Was hält die Gesellschaft noch zusammen – politische Bildung in einer entgrenzten Zeit

Vortrag von Prof. Klaus-Dieter Hufer anlässlich der Festveranstaltung „25 Jahre Sächsische Landeszentrale für politische Bildung“ am 19. September 2016 in Chemnitz

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, lieber Herr Richter, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Zunächst einmal möchte ich mich für die ehrenvolle Einladung bedanken, heute anlässlich des 25jährigen Bestehens der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung den Festvortrag halten zu dürfen. Und natürlich herzlichen Glückwunsch dafür, dass Sie über zweieinhalb Jahrzehnte so engagiert für politische Bildung sorgen.

Drei bedeutende Sachsen
Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag ging mir die wichtige Frage durch den Kopf: Wie schaffst du den Einstieg? Im angelsächsischen Bereich beginnt man üblicherweise mit einer Anekdote, in Deutschland mit einem gelehrt wirkenden Zitat.

Ich wollte etwas Anderes. Naheliegend war ja, dass ich mich mit dem Land beschäftigte, in dem ich jetzt bin, mit Sachsen. Also kaufte ich mir ein mit Hochglanz aufgemachtes Heft mit dem verheißungsvollen Titel „Mein Land: Sachsen. Willkommen im Wunderland“. Dem habe ich beispielsweise entnommen, dass es im Freistaat über 500 Biersorten gibt, dass in diesem Oktober in Leipzig eine Lachmesse veranstaltet wird und dass die in Syrau hergestellte Wurst mit dem Namen „Drachenbeißer“ eine Spezialität ist. Darauf Bezug zu nehmen, ist allerdings kein guter Auftakt für eine Veranstaltung, bei der es um politische Bildung geht.

Die nächste Idee war, nach prominenten Sachsen zu fahnden. Diese Suche war sehr ergiebig. Sie, verehrte Damen und Herren, leben in einem Land, in dem es erstaunlich viele bedeutende Menschen gab. Mindestens drei von ihnen könnten auch zu unserem Thema Wesentliches beisteuern: Gotthard Ephraim Lessing, Friedrich Nietzsche und Erich Kästner.

Lessing wurde im Jahr 1729 in der 126 Kilometer von hier entfernten Stadt Kamenz geboren, Dem Aufklärer Lessing verdanken wir das Drama „Nathan der Weise“. Nathan ist ein jüdischer Kaufmann. Er steht für Humanität und Toleranz, für die Versöhnung und Gleichwertigkeit der Religionen. In seinen Hauptfiguren zeigt Lessing die Verwandtschaft von Christen, Juden und Muslimen. Welche Botschaft könnte derzeit aktueller sein als diese?

Nietzsche, der zweite, den ich hier ins Spiel bringen möchte, wurde 1844 in Röcken, einem Ortsteil der Stadt Lützen geboren. Das sind Luftlinie 73 Kilometer von hier. Es mag Sie verwundern, dass ich diesen Apologeten des „Herrenmenschen“, diesen von den Nazis verehrten Philosophen hier einbringe. Aber da gab es viele Fälschungen, die vor allem von seiner Schwester verursacht wurden. Ganz anders als diese war Nietzsche weder nationaler Chauvinist noch Rassist. Im Gegenteil: Er wetterte gegen die „verlogene Rassen-Selbstbewunderung“ und gegen die „nationale Herzenskrätze“. Einen Antisemiten nannte er eine „Missgeburt“. Deutlich distanziert er sich vom Antisemitismus eines weiteren Sachsen, Richard Wagner, 1813 in Leipzig geboren. Dieser „kondeszendierte … Schritt für Schritt zu allem, was ich (Nietzsche, KPH) verachte – selbst zum Antisemitismus“. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass einer in diesem Jahr erschienen Studie zufolge 11% der repräsentativ befragten Deutschen dem vorgelegten Item zustimmten „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, über 21% stimmten teilweise zu (Decker/Kiess/Brähler 2016, 30). Nietzsche hingegen stellte fest, dass die Europa, die europäische Kultur, gerade die Philosophen Europas, den Juden „dankbar“ sein sollten.

Über Erich Kästner, der 1899 in Leipzig geboren wurde, gäbe es in unserem Zusammenhang einen eigenen Vortrag zu halte. Unzählige Schulen tragen seinen Namen, nicht nur wegen seiner Kinderbücher. Kästner war Humanist, Demokrat und Anti-Militarist. Er gehörte zu den Intellektuellen, die das Gegenteil von dem Deutschland verkörperten, das zwischen 1933 und 1945 Tod und Schrecken in die Welt brachte. Nach Kindheit und Jugend in Dresden und Studium und journalistischer Tätigkeit in Leipzig siedelte der Sachse Kästner nach Berlin über. Dort erlebte er, wie am 10. Mai 1933 öffentlich „undeutsche Literatur“ verbrannt wurde. Auch seine Bücher waren dabei.

Kästner wurde nach Kriegsende Herausgeber und Redakteur der Jugendzeitschrift „Pinguin“. Was er damit erreichen wollte, liest sich wie ein Katalog moderner politischer Bildung, z.B.: die Perspektiven anderer Menschen übernehmen, Mut und selbstbewusstes Handeln, kritische Urteilsbildung, Menschlichkeit, Toleranz, Demokratie als Lebens- und Regierungsform (Ebbert 1997).

Es gibt viele Bonmots aus Kästners gesamten Werk, die hier und heute passen würden. Die alle zu zitieren würde aber den Rahmen dieses Vortrags sprengen. Eines aber will ich Ihnen nicht vorenthalten: „Der eine möchte nicht sehen, was der andre nicht sieht. Alles könnte geschehen. Aber nur manches geschieht“ (Kästner 1969, Bd. 1, 330).

Das ist eine passende Antwort auf das heute ja sehr verbreitete Lamento, dass es keinen Sinn habe sich politisch zu engagieren, denn man können sowieso nichts ändern.

Nach dieser Reminiszenz an das frühe Sachsen und nach dieser Suche nach Spuren von Vorbildern und Vorläufern politischer Bildung nun zum eigentlichen Thema: der politischen Bildung heute.

Der Blick auf die politische Erwachsenenbildung
Wer politische Bildung organisiert, lehrt oder bildungspolitisch vertritt, hat selten richtig schöne Erfolgserlebnisse. Denn so recht weiß keiner, was aus den Angeboten, den Tagungen, Seminaren, Workshops, Vorträgen, den zur Verfügung gestellten Schriften folgt. Die Wirkung kann nicht eindeutig belegt werden. Sicher ist aber: politische Bildung ist eine stabile Säule der Demokratie. Ohne sie – das behaupte ich jetzt – wären die Probleme unserer Gesellschaft – und wir haben davon nicht wenige – noch größer, als sie bereits sind.

Da das noch von niemandem zwingend und empirisch eindeutig belegt ist, müssen sich politische Bildner/-innen mit kleinen Erfolgserlebnissen zufriedengeben. Ich hatte eines, als mir der Teilnehmer einer meiner Veranstaltungen Folgendes sagte:

„Ich besuche gerne Veranstaltungen zu Politik und Gesellschaft, denn hier lerne ich interessante Meinungen kennen, mit denen ich mich auseinandersetzen kann. Und es geht nicht so trocken zu wie damals in meinem Sozialkundeunterricht in der Schule „

Ich hoffe, die anwesenden Politiklehrer/-innen können akzeptieren, dass ich da eine kleine Genugtuung verspürte. Denn allzu oft stehen wir, die wir in der außerschulischen Jugendbildung/der Erwachsenenbildung tätig sind, im Windschatten der viel mehr beachteten allgemeinbildenden Schule.

Im Folgenden konzentriere ich mich also auf die außerschulische politische Bildung, vor allem auf die politische Erwachsenenbildung. Aber die dargestellten Aspekte sind auch auf die politische Jugendbildung übertragbar.

Es ist eine alles andere als leichte Arbeit, die diejenigen, die hier tätig sind, übernommen haben, und viele Meriten sind auch nicht zu gewinnen: „Für die Bevölkerung, ja selbst für viele Erwachsenenbildungs- und Politikdidaktikstudierende ist politische Erwachsenenbildung oftmals eine Terra incognita. Um einen Vergleich mit klassischen Professionen zu bemühen: Trotz berechtigter Kritik gelten Ärzte nicht weniger als `Götter in Weiß`, Priester als moralische Instanzen, Richter als geachtete Respektpersonen – und Erwachsenenbildner? In der Öffentlichkeit werden sie kaum wahrgenommen, in der einschlägigen Literatur nicht selten unter Dilettantismus-Verdacht gestellt … . Es fordert sie Phantasie heraus, sich einen politischen Erwachsenenbildner als Roman-Helden, Spielfilm-Protagonisten oder Identifikationspunkt kindlicher Berufswünsche vorzustellen“ (Scheidig 2013, S. 10).

Immerhin hat dieses Manko dazu veranlasst, mit neueren Publikationen das höchst kreative Feld der außerschulischen politischen Jugendbildung und der politischen Erwachsenenbildung darzustellen und in seinen vielen Facetten auszuleuchten (z.B. Baltzter/Ristau/Schröder 2014; Hufer/Lange 2016; Hufer 2016).

Es ist schon einiges gelungen bei dem Bemühen, die außerschulische politische Bildung aus ihrem langjährigen Schattendasein herauszuholen. Das reicht aber noch nicht, sie muss weiter gefördert und ausgebaut werden. Dafür möchte ich werben.

Denn ich schaue mit Sorgen auf die Entwicklung unserer Gegenwart. Wir leben in entgrenzten Zeiten, in denen unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Aber es bedarf eines Zusammenhalts, sollen nicht Anomie, Gleichgültigkeit und Egoismus die bestimmenden Merkmale und Handlungen der hier lebenden Menschen sein. Sie, Herr Ministerpräsident, blicken auf die Entwicklung mit Sorge. Wie ich der Süddeutschen Zeitung vom letzten Freitag entnommen haben, beobachten Sie, „dass die Verwahrlosung im Denken von Menschen ´immer öfter zu einer Verwahrlosung im Handeln führe`“. In der politischen Bildung dagegen wird in reflexiver Weise über ein verantwortungsethisches Handeln nachgedacht.

Jedoch ist ihr Feld nicht einfach bestellt, es gibt da einige Konflikte und Friktionen.

Erster Brennpunkt: die Entwicklung der Gesellschaft
Wir befinden uns in unklaren, widersprüchlich erlebten und sich darstellenden Zeiten. Eine klare Gesellschaftsanalyse, die hoffnungsvoll den Blick nach vorne zeigt, gibt es nicht mehr. Utopien sind verschwunden. Stattdessen konstatieren die Soziologen und Politologen Zerrüttung und Rückzug.

Der französische Politik-Professor Jacques de Saint Victor hat einen aktuellen Trend und die Menschen, die ihm hinterherlaufen, mit einem starken Begriff markiert: „Die Antipolitischen“ (Saint Victor 2015). In seinem gleichnamigen Buch beschreibt er ein europaweit wachsendes Phänomen, die „Antipolitik“. „Es bezeichnet eine Art moralischer Entrüstung und Rebellion vonseiten wachsender Randgruppen der Öffentlichkeit, die bestrebt sind, sich von der alten Politik zu befreien, vor allem durch die ´Tugenden` des Netzes“ (ebd., 10 f.). Als einen Grund dafür sieht Saint Victor ein „Jahrhundertübel“ der westlichen Welt, nämlich eine „Vertrauenskrise“ (ebd., 17). Eine absurde Situation ist entstanden: Einerseits ein „Kult des Privaten“ (ebd., 22), andererseits „steigert das Web 2.0 die Möglichkeit, ´das Wort zu ergreifen`, ins Unermessliche“ (ebd., 30).

Der einfache Klick im Internet erzeugt in der Tat ein nahezu omnipräsentes und -potentes Gefühl. Doch ist das eine qualitative Verbesserung der Demokratie? Der Autor verneint das. Er sieht ein wachsendes „Bündnis von Netz und Straße“ (ebd., 33). Ein „antiinstitutioneller Populismus“ (ebd., 42) sei entstanden. Dessen Feind sei die „´Kaste`: die Kaste der Politiker, die Kaste der Unternehmer, die Kaste der Journalisten“ (ebd., 42). Wer – ganz besonders in Sachsen – denkt jetzt nicht an Pegida? Deren Protagonisten und Mitläufer organisieren sich per Internet, behaupten, sie seien „das Volk“ und pöbeln auf der Straße pauschalierend gegen „die“ Politik und „die“ Journalisten, deren Repräsentanten sie als „Volksverräter“ oder „Lügenpresse“ bezeichnen.

Für uns politische Bildner/-innen ist dieses Phänomen verwirrend. Immer wieder haben wir ja Partizipation und Demokratisierung gewollt und in unseren Vorträgen, Kursen und Seminaren darauf hingezielt. Nun äußern sich millionenfach „besorgte Bürger“ im Netz und auf der Straße, aber statt Aufklärung ist Borniertheit, statt Kultur ist Vulgarität, statt Toleranz ist Unduldsamkeit statt Offenheit ist Enge entstanden. Und das verbreitet sich.

Immer schon hatte politische Bildung zwar dazu aufgerufen, die „Herrschenden“, das „Establishment“ kritisch zu hinterfragen. Jetzt aber wird pauschaler Hass skandiert gegen „Politiker, Wirtschaftsvertreter, Medienleute – sie alle gehören zum vermeintlichen Establishment derer ´da oben`“ (Nachtwey 2016, 219).

Was lernen diejenigen daraus, die anderen Menschen politische Lernprozesse mit dem Ziel einer besseren, demokratischeren und freieren Welt nahebringen wollen?  

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: ich sehe durchaus viele Entwicklungen durch das Netz, die Demokratie sehr gut bekommen: mehr Partizipation, mehr Transparenz, mehr Kontrolle. Aber das ist jetzt nicht mein Thema – mich beunruhigt die dunkle Seite des globalisierten Netzes.

Vor ca. 25 Jahren bereits hat Ralf Dahrendorf in den westlichen Demokratien den Verlust der „Ligaturen“ beschrieben. Das sind „tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“ (Dahrendorf 1992, S. 41). In der modernen Demokratie übernahmen diese Aufgabe beispielsweise Parteien, Kirchen und Gewerkschaften. Sie alle müssen seit Jahren einen massiven und offensichtlich unaufhaltsamen Schwund ihrer Mitglieder hinnehmen. Die Folgen für eine repräsentative Demokratie und für die Bindekräfte einer auf Humanität und sozialen Ausgleich verpflichtete Gesellschaft sind jetzt schon absehbar.

Konkret wird das durch eine aktuelle in diesem Jahr veröffentlichten repräsentative Befragung. Es geht um das „Vertrauen in Einrichtungen und Organisationen“. 13 wurden genannt, die Befragten sollten angeben, zu welchen sie Vertrauen hätten, zu welchen das „teils/teils“ der Fall wäre und zu welchen sie kein Vertrauen hätten. Auf den letzten Platz kamen die politischen Parteien mit einem Vertrauensbonus von gerade 23,1%. Vor ihnen rangierten die Kirchen mi einem Vertrauenszuschuss von nur 31,1%. Bezeichnend für den hier diskutierten Zusammenhang ist, dass der private Rundfunk und die sozialen Medien mit 35% bzw. 36% für vertrauenswürdiger eingeschätzt wurden als Kirchen und politische Parteien. Auf den ersten Platz kam übrigens die Polizei mit 65,5%, gefolgt vom Bundesverfassungsgericht mit 63,5% (Decker/Kies/Brähler 2016, 60).

In dieser Situation soll politische Bildung für politisches Engagement werben. Das ist ein schwierig zu lösender Anspruch. Aber politische Bildung darf nicht gleichgesetzt werde mit dem Handeln der etablierten politischen Akteure.

Zweiter Brennpunkt: der Bildungs- und Politikbegriff
Bei politischer Bildung geht es … um Politik und … um Bildung. Wer wollte das bezweifeln? Doch niemand kann definieren, was in einer an Informationen überbordenden Gesellschaft für die Millionen Einzelnen mit ihren jeweils unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Voraussetzungen und Interessen relevante Kenntnisse und notwendiges Wissen sind, um von da zur „Bildung” zu kommen. Der Bildungsbegriff ist ein schier unendliches Thema, oft beschrieben, oft einseitig festgelegt, oft instrumentalisiert, oft missbraucht. Zweifelsohne ist Bildung „vor allem Selbstbildung” (Hastedt 2012, 7). Da ist der wohl einzige gemeinsame Nenner, immerhin: Bilden müssen sich die Menschen selbst.

Gibt es dabei „Lernziele”? Zumindest dieses: „Zusammenhang herstellen!“ (Negt 2010, 207). Es geht um die „Wiederherstellung der wirklichen Zusammenhänge der Welt. Der aufgeklärte Mensch ist der diese Zusammenhänge begreifende Mensch, und das ist die Grundlage seiner Mündigkeit“ (ebd., S. 211).

Das ist schwer in einer Gesellschaft, die als pluralisiert, individualisiert, ja als fragmentiert beschrieben wird.

In dem Zitat von Oskar Negt tauchen zwei zentrale Begriffe auf, die alles umfassen, was Bildung insgesamt, aber politische Bildung im Besonderen ausmacht, ihr zu Grunde liegen und wobei sie die Teilnehmer/-innen ihrer Veranstaltungen unterstützen soll: Aufklärung und Mündigkeit.

Die klassische Definition von Aufklärung hat Kant gegeben:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.  Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.” (Kant 1995, 162)

Diese Aussage aus dem Jahr 1784 überragt die Zeiten.

In der Mündigkeit des Subjekts erfüllt Bildung ihren Zweck (siehe Mollenhauer, 2007, S. 252). Eine wie auch immer geartete Bevormundung, Fremdbestimmung und Vorgabe von zu erreichenden Bildungs- oder Lernzielen widerspricht der Prämisse von der Mündigkeit. 

Hier ergibt sich eine spannungsreiche Dialektik: Denn institutionalisierte und organisierte Bildung verfolgt eine Absicht, hat einen politisch gewollten Auftrag zu erledigen. „Sie enthält eine Antithese zur Mündigkeit ..., alle Institution ist Herrschaft“ (Heydorn 1980, S. 97). Doch da bleibt die Entwicklung nicht stehen, der Bildungsanspruch entzieht sich letztendlich der Herrschaftsabsicht. Die Vermittlung von Bildung „enthält die Möglichkeit … das Selbstverständliche zu bezweifeln“ (ebd., 99).

Das heißt: Bildung ist immer befreiend und widerspenstig ... und damit auch politisch. Das müssen auch die aushalten, die Bildung organisieren, administrativ verwalten und finanzieren

Fast genauso so schwierig, wie es ist, den Bildungsbegriff zu definieren, ist es mit der eindeutigen Beschreibung dessen, was „Politik” ist. Da gibt es Traditionslinien, die miteinander nicht zu vereinbaren sind und Kategorien, die sich widersprechen. Es gibt mehrere Dimensionen und Handlungsfelder: Polity, Policy, Politics. Und schließlich ist Politik „entstaatlicht”, verstreut, globalisiert, findet national, bi- oder multinational, übernational und weltweit an unendlichen Orten und durch unzählige Akteure mit ebenso vielen Legitimationen, Intentionen und Interessen statt (siehe Hufer 2016, 9 - 13, Boeser-Schnebel u.a., 2016, 24 - 28).

Folgerichtig gibt es auch keine allgemein verbindliche, allseits akzeptierte Definition von politischer Bildung. Im besonderen Feld der politischen Erwachsenenbildung lassen sich Ziele nicht ohne weiteres so benennen, dass sie die Zustimmung aller unterschiedlichen Standpunkte, Sichtweisen und Theorien finden würden. Denn in der Vielfalt ihrer Organisationen, Träger, Institutionen und Einrichtungen spiegelt sich die Realität einer pluralen Demokratie. Dem entsprechend gibt es viele Ansichten darüber, was politische Bildung bezwecken soll. Letztendlich geht es in ihr aber immer darum, Verständnis für die Alternativlosigkeit einer sozialen Demokratie zu wecken und zu festigen, die demokratischen Regelungen und Entscheidungswege einsichtig zu machen, ein Engagement für die Einhaltung und Verteidigung der Menschenrechte zu bewirken und sich der Ablehnung von Extremismus, Totalitarismus und Diskriminierungen bewusst zu sein. Das versteht sich nicht von selbst, denn die Menschen werden nicht unbedingt als Demokraten geboren: „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss - immer wieder, täglich und bis ins hohe Alter hinein“ (Negt, 2010, 13, S. 174). 

Wer sich einem emanzipatorischen Verständnis von Demokratie und politischer Bildung verbunden fühlt, für den gilt, was Oskar Negt klar formuliert hat: „Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt. Wo leben wir? Was sind die bestimmenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Wenn diese Fragen als modernisierungsschädlich ausgegrenzt werden, ist politische Bildung lediglich Verdoppelung der Realität“ (ebd. 24).

Damit stellt sich eine wirklich brennende Frage für das pädagogische Personal.

Dritter Brennpunk: die Profession
Das demokratietheoretisch und von der Bildungsidee her zweifelsfrei gut zu begründete Postulat von Oskar Negt kollidiert oft mit der Möglichkeit, auch Taten folgen zu lassen. Eine kompromisslose Kritik der herrschenden Strukturen schafft Reibungen und Konflikte, zumal die Trägerorganisationen (Kommunen, Parteien, Kirchen, Verbände) selbst Teile dieses herrschenden Systems sind. Das zeigt sich insbesondere, wenn eine Bildungsveranstaltung handlungsorientiert angelegt ist – ein notwendiges Ziel politischer Bildung! – und sich daraus Aktivitäten entwickeln. Da kann es leicht zu Problemen und Repressionen kommen. Das Verhältnis von Reflexion und Aktion ist in der politischen Erwachsenenbildung prinzipiell spannungsgeladen (siehe Hufer 2011 und 2012).

Fritz Borinski, der Nestor der politischen Erwachsenenbildung der frühen Bundesrepublik, hatte bereits1954 in seinem wegweisenden und immer noch lesenswerten Buch „Der Weg zum Mitbürger“ geschrieben: Den „Lehrer“ der politischen Bildung solle „Mut zur Wahrheit und Freiheit“ auszeichnen: „Er muß den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen und von der Meinung, die ´man` zu vertreten hat und die ´man` auch von ihm erwartet, abzuweichen“ (Borinski 1954, 167). Das ist heute, wenn sich auf eine Stelle in der Erwachsenenbildung hunderte Universitätsabsolventen bewerben und dann oft nur ein befristeter Job herauskommt, nicht mehr selbstverständlich. Wer zu viel Mut zeigt, riskiert unter Umständen seinen Arbeitsplatz oder bekommt ihn erst gar nicht.

Ganz und gar nicht problemfrei sind auch das professionelle Verständnis und das Berufsbild politischer Erwachsenenbildner/-innen. Denn sie arbeiten ja in unterschiedlichen Bezügen, Organisationen und Institutionen. Die Handlungsfelder sind – dem pluralen Verständnis von Erwachsenenbildung entsprechend – vielfältig und an zahlreichen, unterschiedlichen Orten platziert. Es ist ein Unterschied, ob jemand beispielsweise gut dotierter verbeamteter Fachbereichsleiter einer großstädtischen Volkshochschule, angestellter Bildungsreferent in einem gewerkschaftlichen Bildungszentrum oder freiberufliche Honorarkraft in gleich mehreren Institutionen und Organisationen ist. So entwickeln sich spezifische Praxiserfahrungen und -kenntnisse, die professionelles Handel generieren und manifestieren.

Und was die Profession besonders beschäftigen muss, ist die Tatsache, dass viele der nebenberuflich, oft auch hauptberuflich tätigen Honorarkräfte in prekären Verhältnissen nicht selten am Rande des Existenzminimums leben (Dobischat/Hufer 2012). In den Volkshochschulen arbeiten 87% der dort Tätigen auf Honorarbasis (Autorengruppe 2016, 152), nicht alle schlecht bezahlt, aber sehr viele doch.

Kann daher von einem Berufsbild/einer Profession die Rede sein? Wenn ja, was sind die Kennzeichen und Kriterien, die unbezweifelbaren und unverwechselbaren Standards der Profession?

Dieses Fragen sind zwei Projekte nachgegangen (Hufer/Richter 2014, Hufer u.a. 2013). 

Herausgekommen ist einmal, dass sich die Profession der politischen Erwachsenenbildner/-innen erheblich von der der Politiklehrer/-innen an den allgemeinbildenden Schulen unterscheidet. Das geht so weit, dass sich die Frage stellt, ob es nicht zwei komplett unterschiedliche Berufe sind. Zum anderen aber kann man für die politische Erwachsenenbildung feststellen, dass es trotz ihrer großen Heterogenität doch gemeinsame professionelle Standards gibt. Es gibt Kompetenzen, die jeder braucht, um in diesem Feld professionell zu arbeiten. Christine Zeuner hat hierfür folgende Kompetenzen genannt: 

Fachkompetenz, Methodenkompetenz, soziale Kompetenz und reflexive Kompetenz“ (Zeuner 2013, 85).

Das versteht sich nicht von selbst. Vieles geht unter im alltäglichen institutionellen Pragmatismus. Daher muss daran gearbeitet werden, dass diese Kompetenzen bewahrt, gepflegt und kollegial diskutiert werden. Dafür bedarf es Raum, Zeit, Förderung und Knowhow. Eine Landeszentrale für politische Bildung wäre da ein idealer Partner

Vierter Brennpunkt: die Themen
Es gibt gegenwärtig zwei Tendenzen, die die Existenz öffentlich geförderter politischer Bildung gefährden: Einmal wird der Staat „verschlankt“, viele Einrichtungen werden privatisiert und/oder einem „Markt“ übergeben. Aus dieser neoliberalen Grundhaltung heraus werden Einrichtungen aus den Bereichen Kultur, Soziales und Bildung zur Disposition gestellt. Zum anderen geht damit einher auch eine Umwidmung von Bildung zu Kompetenzen, entfernt man sich von den Ideen der Aufklärung und ersetzt diese durch eine immer wieder propagierte und nahezu ausschließlich geforderte Notwendigkeit zur Employability und individuellen Qualifizierung. Das sind Entwicklungen, die politischer Bildung – zumindest in der von mir beschriebenen Auffassung – diametral entgegenstehen.

Daher sei noch einmal an die Unverzichtbarkeit von politischer Bildung erinnert. Das soll in knappen Thesen geschehen:

  • Demokratie lebt von Demokraten. Orte, an denen sie sich treffen, sich informieren, ihre Meinungen und Interessen austauschen und ihre politischen Ideen abgleichen, Solche Orte sind die Veranstaltungen zur politischen Bildung.
  • Der modernen Gesellschaft gehen die „Ligaturen“ verloren, Davon war schon die Rede. Die Foren, die politische Bildung anbietet, können sie zwar nicht ersetzen, aber in einer zunehmend unübersichtlichen Welt Rückbesinnung, Bindungen und Orientierungen ermöglichen.
  • In einer Zeit, in der sich fast alles von einem (nicht mehr vorhandenen) Zentrum weg zu diversen Orten der Peripherie verlagert, sind Plätze und Kräfte erforderlich, die das allgemein Verbindliche einfordern und zusammenhalten. Auch hier kann politische Bildung einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie, Herr Richter, sagten dazu einmal. „Die politische Bildung hat gemeinsam mit der kulturellen, der ethischen Bildung und anderen Bereichen der humanistischen Bildung für den Grundwasserstand des gesellschaftlichen Zusammenhalst zu sorgen“ („Politische Bildung ist …“ 2015, 18)
  • Immer mehr Bürger/-innen und Bürger zeigen Aversionen gegen die etablierte Politik. Die Institutionen der politischen Bildung können Brücken sein, die von der totalen Entfremdung wieder zurückführen. Sie können es zumindest versuchen. Die Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen hat das beispielhaft gezeigt mit dem Bemühen, mit Pegida-Anhängern ins Gespräch zu kommen. Das hat bundesweite Beachtung gefunden. Zwar gab es für Ihre Initiative, lieber Herr Richter, auch Kritik, aber mit Recht viel Beifall. Ich stimme Ihrem Versuch, Vernunft gegen Ressentiments zu setzen, ausdrücklich zu. Wie überhaupt: Die optimistische Überzeugung, dass Aufklärung durch Vernunft möglich sei, gehört zu den Grundprinzipien politischer Bildung. Bertolt Brecht lässt seinen Galiliei sagen: „Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf Dauer alle. Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse“ (Brecht, 1968, 35).
  • Trash-TVs und Oberflächen-Statements in Talkshows banalisieren gesellschaftspolitische Themen. Statt einer solchen Desinformation sorgt politische Bildung für gründliche und argumentationssichere Meinungsbildung.
  • In einer höchst komplexen, diffundierenden und zerstreuten Gesellschaft stellt sich die Frage nach dem Kompass und danach, welche Ethik die Richtung bestimmt. Bei den Veranstaltungen der politischen Bildung können sich Bürgerinnen und Bürger treffen, um ihre eigenen Wege und Maßstäbe in der allgemeinen Unsicherheit und Unübersichtlichkeit zu finden.
  • Wenn das Leben immer mehr betriebswirtschaftlich gedacht und in fast allen Facetten nur noch so entschieden wird, wenn nur noch der eigene ökonomische Vorteil zählt, dann bleiben Gerechtigkeit und Solidarität auf der Strecke. Die „Freiheit“ wird zur Freiheit der Konsumentscheidung. So wird der moralische Kitt für eine Gesellschaft verbraucht. Dagegen ist es eine elementare Leitidee von politischer Bildung, das Wechselverhältnis von Freiheit und Gleichheit/Gerechtigkeit auszuloten.
  • Die fortschreitende Globalisierung bringt es mit sich, dass sich immer mehr Menschen zunächst als Fremde begegnen. In den Veranstaltungen der politischen Bildung werden Vorurteile in Frage gestellt, Begegnungen geschaffen, einander „Fremde“ lernen sich kennen und verstehen.
  • Eine zivile Gesellschaft lebt von der wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe, Kulturen und Herkunft: Diese ist aber durch Fundamentalismen, autoritäre Einstellungen und totalitäre Ideologien gefährdet. Politische Bildung ist dagegen eine Anwältin für Menschenrechte und Toleranz.
  • Schließlich komme ich auf einen bereits erwähnten Punkt dieses Vortrags zurück: Das Internet hat einerseits neue Kommunikationsformen und zivilgesellschaftliche Kampagnen ermöglicht. Das ist ein Potenzial, das Demokratie nützt. Andererseits hat das weltweite Netz auch zu Solipsismus und Rückzug geführt. Das wiederum gefährdet Demokratie, die von einer vitalen Öffentlichkeit lebt. Politische Bildung ist herausgefordert, das eine zu fördern und das andere zu problematisieren. Mit Hilfe des Webs unterstützt sie politische Reflexion und stellt antipolitische Ressentiments in Frage.

Ein Blick auf Sachsen
Bei den Vorstellungen der Menschen in Deutschland von Demokratie, politischer Partizipation, Werten und Einstellungen gibt es nach wie vor einen auffallend deutlichen Unterschied zwischen den westlichen und östlichen Bundesländern. Das zeigt sich beispielsweise in der unterschiedlich starken Wahlbeteiligung, die in den Flächenstaaten im Westen erheblich größer ist als im Osten. Das gilt sowohl für die Bundestagswahl 2013 (Statistisches Bundesamt 2016, 303) als auch bei den Landtagswahlen. In der Zeit von 2010 bis 2014 fanden in allen Bundesländern Wahlen statt. Mit Ausnahme Bremens lagen alle der nun nicht mehr neuen Bundesländer auf den letzten Plätzen. Sachsen hatte 2014 eine Wahlbeteiligung von 49,1%, Spitzenreiter war Hessen mit 73,2% im Jahr 2013 (ebd., 396 – 397). Dass Mecklenburg-Vorpommern bei den Landtagswahlen im September dieses Jahres auf eine Beteiligung von 61,6% kam, schlug sich nicht im Ergebnis für die etablierten Parteien nieder. Die AfD konnte bisher passive Wahlberechtigte mobilisieren. Das gibt Anlass zum gründlichen Nachdenken darüber, wo der Verdruss am bekannten politischen Personal herkommt.  

Demokratie als „die beste Staatsform“ wird in Ostdeutschland weniger geschätzt als in Westdeutschland: 82 zu 90%. (ebd., 400) Im Jahr 2015 waren in Westdeutschland 77% mit dem „Funktionieren der Demokratie“ zufrieden, ins Ostdeutschland waren es lediglich 47% (ebd., 406. 407 u. 412).

Für die politische Bildung ergeben sich aus der Bevölkerungs- und Sozialstruktur Sachsens erhebliche Herausforderungen, nämlich Entwicklungen und Perspektiven zu thematisieren, präventiv und intervenierend tätig zu werden. Denn die Bevölkerung schrumpft und altert (Jesse/Schubert/Thieme 2014, 281), die Abwanderung in den Westen steigt (ebd., 282). Die soziale Ungleichheit ist in Sachsen „deutlich vom Westniveau entfernt“ (ebd., 278). Das Armutsrisiko ist hoch, besonders gefährdet sind Alleinerziehende (ebd. 279). Im Jahr 2013 gehörten nur noch 23,6% der Sachsinnen und Sachsen einer der beiden großen Kirchen an, der evangelischen 19,9% oder katholischen 3,7%. Allen aktuellen Berichten und Daten zufolge ist davon auszugehen, dass diese Zahl weiter sinkt.

Insgesamt sehe ich, das die Zentrifugalkräfte des Landes schwinden, das, was eine Gesellschaft zusammenhält, erodiert.

So ist es wohl folgerichtig, dass die politische Kultur in Sachsen offensichtlich nicht sehr stabil ist. Die Situation hat sich mit dem Hinzukommen von Asylbewerber/-innen zugespitzt.

Eine Schrift, die von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft „Kirche für Demokratie und Menschenrechte“ herausgegeben wurde, belegt das. Darin heißt es: Ca. 60% der sächsischen Einwohner/-innen fühlten sich 2013 durch den Islam bedroht (Nächstenliebe 2016, 50) – und das, obwohl es zu diesem Zeitpunkt in dem Land kaum Muslime gab.

In dieser Schrift wird das Hauptproblem benannt: „In Deutschland und ganz besonders im Freistaat Sachsen ist eine erschreckend hohe Zahl an Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen bis hin zu politischen Parteien aktiv, für deren Verortung im politischen Spektrum Adjektive wie neonazistisch, rechts, oder rechtsextrem, menschenverachtend, rechtspopulistisch oder -radikal, terroristisch oder rassistisch gebraucht werden“ (ebd., 72).

Der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey stellt in seinem kürzlich erschienenen, vielfach gelobten Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Abstiegsgesellschaft“ fest: „In kaum einem Bundesland ist die politische Kultur so konservativ, sind die Bürger so entfremdet von der Politik wie in Sachsen“ (Nachtwey 2016, 217)

Bei den im Jahr 2015 verübten rechtsextremen Gewalttaten steht Sachsen im Ländervergleich an zweiter Stelle, hinter dem wesentlich größeren Nordrhein-Westfalen.  

Die Gründe für die Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus gerade in Sachsen können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Aber es muss zu denken geben, dass die Orte, Bautzen – immer wieder Bautzen –  Clausnitz, Freiberg, Freital, Heidenau, Hoyerswerda, Sebnitz und auch Dresden Synonyme dafür sind, dass im Westen Deutschlands Sachsen als besonders markanter Teil „Dunkeldeutschlands“ bezeichnet wird. Als ich Freunden in Nordrhein-Westfalen mitteilte, dass ich eine Expertise zur politischen Erwachsenenbildung in Sachsen erstellen und Recherchen vor Ort einholen würde, bekam ich mehrfach als Antwort die Gegenfrage: „Ist das nicht gefährlich?“ Nein, das war es ganz und gar nicht. Ich habe bei meiner Erkundung die Schönheit der besuchten Städte und der Fahrt durch das Land genossen. Und ich habe sehr anregende Gespräche mit klugen und engagierten Kollegen geführt.

Aber leider muss ich Ihnen mitteilen, dass im Westen der Bundesrepublik, in dem ich lebe, das Bild von Sachsen von den aktuellen Ereignissen überlagert wird. In vielen Gesprächen habe ich erfahren, dass der Freistaat in erster Linie nicht mehr mit beispielsweise der wunderbaren Landschaft der Sächsischen Schweiz, dem weltberühmten Thomanerchor Leipzig, der faszinierenden und befreienden Atmosphäre auf den Elbterrassen Dresdens, dem kostbaren Meissener Porzellan oder den Schlössern und Herrensitzen im Land in Verbindung gebracht wird.

In der Wahrnehmung schiebt sich dagegen in den Vordergrund, dass Bundespräsident Gauck im Juni 2016 in Bautzen als „Volksverräter“ beschimpft wurde. Oder dass Bundesjustizminister Maas bei der diesjährigen Kundgebung zum Tag der Arbeit in Zwickau mit rechten Parolen und obszönen Gesten angepöbelt wurde und er die Flucht ergreifen musste.

Dagegen erinnert sich heute kaum noch jemand an den zivilen Mut und die demokratische Kraft, die Pfarrer Christan Führer zeigte, als er 1989 die Leipziger Nikolaikirche für die Friedensgebete öffnete und in seinem Pfarrhaus von der DDR-Polizei niedergeknüppelten Demonstranten Schutz gewährte (Führer 2008). Viele seiner Kolleg/-innen leisteten das Gleiche. Leider verblasst die Erinnerung daran.

Die Parole von 1989 hieß „Wir sind das Volk“. Die Betonung lag auf dem „Wir“. Heute skandieren Pediga und Co den gleichen Satz, betonen aber das Wort „Volk“. Mit dieser Nuance wird der Unterschied zwischen der Demokratiebewegung damals und den rechten Aufmärschen heute deutlich.

Auch Sie, Herr Ministerpräsident Tillich, sind alarmiert. In Ihrer Regierungserklärung im Plenum des Sächsischen Landtags am 29. Februar 2016 stellten Sie fest: „Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus und es ist größer, als viele – ich sage ehrlich: auch ich – wahrhaben wollten“ (Starker Staat … 2016).

Das Kulturbüro Sachsen e.V. hat eine Dokumentation erstellt, die das Ausmaß rechtsextremer Aktivitäten in Sachsen detailliert belegt. Die Verfasser/-innen ziehen daraus u.a. den folgenden Schluss: „Eine Intensivierung der Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu Menschenrechten und Demokratie ist notwendig. Dialogforen mit den Bürger_innen sollten als Ausgangpunkt für eine intensive politische Bildungsarbeit in Sachsen begriffen werden.  … Politische Bildungsarbeit mit jungen Menschen allein in Schulen greift zu kurz. Auch wenn Schulen und Berufsschulen zweifellos ein sehr wichtiger Ort der Auseinandersetzung sind, muss diese auch und vor allem mit Erwachsenen und in den einzelnen Kommunen erfolgen“ (Kulturbüro 2015, 24 f.).

Das ist dringend nötig, denn die landespolitisch gewollte Ausstattung und Unterstützung der politischen Erwachsenenbildung hinkt deutlich hinter dem her, was die Institutionen und Organisationen in anderen Bundesländern an Zuwendungen bekommen. Das ist das Ergebnis meiner Expertise, die ich morgen auf dem Landesforum Weiterbildung mit dem Titel „Politische Bildung stärken!“ vorstellen werde.

Sie, Herr Ministerpräsident Tillich, haben das grundsätzliche Defizit der politischen Bildung in Ihrem Land gesehen und eine Konsequenz mitgeteilt: „Wir müssen den Staat und die politische Bildung stärken“ (Starker Staat … 201). Allerdings nennen Sie dabei vor allem die Schule und nur sehr vage und am Rande „die Akteure der politischen Bildung“ (ebd.) – wer immer damit gemeint sein mag.

Während meiner Recherche zur Situation der politischen Erwachsenenbildung in Sachsen habe ich sehr tatkräftige Kollegen schätzen und anspruchsvolle Programme kennen gelernt. Ihnen und den Teilnehmer/-innen an den Bildungsveranstaltungen würde ich wünschen, dass Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, deutlich zum Ausdruck bringen, dass auch diese Arbeit gemeint ist, wenn Sie die politische Bildung in Ihrem Bundesland stärken wollen.

Der in Sachsen geborene Erich Kästner hat mit wenigen Worten gezeigt, wie leicht es ist, etwas zu verbessern: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“ (Kästner 1969, Bd. 1, 324). Das gilt auch in entgrenzten Zeiten. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung ist ein Beispiel dafür, dass „das Gute“ getan werden kann. Dafür wünsche ich allen Beteiligten weiterhin viel Glück – zunächst für die kommenden 25 Jahre.

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