Vom verweigerten Bußgeld bis zu Tag X

Die Besatzung der Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hält an. Das Deutsche Reich existiert noch immer. Jeder Bürger hat ein Recht auf Selbstverwaltung. Was sich beim ersten Lesen wie eine Sammlung kruder Thesen anhört, bildet das ideologisch Grundgerüst von rund 19.000 Reichsbürgern in Deutschland.

Der Dresdner Politikwissenschaftler Sebastian Trept beschäftigt sich seit Jahren mit der Bewegung. Am Abend des 30. Juni  2020 diskutierte er während des Online-Seminars “Isoliert im Reich” mit Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Kontrovers vor Ort” über die Reichsbürgerbewegung in Sachsen. Im Freistaat leben laut Verfassungsschutz ungefähr 1.400 Anhänger und Anhängerinnen der Bewegung.

Verspäteter Weckruf

Bereits 2005 traten Reichsbürger erstmals mit selbst gemachten Ausweisen in Erscheinung – fernab öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit. Vor allem Verwaltungsangestellte, deren Gegenüber sich weigerten, Bußgelder zu zahlen und das mit der Nichtexistenz des deutschen Staates begründeten, machten so zuerst ungewollt mit ihnen Bekanntschaft. Erst nachdem ein Reichsbürger im Jahr 2016 einen bayrischen Polizisten beim Versuch, seine Waffen zu konfiszieren, erschoss, geriet die Bewegung ins bundesweite Blickfeld der Sicherheitsbehörden. Dennoch betonte Trept: “Reichsbürger sind nicht übermäßig gewalttätig. Die Anzahl derer, die sich auf Tag X und einen Systemsturz vorbereiten, ist verschwindend gering.” Das aktuelle Ziel des Verfassungsschutzes sei es daher, zu ermitteln, welche Personen dem harten Kern angehören oder Waffen besitzen.

Im Gegensatz zu anderen extremistischen Strömungen tragen Reichsbürger meist keine offenkundigen Symbole wie Ketten oder Tätowierungen zur Schau. Erkennungsmerkmal ist ihre Argumentation. “Die Adressaten von Reichsbürgern sind Menschen am Rand der Gesellschaft, die in einer finanziellen oder sozialen Notlage sind. Sie sind zwar staatsverdrossen, aber nicht unbedingt rechtsextrem”, sagte Trept. Er berichtete von erfolgreiche Ärzten oder Anwälten, die sich tief im Reichsbürger-Milieu bewegen. Im Seminar-Chat entbrannte daraufhin eine Diskussion, wie gefährlich Reichsbürger tatsächlich sind. Fast zwei Drittel der Teilnehmenden äußerten in einer Umfrage, dass der Staat das Thema ihrer Ansicht nach unterschätze.

Widersprüchliche Argumentationsmuster

Auf der Suche nach neuen Anhängern sind Reichsbürger hauptsächlich im Netz unterwegs. Dort finden sich auf zahlreichen Seiten Anleitungen und Textvorlagen, um beispielsweise den Rundfunkbeitrag juristisch anzufechten. Paradox scheint dabei, dass einige der dort genannten Grundannahmen unter anderem mit früheren UN-Resolutionen und Urteilen des Bundesverfassungsgerichts begründet werden – obwohl die rechtmäßige Existenz dieser politischen Organe von Reichsbürgern in Frage gestellt wird.

Im Kontext der aktuellen Hochkonjunktur von Verschwörungserzählungen ist die Reichsbürgerbewegung laut Trept keine treibende Kraft. “Doch sie haben vor Jahren bereits Zweifel an der Legitimation staatlichen Handelns gesät”, mahnte der Politikwissenschaftler. Schockiert ist er darüber, wie ungleich die Menge an Propagandamterial im Vergleich zu aufklärenden Seiten von Bund und Ländern im Internet sei. Bis heute vermisst Trept eine klare Kampagne der Politik, um der wachsenden Bewegung präventiv zu begegnen.

Am 7. Juli thematisiert die Reihe “Kontrovers vor Ort” mit "Chemical Cotton Kills" den immensen Ressourcenverbrauch in der Textilbranche. Im vorerst letzten Webinar des ersten Halbjahres 2020 stellt die Autorin Ulrike Keudig am 14. Juli ihr Buch “Die heimliche Freiheit: Eine Reise zu Irans starken Frauen“ vor.