Rezension: Die Psychologie des Postfaktischen | Markus Appel

Eine Empfehlung aus unserem aktuellen Angebot. In diesem Sammelband werden aktuell diskutierte Phänomene und Probleme der Kommunikation im digitalen Zeitalter vorgestellt. Die anschaulichen und in sich abgeschlossenen Kapitel behandeln Themen wie Fake News, Lügenpresse, Filterblasen, Werbung, Clickbait und Social Bots. Was erwartet die Leserinnen und Leser genau?

Von der Verführbarkeit der Menschen

Psychologische Betrachtungen des Postfaktischen in den Medien

Es mag eine ungewöhnliche Empfehlung sein, aber dieses Buch sollten Leserinnen und Leser nicht mit der anschaulichen Einleitung und dem Überblick des Herausgebers Markus Appel beginnen, sondern ziemlich genau in der Mitte: „Kognitive Verzerrungen und die Irrationalität des Denkens“ lautet der Titel des zentralen Kapitels 10. Denn es geht auf reichlich 200 Seiten des Paperbacks in 18 Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren um Menschliches, Allzumenschliches. Wir sind eben keine Denkmaschinen mit neutraler, objektiver Wahrnehmung, sondern eher emotional als rational veranlagt. Mit einem Gehirn, das die Einleitung zu diesem Zentralkapitel als „notorischen Lügner“ bezeichnet, der uns immer wieder in Denkfallen locke. Fakten interessieren da nur noch in zweiter Linie. Eine Überprüfung von Informationen der Medien jeglicher Art sollte daher stets mit einer Überprüfung der eigenen Voraussetzungen, Haltungen und Gewohnheiten einhergehen. So etwa könnte die Kernaussage dieses Sammelbandes lauten. Anders gesagt: Es liegt nicht nur am Sender, wenn Botschaften verfälscht ankommen oder fehlinterpretiert werden, sondern auch am Empfänger und seiner Aufgeschlossenheit gegenüber Manipulationen. Wir glauben, was wir glauben wollen, wir bestätigen und lassen bestätigen, wovon wir ohnehin überzeugt sind und was uns vertraut ist. Die Beiträge des Buches erklären: Diese selektive Informationsverarbeitung hat durchaus einen stabilisierenden Sinn, nämlich für das individuelle Wertegerüst, das durch komplexe Phänomene überfordert werden kann.

Solche Irrationalitäten wirken bei Medienmachern und bei Konsumenten gleichermaßen. Im Internet und in den sozialen Medien lassen sich die Rollen ohnehin nicht klar trennen. Das Bändchen verurteilt niemanden dafür, beschreibt vielmehr die Verhaltensweisen in wissenschaftlich-nüchterner Sprache. Markus Appel, studierter Psychologe und Kulturwissenschaftler und Professor für Kommunikationspsychologie und Neue Medien an der Universität Würzburg, versammelt neben eigenen Beiträgen die Kompetenz von Fachleuten aus seinem unmittelbaren und ferneren Umfeld. Sie lassen das Phänomen des Postfaktischen in zahlreichen Facetten schillern. „Postfaktisch“ wurde 2016 zum Wort des Jahres gewählt. Es ist ein Modewort, aber die dahinterstehenden subjektiven Verhaltensweisen sind eine alte anthropologische Konstante und mit dem Internet zum „modischen Humbug“ avanciert, wie Markus Appel schreibt. „Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das Wissen von Expertinnen und Experten keine Rolle spielt. Jede und jeder sucht sich die Wahrheiten aus, die am besten zu den eigenen Positionen und Zielen passen“, lauten die einleitenden Sätze des Herausgebers.

Die ersten Beiträge gehen intensiver auf die Rolle der klassischen und der neuen Medien ein. Trotz der „Lügenpresse“-Rufe genießen nämlich Tageszeitungen und der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk erstaunlich hohe Vertrauenswerte bis zu 72 Prozent, während News aus dem Internet weitestgehend misstraut wird. Politische und kommerzielle Interessen stehen hinter Manipulationen, mit denen die Manipulatoren geschickt die Schwächen und die Unwissenheit ihrer Konsumentinnen und Konsumenten ausnutzen. Provokante Trolle heizen Debatten an, Clickbaits täuschen Brisanz vor. Zu den besonders lesenswerten, selbstkritischen, aber auch Verständnis weckenden Kapiteln gehört das über Nachrichtenauswahl und Nachrichtenfaktoren in Massenmedien. Ebenso das über Big Data, die Datensammelwut von Großkonzernen, die Menschen zu gläsernen Kommerzobjekten herabstuft. In der zweiten Hälfte wird das Buch psychologischer, ergründet beispielsweise Verschwörungstheorien, Fiktionen, Gerüchte und die Mechanismen der Mund-zu-Mund-Propaganda. Wie weit die virtuelle Welt Nutzerinnen und Nutzer schon entmenschlicht, zeigt das ausführliche Kapitel über Social Bots, über ausgefeilte Algorithmen also, die reale User vortäuschen.

Übersichtliche Gliederung, handliche Kapitellängen, Grafiken, Zitat- und Infokästen sorgen für eine flotte Lesbarkeit trotz der teils unvermeidlichen Fachsprache. Für ganz Neugierige folgen auf jeden Beitrag umfangreiche Quellenhinweise.

Die wohl verheerendste Folge von Fake News ist der Verlust einer gemeinsamen Daten- und Faktenbasis für gesellschaftliche Diskussionen. Nach den immer wieder eingebauten Gegenstrategien in den Themenkapiteln folgen Empfehlungen, wie durch Aufklärung, Warnung oder Faktenbetonung die Invasion von Fake News eingedämmt werden kann. Das Buch ist nicht nur deshalb dringend zu empfehlen, weil es zahlreiche englische Fachbegriffe erklärt und Manipulationsmöglichkeiten vor allem im Internet erhellt. Es ist auch ein Appell an die Selbsterforschung und an den Erwerb von Medienkompetenz mündiger Bürger.

 

„Die Psychologie des Postfaktischen“, Herausgeber Markus Appel, Würzburg

Springer-Verlag 2020, 215 Seiten