Welches Europa brauchen wir? Plädoyer für eine realistische Europapolitik
„Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“, darin waren sich westliche Staats- und Regierungschefs nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 schnell einig. Gerald Knaus, Gründungsdirektor der European Stability Initiative, einer Denkfabrik in Berlin, stellt diese Äußerung im Stadttheater in Glauchau infrage: Europa war auch in den vergangenen 35 Jahren ein Schauplatz der Kriege, der Vertreibung und des Völkermords. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind laut dem Experten für Südosteuropa nur ein Teil des Gewaltgeschehens in den 50 europäischen Staaten des Europarats nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Nur wollte das die europäische Mehrheit des Westens, die mit der Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das „goldene Zeitalter“ ausgerufen hatte, nicht sehen. Denn die kriegerischen Auseinandersetzungen traten nur in den Staaten auf, die nicht oder noch nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörten.
Knaus, aus Funk und Fernsehen aufgrund seiner Expertise in Migrationsfragen bekannt, setzt hier mit einer Vision für Europa an. 2024 hat der europäische Kontinent die größten Fluchtbewegungen seit den 40er-Jahren erlebt. Die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die damit einhergehen, lassen sich an den Wahlerfolgen der Rechtspopulisten in ganz Europa ablesen. Wer Frieden möchte, braucht nicht weniger EU, sondern mehr. Das war auch die Konsequenz nach dem „Schock von Kosovo“: Zwischen 1998 und 2008 hat sich die EU von 12 auf 27 Mitgliedsstaaten vergrößert. Das Projekt Europa, so der Österreicher Knaus, muss heute stärker das Friedensnarrativ der Gründerjahre bemühen, um die EU zusammenzuhalten und die Erfolgsgeschichte fortzusetzen.

„Es fehlen realistische, aber auch idealistische Ziele.“ Konkret schlagen er und seine 25-jährige Tochter in dem im August erscheinenden Buch „Welches Europa brauchen wir? Ein Plädoyer für eine realistische Europapolitik“ vor, den zehn Beitrittskandidaten mehr Anreize zu geben, den europäischen Kurs fortzusetzen. Brüssel könnte dazu den Staaten den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum anbieten – ganz ähnlich, wie auch sein eigenes Land Österreich vor dem eigentlichen Beitritt im Jahr 1995 schon europäisch sozialisiert wurde. Es sei im Interesse der Beitrittskandidaten, die vier Grundfreiheiten zu erhalten, auch ohne im Europäischen Rat mit einem Stimmrecht vertreten zu sein. Eine Win-win-Situation auch für Europa? Natürlich habe so eine Geste einen politischen Preis, allein schon die Gefahr, sich politische Konflikte wie in Transnistrien (Moldau) ins europäische Haus zu holen. Aber das Interesse sollte auf europäischer Seite überwiegen. Allein Deutschland habe im vergangenen Jahr, so Knaus, mehr nach Polen als nach China exportiert.
Aber auch Knaus ist Realist und weiß nur zu gut um die Gelingensbedingungen erfolgreicher Think-Tank-Arbeit. Die Idee zum Türkei-Deal auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, erst wenig beachtet und nur in Medien diskutiert, musste lange brachliegen, bevor sie – mehr oder weniger zufällig – durch ein Dossier der niederländischen Botschaft in die Hände eines niederländischen Politikers fiel und so an den niederländischen Premierminister herangetragen werden konnte. Dieser, auf der Suche nach Ideen für die beginnende EU-Ratspräsidentschaft, griff den Gedanken eines Deals mit der Türkei auf und machte daraus europäische Politik. Bleibt zu hoffen, dass die Vision des Friedens auch zeitnah eine Stimme wie jene von Jean Monnet findet und den Weg auf die Schreibtische der europäischen Hauptstädte findet.