Zwischen Rechtsstaat und Realität: Migrationsdebatte im Völkerschlachtdenkmal

Gibt es ein Problem im Stadtbild – und welche Lehren lassen sich aus der bisherigen Migrationspolitik ziehen? Über diese Fragen diskutierten im Leipziger Völkerschlachtdenkmal im Rahmen des Festivals Politik im Freien Theater zum Leitthema „Grenzen“ Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU), Migrationsanwältin Berenice Böhlo, Rechtsprofessor Winfried Kluth und der Europa-Experte Elie Cavigneaux. Moderiert wurde das Gespräch von Ine Dippmann (MDR). Die Veranstaltung war eine Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Völkerschlachtdenkmal Leipzig.

 

„Ich wundere mich ein bisschen über die Verwunderung“, sagte Armin Schuster (CDU) gleich zu Beginn. Würde er das Lagebild zeigen, das jeden Morgen auf seinem Schreibtisch liege, „würde jeder verstehen, was Bundeskanzler Friedrich Merz gemeint hat“, war sich der sächsische Innenminister in Anspielung auf Merz’ viel diskutierte Aussage über ein „Problem im Stadtbild“ sicher.

Mitte Oktober hatte CDU-Chef Merz erklärt, dass die Migrationszahlen zwar sinken, es aber „natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“ gebe. Daher sei der Bundesinnenminister dabei, in großem Umfang Rückführungen durchzuführen. Kritiker warfen Merz daraufhin Rassismus vor, der Koalitionspartner SPD sprach von Populismus – andere wiederum stimmten Merz zu.

Auch Schuster teilte diese Einschätzung. Bei der Podiumsdiskussion sprach er von Kriminalitätsschwerpunkten in sächsischen Städten sowie von Problemen mit Gewalt und Drogen in den Innenstädten. Er stellte dabei einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migrationspolitik her: „Ein Prozent der in Sachsen zugewanderten Flüchtlinge sind Mehrfach- und Intensivstraftäter. Diese kommen meistens aus Syrien und Afghanistan und begehen 50 Prozent der Straftaten dieser Gruppe.“ Würde man diese Personen abschieben, „würde sich die gesamte Debatte beruhigen“, sagte Schuster.

Kontroverse um Abschiebungen und Rechtsschutz

Abschiebeflüge mit Straftätern zu besetzen, deren Asylanträge endgültig abgelehnt seien, sei an sich kein Problem, erklärte Schuster. „Aber dann kommt der 18. Asylfolgeantrag, bevor er auf die Gangway geht. Da beschreibe ich lieber nicht, was da in mir los ist.“

Damit bezog er sich auf einen Abschiebeflug nach Afghanistan im Juli 2025, der ohne drei ausreisepflichtige Asylbewerber aus Sachsen gestartet war. Damals hatte Schuster im MDR-Interview von einem „Missbrauch von Asylfolgeanträgen” gesprochen, um Abschiebungen zu verhindern.

Migrationsanwältin Berenice Böhlo widersprach dieser Darstellung entschieden. Folgeanträge könnten „innerhalb von fünf Minuten“ abgelehnt werden, wenn keine Gründe vorlägen, und verhinderten eine Abschiebung nicht, wenn diese rechtmäßig sei. Die Wahrnehmung verbriefter Rechte könne keinen Missbrauch darstellen, betonte sie.

Abschiebungen nach Afghanistan sind generell hoch umstritten. Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 werden Frauen und ethnische Minderheiten systematisch unterdrückt; Rückkehrern drohen Folter und Gewalt. In diesem Punkt widersprach auch Rechtsprofessor Winfried Kluth, Vorsitzender des Sachverständigenrates Migration und Integration: „Kooperationen mit den Taliban widersprechen allen Grundsätzen der deutschen Politik“, sagte er.

Migration – Chance oder Überforderung?

Neben Abschiebungen diskutierte das Podium auch über die Zuwanderung nach Deutschland und Europa. Böhlo plädierte dafür, Migration nicht als Problem zu betrachten. Deutschland sei auf Zuwanderung in den Arbeitsmarkt angewiesen: „Mein Vater hat Parkinson. Von seinen vier Pflegekräften haben drei keinen gesicherten Aufenthaltsstatus“, sagte sie. Schutzsuchende bräuchten eine Perspektive. „Die Syrer, die nach 2015 kamen, haben nach drei Monaten Deutsch gesprochen, weil sie wussten, dass sie bleiben dürfen.“

Schuster hingegen sprach von einer „totalen Überforderung des deutschen Integrationssystems“. Dass Deutschland „so schlecht dastehe“, liege an „Millionenzugängen“, die das System überlasteten. Man könne jährlich vielleicht 150.000 Menschen aufnehmen, aber nicht über eine Million – wie nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Beide Sichtweisen spiegeln wider, wie polarisiert die deutsche Debatte über die Migrationspolitik ist. Auch in Frankreich sei Migration ein wichtiges Thema, sagte der französische Diplomat Elie Cavigneaux, der derzeit als Gastwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin arbeitet. „In Frankreich ist die Debatte über Migration aber nicht so prägend wie in Deutschland.“ Am Ende, betonte er, sei es jedoch ein gemeinsames europäisches Thema.

Ein neues europäisches Asylsystem

Das Festivalthema „Grenzen“ spielte in der Diskussion eine zentrale Rolle. Der Direktor der Stiftung Völkerschlachtdenkmal Leipzig, Dr. Anselm Hartinger, verwies in seinen einleitenden Worten darauf, dass bereits das Gebäude als Denkmal für den historischen Sieg über Napoleons Frankreich ein Symbol für Grenzziehung sei. Heute versuche die Stiftung, aus einem Ort kriegerischer Auseinandersetzung einen Ort des Friedens und des Dialogs zu machen. Grenzen, Grenzregime sowie die aktuellen Grenzkontrollen des Bundes und des Freistaates Sachsen waren daher ebenfalls Thema der Diskussion. Während Schuster die Grenzkontrollen verteidigte und Unterstützung von Cavigneaux erhielt, äußerten Böhlo und Kluth rechtliche Bedenken. Genau in diesem Spannungsfeld zwischen europäischer Solidarität und innerer Sicherheit bewegte sich die Diskussion über Migration und Asylpolitik.

Auf europäischer Ebene ist zuletzt Bewegung in die gemeinsame Migrationspolitik gekommen. Mitte des kommenden Jahres tritt das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) in Kraft. Es modifiziert das bisherige Dublin-System, dessen „Dysfunktionalität“ sowohl Innenminister Schuster als auch Rechtswissenschaftler Kluth als zentrale Ursache der Überforderung Deutschlands bezeichneten.

Die Dublin-Verordnung legt fest, dass jener EU-Staat für Schutzsuchende zuständig ist, in dem diese erstmals europäischen Boden betreten. Dadurch tragen vor allem die Mittelmeeranrainer Griechenland, Italien und Spanien die Hauptlast. Viele Schutzsuchende ziehen jedoch weiter nach Mitteleuropa – etwa nach Deutschland. Deutschland könnte Asylsuchende eigentlich in die zuständigen Staaten zurückführen. Doch oft scheitern diese Rückführungen innerhalb Europas: So weigert sich beispielsweise Italien, Asylsuchende zurückzunehmen. Läuft die Frist ab, wird schließlich das Land zuständig, in das der Asylsuchende weitergezogen ist.

GEAS soll das ändern. Künftig müssen sich alle EU-Staaten an einem Solidaritätsmechanismus beteiligen, der festlegt, wie viele Schutzsuchende jedes Land aufnehmen muss – oder alternativ in welcher Höhe eine Ausgleichszahlung für jeden nicht aufgenommenen Schutzsuchenden zu leisten ist. Trotz bestehender Kritik zeigte sich Schuster zufrieden mit der Reform: „Die Tür ist jetzt offen. Wir haben erstmals einen gemeinsamen Schritt gemacht.“

Auch Rechtswissenschaftler Kluth betonte, wie wichtig es sei, dass Europa wieder zu einem Miteinander statt zu einem Gegeneinander gefunden habe. Die bisherige Belastung und die vorhandenen Aufnahmekapazitäten spielten bei der Verteilung im neuen europäischen Asylsystem eine zentrale Rolle, erklärte er. „Fluchtmigration bleibt aber schwer zu steuern“, so Kluth. Wann und wo etwa Kriege Migrationsbewegungen auslösen, sei unvorhersehbar.

Böhlo zeigte sich dagegen skeptisch, ob das neue europäische Asylsystem am Ende nicht mit denselben Problemen wie das Dublin-System behaftet bleibe. Ob in Ungarn, Polen oder den Niederlanden — „Wir erleben aktuell eine Renationalisierung der Asylpolitik“, sagte sie.