Neuer Krieg nach altem Drehbuch – wie Russland die Ukraine und ihr Kulturerbe zerstört.

Was sich derzeit in der Ukraine ereignet, spielte sich bereits – unter anderen Vorzeichen – in den 1990er Jahren auf dem Balkan ab. Unter dem Vorwand angeblich fehlender kultureller Eigenständigkeit bricht sich wieder ein aggressiver Nationalismus Bahn.

Nadiia Koval ist mit ihren Eltern vor dem Krieg aus Kiew nach Lwiw im Westen der Ukraine geflohen. Hier lebt sie aus einem Koffer, ihrem einzigen Reisegepäck. Wie lange das so bleibt, kann heute noch keiner sagen. Nadiia leitet die Abteilung Analyse des 2018 gegründeten Ukrainischen Instituts. Als dessen Vorbild diente das deutsche Goethe-Institut. Wie dieses die deutsche, sollte das Ukrainische Institut die Kultur der Ukraine in der Welt bekannt machen. Doch dann überzog Russland, nachdem es 2014 bereits den Osten des Landes überfallen und die Halbinsel Krim annektiert hatte, das ganze Land mit einem furchtbaren Krieg. Jetzt wird das ukrainische Kulturerbe tatsächlich aller Welt bekannt. Doch ganz anders als die 37-jährige Politikwissenschaftlerin und ihre Kollegen sich das vorgestellt hatten: durch seine Zerstörung. Ihre neue Aufgabe können die Mitarbeiter des Instituts eigentlich nicht bewältigen. Sie ist eine Zumutung. Der blanke Horror. Sie besteht darin, zu retten, was zu retten ist und ansonsten die Zerstörung der Kultur ihrer Heimat, der Ukraine, zu dokumentieren, die bereits jetzt unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Ganz so als wären sie gezwungen, der eigenen Beerdigung zuzusehen und diese zu beschreiben.

Als wir am Morgen des 18. März miteinander telefonieren, hat Nadiia eine kurze Nacht hinter sich. Längst ist der Krieg auch in Lwiw im Westen des Landes angekommen. „Ich gehe immer schon sehr früh ins Bett“, sagt sie. „Meist gibt es Alarm zwischen drei und vier am Morgen, dann müssen wir in den Schutzkeller. Wenn ich zeitig schlafen gehe, habe ich wenigstens ein paar Stunden Ruhe“. In der Nacht zuvor schlugen die russischen Raketen um den Flughafen in Lwiw ein – nicht weit entfernt von der provisorischen Unterkunft, die Nadiia mit ihren Eltern teilt.

Wir kennen, was sich gegenwärtig in der Ukraine ereignet

Später am Tag erreichen mich die Bilder aus dem Archiv des Ukrainischen Instituts per Mail: Charkiv, Chernihiv, Mariupol, Otkyrka, Zhytomyr – zerstörte Kirchen, Theater, historische Architektur – bereits jetzt umfasst die Liste der Verheerungen 85 Städte und Gemeinden. Ich bin wieder im zerfallenden Jugoslawien der 1990er Jahre. In Bosnien, Kroatien, Kosovo. Wir kennen das alles. Was sich gegenwärtig in der Ukraine ereignet, hat sich, unter anderen Vorzeichen, vor einiger Zeit ganz ähnlich schon einmal in Europa abgespielt. Es ist dieselbe Handschrift, die gleiche Strategie nach einem identischen Skript und mit einem ähnlichen Ziel. Das verwundert nicht, denn in einigen Fällen handelt es sich sogar um die gleichen Täter. Bei allem Schmerz und Horror, den das mit sich bringt: es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Als die Jugoslawische Nationale Armee (JNA) im Juni 1991 zunächst Slowenien, dann Kroatien und 1992 schließlich Bosnien und Herzegowina überfiel, war sie nach Zahlen und Bewaffnung eine der stärksten Streitkräfte Europas. Da die JNA Anfang 1991 bereits ausschließlich aus serbischen und montenegrinischen Soldaten bestand und durch einen rein serbischen Generalstab aus Belgrad geführt wurde, sprach man zu Recht bald von einem Überfall Serbiens auf seine Nachbarn. Das Ziel dieses Krieges war denkbar einfach: die Eroberung von Territorium und die Vereinigung aller Serben inklusive der serbischen Minderheiten in Kroatien, Bosnien und Kosovo in einem großen serbischen Staat. Da sich ein Angriffskrieg mit einer solchen Zielstellung vor der internationalen Staatengemeinschaft nicht rechtfertigen ließ, sprach die serbische Regierung unter Slobodan Milošević stattdessen offiziell vom „Schutz der serbischen Minderheiten“ vor einer angeblichen Aggression der Kroaten, Bosnier und Albaner.

Strategie der „ethnischen Säuberung“

Dabei befanden sich die serbischen Streitkräfte von Anfang an in einem Dilemma: Zwar verfügten sie über das gesamte Arsenal an schweren und leichten Waffen einer konventionell gerüsteten Armee, zwar hatten sie – anders als Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner – eine schlagkräftige Luftwaffe und Marine – jedoch mangelte es ihnen an Personal. Kroaten und Bosnier wollten nicht gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen und hatten die gemeinsamen Streitkräfte bereits im Frühjahr 1991 verlassen. Serbische Wehrpflichtige desertierten in Scharen und die Moral in der Truppe war denkbar niedrig. Zudem hatte die serbische Führung offenbar den Kampfesmut von Kroaten, Bosniern und Albanern unterschätzt. Vom technischen Standpunkt weit unterlegen, leisteten sie nichtsdestoweniger erbitterten Widerstand. Die serbische Führung wechselte daraufhin die Strategie. Das Grauen, was damit entfesselt wurde, sollte unter dem Begriff der „ethnischen Säuberung“ traurige Berühmtheit erlangen. Unter anderem der deutsche Journalist Erich Rathfelder beobachtete und beschrieb damals vor Ort die Techniken, die sich hinter dem Euphemismus verbargen. Das Dossier der Vereinten Nationen zu den Gräueltaten umfasst 6000 A4-Seiten.

Das Vorgehen war ebenso einfach wie brutal: Die größeren Städte in den umkämpften Gebieten wurden eingekesselt und für Monate wie etwa Osijek und Vukovar in Kroatien, oder sogar für vier Jahre wie Sarajevo in Bosnien, täglich mit Artillerie, Panzern und Kampfflugzeugen in Trümmer geschossen. Wenn die Moral der Verteidiger am Boden war, erledigten irreguläre Söldnertruppen wie etwa die „Arkan Tigers“ des Kriegsverbrechers Željko Raznatović oder die „Weißen Adler“ Mirko Jovićs den Rest. In Bosnien und Herzegowina wurden so ganze Landstriche entvölkert. Die besondere Grausamkeit der Irregulären hatte Kalkül: Nicht selten in aller Öffentlichkeit exekutiert, trieb die Angst ganze Gemeinden in die Flucht. Die Angreifer brauchten so keinen Partisanenkampf in den eroberten Gebieten zu fürchten.

Federführend verantwortlich für diese Strategie der verbrannten Erde war der jugoslawische Verteidigungsminister und Armeegeneral Veljko Kadijević. Anders jedoch als etwa der serbische Präsident Slobodan Milošević oder der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić konnte Kadijević für die durch ihn befohlenen Kriegsverbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden – 2001 floh er nach Russland, bekam die russische Staatsbürgerschaft verliehen und verstarb dort 2014 unbehelligt im Alter von 89 Jahren. Bis zu seinem Tod propagierte Kadijević in Interviews und Publikationen die Lesart, nach der angeblich die USA, Großbritannien und Deutschland mit ihren imperialen Bestrebungen Jugoslawien in den Krieg getrieben und zerstört hätten.

Ebenfalls kein Zufall ist sicher, dass der russische Geheimdienstoffizier Igor Wsewolodowitsch Girkin alias „Igor Strelkov“ bereits 1992 in Bosnien auf serbischer Seite aktiv war. Strelkov, gehört heute zu den führenden Köpfen der russischen paramilitärischen Kräfte. Er fehlte bei keiner der Operationen gegen die Souveränität der Ukraine – von der Besetzung der Krim bis zum Überfall auf den Donbas. Überdies ist Girkin einer der drei Verantwortlichen, die für den Abschuss des zivilen Linienflugs MH17 über der Ukraine angeklagt sind.

Ein kulturelles Narrativ als Rechtfertigung

Auch in einem anderen wesentlichen Punkt folgt der Krieg gegen die Ukraine dem Skript der serbischen Aggression in den 1990er Jahren. So hat Russland unter Wladimir Putin ein kulturelles Narrativ entwickelt und in zahlreichen Publikationen verbreitet, dass zur Rechtfertigung jeder Form der Aggression gegen die Ukraine dient. Die Anfang Juli 2021 veröffentlichte nationale Sicherheitsstrategie des Kremls beinhaltet erstmals einen ganzen Abschnitt, der sich dem Schutz traditioneller russischer spiritueller und moralischer Werte, kultureller und historischer Erinnerung widmet. Darin wird explizit gegen die „Verwestlichung der Kultur“ Stellung bezogen und die „Bewahrung des Vereinigten Kulturraums“ Russlands als Ziel angeben. Nur zehn Tage später, am 12. Juli 2021 behauptete Putin in einem auf der Internetseite des Kreml veröffentlichten Essay, das „Russen und Ukrainer ein Volk sind – ein einziges Ganzes“. Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine Ende Februar veröffentlichten wiederum die russischen Staatsmedien Ria Novosti und Sputnik versehentlich einen offenbar vorformulierten Text, der Russland zum Sieg in der Ukraine gratulierte – Minuten später aber wieder aus dem Netz verschwand. Unter der Überschrift Der Aufstieg Russlands und die neue Welt schreibt dort ein Autor mit dem Namen Petr Akopov: „Russland stellt seine Einheit wieder her […] und versammelt die russischen Völker in ihrer Ganzheit als Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen (Ukrainer)“.

Der Kopf hinter diesem aggressiven kulturellen Nationalismus ist der russische Neofaschist Aleksandr Dugin. Er gilt als einflussreicher Ideengeber und Berater Wladimir Putins. Maßgeblich in zwei Texten, den Grundlagen der Geopolitik (orig.: Основы геополитики (геополитическое будущее России) 1997) und Das große Erwachen gegen den Great Reset: Trumpisten gegen Globalisten (2021) vertritt Dugin einen auf Russland zugeschnittenen kulturellen Neoimperialismus. Extreme Rechte in Europa ebenso wie in Übersee gehören zu den Anhängern Dugins und seiner Thesen.

Nahezu identisch mit der serbischen Propaganda

Die Formulierungen, Bezugnahmen und Rechtfertigungen in diesen Dokumenten sind nahezu identisch mit der serbischen Propaganda der 1990er Jahre, einzig die Namen sind andere. Wie Putin-Russland heute, vertrat auch die serbische Führung damals einen aggressiven kulturellen Nationalismus. Dessen pseudo-intellektuelle Basis bildeten Veröffentlichungen vor allem der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Srpska Akademija Nauka i Umetnost). Ebenso wenig wie Wladimir Putin gegenwärtig war auch Slobodan Milošević kein orthodoxer Christ, sondern wie Ersterer vielmehr ein mediokrer Funktionär aus der zweiten Reihe der Nomenklatur der untergegangenen kommunistischen Herrschaftsclique. Wie Putin hatte jedoch auch Milošević das enorme Integrationspotential der Orthodoxen Kirche erkannt. Beide umwarben bzw. umwerben sie öffentlich und erhielten bzw. erhalten dafür den Segen ihres Patriarchen für ihre Kriege. So tragen auch heute die gesellschaftlichen und religiösen Eliten Russlands und die Masse der Russen den Angriffskrieg gegen Ukraine ebenso mit wie in den 1990er Jahren ein Großteil der Serben die Kriege gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien und Kosovo. Und ebenso konsequent und skrupellos wie Serbien damals setzt die Administration Putins ihren kulturellen Nationalismus auch in die Tat um. So beschreibt ein Dokument der UNESCO aus dem Jahr 2016 die Zerstörung des authentischen Kulturerbes der Krim nach der völkerrechtswidrigen Besetzung durch Russland zugunsten eines russischen Kulturprogramms, das die Krim als „urrussisches Territorium“ ausweisen soll. Nicht anders waren die Serben in den durch sie eroberten Städten verfahren.

Die Zerstörung des ukrainischen Kulturerbes, die das Ukrainische Institut nun dokumentiert, zeigt unmissverständlich den unauflösbaren Zusammenhang von Genozid und Kulturzerstörung. Eine Kultur, die als eigenständige aus Sicht des Kreml nicht existiert, wird in diesem Krieg ebenso wenig geschont, wie die Menschen, die sich zu ihr bekennen. Lässt man den Kreml gewähren, geht es um nichts weniger als die Auslöschung einer Kultur und ihrer Repräsentanten. Die Kriege in Jugoslawien haben uns gelehrt, dass derlei Pläne keine Fantasie hysterischer Historiker und Kunstwissenschaftler sind, sondern vielmehr bittere Realität.

Dieser Text erschien am 22. März 2022 in ähnlicher Fassung in den Dresdner Neuesten Nachrichten.

Autoreninfo: Tobias Strahl (*1978), geboren und aufgewachsen in Dresden, forscht seit anderthalb Jahrzehnten zum Zusammenhang von Kulturzerstörung und Genozid. 2016 wurde er an der TU Dresden mit einer Arbeit zur Kulturzerstörung in den Kriegen in Jugoslawien promoviert und durch die Philosophische Fakultät der TU Dresden für seine Arbeit ausgezeichnet. Tobias Strahl ist Mitglied des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) und Offizier der Reserve der Bundeswehr im Dienstgrad Major. Für die Bundeswehr war Tobias Strahl zwischen 1999 und 2011 als Unteroffizier und Offizier in vier Auslandseinsätzen in Kosovo und Afghanistan. Tobias Strahl lebt und arbeitet seit 2017 dauerhaft in Sarajevo, Bosnien und Herzegovina. www.tobias-strahl.de