Wer hat Angst vorm Bürgerdialog?

Die Tagung „Mit dem Bürger fürs Gemeinwohl? – Kommunale Dialoge in Zeiten von Krisen und Umbrüchen gestalten“ präsentierte Forschungsergebnisse des Projekts „Krisen-Dialog-Zukunft“.

In unserer an öffentlichem Streit reichen Zeit scheint allein über eine Tatsache Einigkeit zu herrschen: dass in den vergangenen Jahren sehr, sehr viel gestritten wurde. Und das öffentlich und häufig laut und wenig freundlich im Ton. Öffentlicher Streit gehört unbedingt zu einer lebendigen Demokratie, doch scheinen die Positionen der Beteiligten immer häufiger immer unversöhnlicher zu sein.

Wie lassen sich die in einer Demokratie unbestritten notwendigen öffentlichen Debatten organisieren, wie bleiben sie konstruktiv? Wie kann es gelingen, in konfliktbehafteten Situationen Polarisierungen zu vermeiden bzw. unüberwindbar erscheinende Positionen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen? Das Forschungsprojekt Krisen-Dialog-Zukunft, kurz KDZ, hat sich in den vergangenen drei Jahren mit diesen spannenden Fragen auseinandergesetzt, es ist die erste systematische Wirkungsforschung zu Konfliktdialogen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Professur für Politische Systeme und Systemvergleich der TU Dresden und des Fachbereichs Sozialwesen der FH Münster kooperierten dafür mit Akteuren, die den gesellschaftlichen Dialog mitorganisieren: der Aktion Zivilcourage e.V. und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

Auf der Tagung „Mit dem Bürger fürs Gemeinwohl – Kommunale Dialoge in Zeiten von Krisen und Umbrüchen gestalten“ am 11. September 2020 stellten die Wissenschaftler der TU Dresden zum einen ihre Forschungsergebnisse zur Rolle von Bürgerdialogen in Konfliktsituationen vor, zum anderen luden sie zu einer Diskussion darüber ein, wie Bürgerbeteiligung zum Erfolg werden kann.

…oder anders gefragt: Bringt das überhaupt was?

Das KDZ-Team um Dr. Cathleen Bochmann begleitete im Projektzeitraum ausgewählte Dialogveranstaltungen und befragte sächsische Städte und Gemeinden nach ihren Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen. Dabei ging es um drei zentrale Fragen: Welche Wirkung entfalten Dialogformate in kommunalen und regionalen Konflikten; oder anders gefragt: Bringen diese Bürgerdialoge überhaupt was und wenn ja, was denn? Wovon hängt der Erfolg dieser Formate ab? Wie lassen sich kommunale Akteure befähigen, Dialogprozesse professionell zu gestalten und kultivierten öffentlichen Streit zu pflegen?

Im November/Dezember 2018 befragte das KDZ-Team sächsische Gemeindeverwaltungen postalisch zu ihren Erfahrungen mit Bürgerversammlungen und anderen Formen des Bürgerdialogs. Die Ergebnisse: Nahezu alle Gemeinden haben diese Form der Bürgerbeteiligung ausprobiert, 75 Prozent der Befragten bewerteten die damit gemachten Erfahrungen als gut bis sehr gut. „Nur 0,3 Prozent hatten sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht“, sagte David Gäbel von KDZ. Wenig überraschend: Größere Gemeinden führen so etwas öfter durch, und je häufiger es Bürgerdialoge durchgeführt werden, desto professioneller werden sie und desto höher ist die Zufriedenheit damit.  David Gäbel konstatiert: „Grundsätzlich sind sächsische Kommunen also offen für Dialogveranstaltungen und messen ihnen eine große Bedeutung zu.“

Ein bisschen überraschender war die Einschätzung zur Moderation: Mit Abstand am häufigsten sollten nach Ansicht der Befragten der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin eine solche Veranstaltung moderieren. Damit, so folgern die Forscher, werde zum einen ein traditionelles Verständnis der Spitze der Verwaltung geäußert, vor allem aber werde dabei die Chance, eine wirklich überparteiliche Moderation für das Problem zu finden, vergeben. Denn in aller Regel ist das Gemeindeoberhaupt in irgendeiner Weise in den zu klärenden Konflikt involviert.

Am häufigsten werden Podiumsdiskussionen durchgeführt, gefolgt vom Format der Zukunftswerkstatt. Dialogformen wie World-Cafés, Erzählsalons, Dilemma-Diskussionen, also vor allem die Formate, die deeskalierend wirken, sind in den Gemeindeverwaltungen weniger bekannt. 

Aus den Befragungsergebnissen schließt das KDZ-Team einen Weiterbildungsbedarf, den die Kommunen teilweise auch so formulierten: Sie wünschen sich mehr Kenntnisse zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, Moderationskompetenzen und die Fähigkeit zur Konfliktdeeskalation.

Es ist auf jeden Fall gut, mal drüber geredet zu haben

Die sächsische Staatskanzlei organisierte 2019 eine Dialogreihe unter dem Motto „Miteinander reden!“ Zu den insgesamt 13 Bürgerwerkstätten wurden Mitglieder von Verbänden, ehrenamtlich Engagierte, also Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, eingeladen, um mit Ministerinnen und Ministern zu diskutieren. Das KDZ-Team begleitete diese Veranstaltungsreihe und befragte danach die Teilnehmenden nach ihren Eindrücken und Erfahrungen, die Dr. Willi Hetze auf der Tagung zusammenfasste. Überraschend und kein gutes Zeugnis für die bisherige Praxis im Freistaat: Zwei Drittel der Befragten waren noch nie bei einer solchen Veranstaltung. Sehr lange hat man sich also nicht dafür interessiert, gezielt engagierte Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Meinung zu fragen oder sie bewusst in Entscheidungsprozesse einbezogen. Außerdem interessant an der Einschätzung der Befragten: Die Entscheidungsträger erwiesen sich während der Bürgerwerkstätten zwar als sehr gut ansprechbar-, Lösungsansätze für benannte Probleme fanden sich aber trotzdem nur wenige. „Nach dem Motto, immerhin haben wir mal drüber geredet. Doch das“, so Willi Hetze, „ist ein erster wichtiger Schritt, um die allgemein als schwierig, aber wichtig eingeschätzte Kommunikation mit der Verwaltung zu verbessern.“

Besser online als gar nicht debattieren

Die Landeszentrale für politische Bildung bot im Frühjahr und Sommer 2020 die digitale Diskussionsreihe „Aus der Krise lernen?“ zur Coronakrise an und damit einen Raum, um über die unmittelbaren und mittelfristigen Auswirkungen der Pandemie zu debattieren. Erklärtes Ziel war, eine lebendige und kritische Meinungsbildung zu fördern. Auch diese Veranstaltungen begleitete das KDZ-Team wissenschaftlich und befragte im Anschluss die Teilnehmenden. Dr. Ulrike Schumacher findet das Ergebnis ermutigend: „Trotz einiger technischer Hürden bei der Durchführung hat die Landeszentrale damit Menschen erreicht, die vorher noch nie oder nur selten an solchen Veranstaltungen teilgenommen haben. Die wichtige Aufgabe, einen gemeinsamen Raum zur Diskussion auch digital zu anzubieten, ist gelungen.“ Auch wenn die Reichweite noch begrenzt war, schätzt Ulrike Schumacher eine Fortsetzung und Weiterentwicklung dieses Formats als äußerst lohnenswert ein.

Denkt man in Sachsen an (eskalierende) Bürgerdialoge, fällt es fast schwer, an den Ursprung und häufigsten „Einsatz“ von Bürgerbeteiligung zu denken – nämlich Bau- und Verkehrsvorhaben. An solche erinnerte Nils Jonas in seinem Beitrag zu „Beteiligungsperspektiven“. Es gebe keine monolithische Vorstellung davon, was Demokratie sei und wie sie zu funktionieren habe. Das alles werde immer wieder neu und durchaus auch länderspezifisch ausgehandelt. In Deutschland haben in den 90er Jahren – nachdem die sogenannten Neuen Länder aus ihrer Erfahrung der Runden Tische dabei Vorreiter waren – Elemente der direkten Demokratie in fast allen Bundesländern Verfassungsrang bekommen. Die – übrigens genau vor zehn Jahren eskalierten – Proteste um Stuttgart 21 hätten als Konsequenz rein auf methodischer Ebene einen großen Schub in Sachen Bürgerbeteiligung erwirkt.

Kalte und heiße Konflikte

Nils Jonas skizzierte Bürgerbeteiligung als anlassbezogene Form der Demokratie, die sich, je nach Situation, ihr entsprechendes Format suche. Wichtig: Dabei sprechen Bürger mit Bürgern und nicht unbedingt mit (einzelnen) Abgeordneten, also Repräsentanten der Demokratie. Bei kommunaler Bürgerbeteiligung gehe es in erster Linie darum, mit möglichst vielen Interessierten über Probleme und mögliche Lösungen gesprochen zu haben als um die konkreten Lösungen selbst. Jonas selbst baute 2014 für die Landeshauptstadt Potsdam das dortige Modellprojekt „Strukturierte Bürgerbeteiligung“ auf und arbeitet derzeit für den Berliner Senat an der Umsetzung „Leitlinien für Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Projekten und Prozessen der räumlichen Stadtentwicklung“, die er mitentwickelt hat.    

Eine ganz andere Form der Ermutigung zum aktiven Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern stellten Alexandra Wegbahn und Michael Melerski von der Ateliergemeinschaft Trachenberge in Dresden vor. Für ihre Öffentliche Intervention benötigen sie nichts weiter als einen Tisch und zwei Stühle gegenüber. Auf diesen Stühlen sollen zwei Menschen Platz nehmen, die sich nicht kennen und dann ins Gespräch kommen. Konzipiert wurde diese „ErfahrungsBar“, so nennen die Künstler ihr Projekt, eigentlich für eine leerstehende Gewerbeeinheit in Kamenz. Corona hat die erste Umsetzung in die Praxis erst einmal verhindert, leicht modifiziert lasse sich die ErfahrungsBar aber auf Festivals, in Märkten, eigentlich fast in jeder Umgebung umsetzen. 

Diese unterschiedlichen Forschungs- bzw. Erfahrungsberichte diskutierten die Vortragenden mit dem Publikum im Anschluss – wie fast immer auf Konferenzen viel zu kurz. Interessante Gesprächsfäden wurden aufgenommen zu Themen wie kalten und heißen Konflikten und welche Interessen dahinter stehen könnten, zum Beispiel Entscheidungen zu provozieren, die eigentlich gar nicht notwendig sind; oder was passiert, wenn Probleme nicht frühzeitig genug thematisiert werden; oder ob das übliche „Dampf ablassen“ bei migrationsbezogenen Konflikten auf Bürgerversammlungen (die nur in Bezug auf die Häufigkeit ihrer Verwendung das erste Mittel der Wahl sind) womöglich nur zur (weiteren) Radikalisierung führe. Diese Fäden konnten aber – eben dem Format des zur Zusammenfassung dienenden Lounge-Gespräches geschuldet – nicht befriedigend zu Ende geführt werden.

Wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis überführen

Diese interessanten Diskussionen in die sich anschließenden Workshops zu verlagern, gelang nur teilweise. Teils in Präsenz, teils online durchgeführt, brauchte es jeweils kostbare Zeit, um die eigentlichen Fragestellungen zu erörtern. Dennoch wurde dabei klar, wie wichtig für gelingende Bürgerbeteiligung eine motivierte Verwaltung ist, die positive Erfahrungen braucht, um künftig ähnlich gelagerten Prozessen offener gegenüber zu stehen.

Am Ende der Tagung kann stehen, was Sebastian Reißig, Geschäftsführer der Aktion Zivilcourage, sagte: „Forschungsergebnisse zu präsentieren, ist eine wichtige Aufgabe; sie in kommunalpolitisches Handeln zu überführen, eine andere.“ Die Vielzahl sowohl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei der Tagung wie auch „Praktikern“ wie Bürgermeistern, Verwaltungsmitarbeiterinnen und Vertreterinnen von Verbänden lässt hoffen, dass Krisen und Umbrüche in Sachsen künftig mit den Betroffenen konstruktiv und bedarfsorientiert mitgestaltet werden.

Im Rahmen des Projekts „Krisen-Dialog-Zukunft“ ist der Sammelband „Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten“, herausgegeben von Cathleen Bochmann und Helge Döring, erschienen und bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung zu bestellen.