zählt verschiedene Gründe auf. Es gäbe eben auch Gegensätze in der EU, „viele Sprachen, zig Kriegsgeschichten“. Kulturelle Prägungen seien unterschiedlich, auch Einkommen und soziale Bedingungen. Doch Oettinger gehört zu den vehementen Verteidigern der EU und ihrer Vorteile. „Dass wir im Parlament streiten und nicht im Krieg, ist ein Fortschritt.“ Als Nationalstaaten zu agieren, sei keine Option in der heutigen Zeit. Wenn Europäer keine gemeinsame Stimme hätten, würden andere Mächte, etwa in Peking oder in Washington, stärker global entscheiden.

Wäre mehr direkte Demokratie auf EU-Ebene eine Option, die er sich wünschen würde? Günther Oettinger verneint, davon ist er kein Fan. „Ich bin ein überzeugter Vertreter der repräsentativen Demokratie.“ Demokratie sei komplex, es brauche „Profis im Parlament und im Rat“. Voraussetzung sei, dass die Abgeordneten Interesse am Bürgergespräch haben, um Nöte und Probleme herauszufinden. „Wenn dies so ist, und die Mehrzahl der Abgeordneten hat Nähe zum Bürger, dann ist die repräsentative Demokratie der direkten vorzuziehen.“

Um die Zukunft der EU mache er sich keine großen Sorgen, sagt Günther Oettinger zum Abschluss. Vor allem, weil der europäische Gedanke mittlerweile in der Jugend verankert sei. „Unsere Kinder sind die Erasmus-Generation. Sie sind längst grenzüberschreitend unterwegs. Europa, die Freizügigkeit, wird viel mehr wahrgenommen als in meiner Generation“, sagt er. „Da ist mir nicht bange.“

Mitschnitt der Veranstaltung verfügbar auf YouTube

Informationen zur Reihe "Welche Zukunft hat Europa? Gespräche zu 30 Jahren Europäische Union"

Nächste Veranstaltung: "30 Jahre Unionsbürgerschaft – Sind wir seit Maastricht alle Europäer?" am 5. April 2022 mit Vasilios Skouris, Präsident des Europäischen Gerichtshofs a.D.