"Viel zu viel gestreamte Meinung"

Unter dem Titel „Hier stehe ich und kann nicht anders“ hatten die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) zu einer Podiumsdiskussion in die Schlosskapelle Torgau eingeladen. Die 1. Nationale Sonderausstellung „Luther und die Fürsten“ auf Schloss Hartenfels bot Anlass und Rahmen, knapp 500 Jahre nach dem Thesenanschlag Luthers im Jahr 1517, über das Spannungsfeld zwischen innerer Freiheit, sozialer Verpflichtung, politischer Eingebundenheit und persönlicher Gewissensentscheidung nachzudenken. Über 100 Zuhörer wollten es genauer wissen.

Als Gäste waren eingeladen: Karin Berndt, „Schulrebellin“ und Bürgermeisterin von Seifhennersdorf, Henriette Kretz, Holocaustüberlebende, Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker, Hans Joachim Meyer, Sächsischer Staatsminister a. D. und Claus Weselsky, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Moderiert wurde die 90-minütige Podiumsdiskussion von Frank Richter, Direktor der Landeszentrale.

Luther - ein verrückter Held?

Wer war Martin Luther? Mit der Eingangsfrage kam die Diskussion direkt zur zentralen Fragestellung. Für Hans Joachim Meyer ist Martin Luther eine Person, die sich mit großer Leidenschaft für die Wahrheit eingesetzt habe. Gleichwohl gab Meyer zu bedenken, dass jene „kompromisslose Leidenschaft“, wie sie Luther ausgezeichnet habe, „manchmal auch zerstören kann“. Der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz bewertete Luther als „komplizierte Persönlichkeit“, der gleichzeitig ein verrückter Held gewesen sei. Solche Menschen bräuchte es für Veränderungen. Maaz ließ offen, ob Luthers Handeln reiflich überlegt oder doch zwanghaft krank war.

Klare Kante im Bahnkonflikt

„Hier stehe ich und kann nicht anders“ – nach monatelangen Bahn-Streiks, wurde mit Spannung erwartet, ob sich Streikführer Claus Weselsky in einer ähnlichen Situation sah. Den Konflikt habe der GDL-Chef nicht gewollt, aber er sei ihm auch nicht aus dem Weg gegangen. Weselsky wolle klare Kante zeigen. Auch wenn er in Luther ein Vorbild habe, so habe dies nur am Rande zu tun. Der Konflikt mit der Bahn AG sei eine Auseinandersetzung um die Zukunft der gesamten Gewerkschaftsbewegung. Weselsky räumt ein, der Konflikt sei für ihn persönlich hart und lang. Es gelte tagtäglich, zwischen veröffentlichter Meinung in den Medien und der „tatsächlichen Wirklichkeit“ vor Ort zu unterscheiden. Aus dem eigenen Erleben habe er die Überzeugung gewonnen, richtig zu handeln.

Streik? Ja, aber nicht auf Kosten Dritter

Dies blieb nicht ohne Replik des Podiums. Henriette Kretz und Hans Joachim Meyer zeigten zunächst Verständnis für die Position der GDL. Vereinigungsfreiheit und Streikrecht sind hohe Güter, es gelte aber abzuwägen. Die 80-Jährige war selbst zwei Tage im Bahnstreik gestrandet und mahnte, man die Interessen der Kunden nicht außer Acht lassen. Hans Joachim Meyer sieht vor allem einen Versuch der GDL, die eigene Machtbasis auf alle Zugbediensteten zu erweitern – auf Kosten einer anderen Gewerkschaft. Damit würde die GDL allerdings die Gewerkschaften als Ganzes gefährden. Zudem habe Weselsky ganz persönlich den Tarifkonflikt befeuert, so Meyer. Da war er: der Bahnkonflikt, in Teilen ausgetragen in der Kapelle von Schloss Hartenfels in Torgau.

Richter und Maaz im Folgenden bemüht, die Frage, wie weit man aus Überzeugung in einem Konflikt gehen könne, auf eine Metaebene zu übertragen. Für Maaz kann es keine eindeutige Antwort hierauf geben. Entscheidend sei, das eigene Handeln kontinuierlich zu reflektieren.

Gefasel von Freiheit

Luther wirft auch für unsere Gesellschaft aktuelle Fragen auf. Wie viel Opposition braucht die Gesellschaft? Gibt es in unserer Gesellschaft das Lutherische Oppositionsdenken und -handeln? Und wie viel davon ist nötig? Das Dagegen-Sein als solches ist kein Selbstweck, es ist vielmehr ein Konstruktionsmerkmal der freiheitlich-demokratischen Ordnung, so Frank Richter, Direktor der Landeszentrale.

Hans-Joachim Maaz attestiert der Gesellschaft einesteils ein zu großes Festhalten an Autoritäten, anderenteils ersticke der menschliche Drang nach Anerkennung, also dazugehören zu wollen, das Opponieren ganz allgemein: „Das Gefasel von Freiheit hängt mir zum Halse raus“, so der Psychoanalytiker plakativ.

Zu wenig eigene Meinungen?

Claus Weselsky konstatiert zudem „viel zu viel gestreamte Meinung“ im gesellschaftlichen Diskurs. Entstehen würde jene durch ein unreflektiertes und zu schnelles, bedenkenloses Übernehmen der Meinung anderer: „Da fallen sie vom Glauben ab, sofern sie einen haben.“ Besonders kritisiert Weselskys in diesem Zusammenhang die Leitmedien. Er forderte mehr Nachfragen. Jeder solle für sich selbst die verschiedenen Positionen und Argumente auf Sachlichkeit überprüfen. Demokratie ist anstrengend, denke ich beim Notieren dieser Worte des GDL-Chefs.

Henriette Kretz nutzt die Gelegenheit, an die Gesellschaft zu appellieren: Europa lebe auf einer Insel des Wohlstands. Daraus erwachse eine Verpflichtung, anderen in Not befindlichen Menschen zu helfen. Sie erinnerte daran, dass in den 1930-er und 1940-er Jahren Teile der europäischen Bevölkerung Zuflucht in anderen Teilen der Welt suchten. Nach all dem Leid, das sie als Kind im Ghetto erdulden musste, war es die Solidarität anderer Menschen, die es ihr ermöglichte, frei von Hass zu bleiben. „Mord, Hass, Aberglaube und Ausgrenzung führt zu nichts, nur Unglück“, so Kretz.

Lass die Anderen leben

„Stellen Sie sich vor, Sie sind Martin Luther, was hätten Sie zu sagen?“ war die Schlussaufgabe an das Podium. „Schulrebellin“ Karin Berndt richtete ihre Worte fiktiv an das Kultusministerium. Es ist die Bitte, eine positive Streitkultur zu etablieren - zu versuchen, im Konfliktfall den schonendsten Weg zu finden. Man laufe sonst Gefahr, „die Demokratie zu verspielen“, so das ehemalige Mitglied des Neuen Forums. Hans-Joachim Maaz forderte von jedem Einzelnen, ein Stück mehr Offenheit im Umgang mit den eigenen Grenzen. „Lass die Anderen leben“, so der Wunsch Henriette Kretz‘. GDL-Chef Weselsky kritisierte in ähnlicher Weise den Egoismus der Menschen: „Wir planen lieber das nächste private Event, als uns um Andere zu kümmern.“ Hans Joachim Meyer sorgt sich vor allem um die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Kinder seien die Zukunft, die niedrige Geburtenrate bereitet ihm Kopfzerbrechen, merkt man dem ehemaligen Sächsischen Staatsminister für Wissenschaft und Kunst an.

Alledem kann man wohl bedenkenlos zustimmen.