Ist Europa sicherheitspolitisch allein zuhause?

Die Weltlage hat sich enorm verändert. Die transatlantische Partnerschaft ist gefährdet, im Nato-Bündnis zeigen sich Risse. Wie muss sich europäische Sicherheitspolitik wandeln? Darüber haben am 6. Mai Sicherheits- und Verteidigungsexperten bei der Veranstaltungsreihe "Zwischen Fronten" der Landeszentrale für politische Bildung in Chemnitz diskutiert. In Kooperation mit Europa-Haus Leipzig e. V. und dem European Council on Foreign Relations e. V.

Die europäische Sicherheitspolitik muss sich wandeln. In den USA ist mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump eine autoritär-populistische Regierung gestartet, die auch außenpolitisch einen anderen Kurs einschlägt. Die transatlantische Partnerschaft, einst Eckpfeiler europäischer Sicherheit, gerät durch die veränderte US-amerikanische Außenpolitik zunehmend unter Druck. Gleichzeitig stellen Russland und China zunehmend eine Bedrohung für Europas Sicherheit und Wirtschaftsmodell dar. Derweil wächst auch in europäischen Ländern der Einfluss von Rechtspopulisten und -extremisten. „Es hat sich so viel verändert in kurzer Zeit, dass es neue Antworten braucht“, sagt Jana Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des Think Tanks European Council on Foreign Relations. Diskussionen darüber brauche man nicht nur in der Hauptstadt, sondern müsse diese gesellschaftlich breit führen, auch in Städten wie Chemnitz.

Jana Puglierin und weitere Sicherheits- und Verteidigungsexperten sind am 6. Mai im Open Space im Stadtzentrum, direkt neben dem Chemnitzer Büro der Landeszentrale für politische Bildung, zusammengekommen, um anderthalb Stunden zu diskutieren. Knapp 30 Menschen sind im Publikum. Die Frage des Abends lautet: „Europa auf sich gestellt? Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Umbruchszeiten.“ Auf dem Podium sitzen außerdem: Johannes Varwick, Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und europäische Politik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Wolf-Jürgen Stahl, Generalmajor und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Die Debatte wird von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung veranstaltet und ist Teil der Reihe „Zwischen Fronten – Europas Rolle in der neuen Welt(un)ordnung“. Kooperationspartner sind der Europa-Haus Leipzig e. V. und das European Council on Foreign Relations.

Deutschland hat an jenem Tag einen neuen Kanzler bekommen, Friedrich Merz konnte die Wahl im Bundestag für sich entscheiden, allerdings erst im zweiten Wahlgang. „Es war knapp, aber nun haben wir eine neue Regierung“, sagt Jörg Lau, Journalist der Wochenzeitung Die Zeit, der die Runde moderiert. Das sei ein guter Moment, sich die Gesamtlage anzuschauen. „Diese neue Regierung wird sich in einer neuen Welt behaupten müssen.“ Aber wie schafft man in diesen Zeiten Sicherheit? „Müssen wir uns auf einen langfristigen Konflikt mit Russland einstellen? Irgendwann vielleicht gar auf einen Test der Nato?“, fragt Lau. „Und sind wir jetzt allein zuhause und müssen unsere Sicherheit allein diskutieren?“

Für sie gehe es bei diesen Fragen nicht nur um den Krieg in der Ukraine, sagt Jana Puglierin. Sie glaube, „dass der Konflikt Bestand haben wird, auch wenn man einen Waffenstillstand haben wird“. Europa sei auch anderweitig durch Russland bedroht, es gebe einen Informationskrieg und Cyberangriffe. Auch in diesen Bereichen sei man nicht gut aufgestellt.

Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick gibt ihr insofern Recht, dass auch er Russland als Bedrohung sehe. Aber er nimmt auch dezidiert andere Positionen ein. Er hält Russland für „eine eingehbare Großmacht“, ein „beherrschbares Problem“. Ihm sei „zu viel Alarmismus in der Diskussion“, sagt er.

Varwick bekommt Widerspruch von seinen Mitdiskutanten. „Ich weiß nicht, ob ich Putin mit der Einschätzung beherrschbar in Zusammenhang bringen würde“, entgegnet Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl. „Ich erkenne nicht, dass Putin den Wert des Lebens schätzt.“ Der russische Machthaber habe „die roteste Linie überschritten, indem er in die Ukraine einmarschiert ist“. Man müsse sich weiterhin auf viele Herausforderungen einstellen, auch auf unvorhersehbare Dynamiken. Wie kann man dabei Sicherheit gewährleisten? „Indem wir mit geoökomischen Fragen umgehen“, sagt Stahl. Man müsse sich abhärten gegen hybride Angriffe. Und: „Wir müssen verteidigungsfähig sein, auch als Gesellschaft, dann schrecken wir auch ab“.

Das Nato-Bündnis könnte sich verändern, zumindest lassen das die jüngsten Ansagen der US-amerikanische Regierung vermuten. Wie geht es damit weiter? Leise Ansagen aus den USA, dass man die Europäer im Nato-Bündnis „zu sehr als Trittbrettfahrer“ sehe, habe es schon in den vergangenen Jahren gegeben, sagt Jana Puglierin. Nun haben sich solche Töne unter der neuen Trump-Regierung verschärft. „Neu ist jetzt, dass die Amerikaner die Nato als solches nicht mehr als so wichtig für sich begreifen“, sagt sie. „Wir als Europäer stehen jetzt also vor der Lage, dass wir die Frage der Sicherheit zurück in unsere Hände bekommen haben.“

Man müsse die Lage sorgfältig beobachten, sagt Generalmajor Stahl. Auch die Amerikaner würden lernen, dass ihre Verteidigungsressourcen begrenzt seien. Schon jetzt könne man sehen, dass sich die Amerikaner eher auf Bedrohungen aus China konzentrieren und Verteidigungsressourcen von Europa in den pazifischen Raum verlagern. „Für mich hat die Nato noch eine Zukunft“, sagt er. Aber man müsse sich auf den „worst case“ vorbereiten, auch an das Szenario denken, europäische Sicherheitsstrukturen aufzubauen, auch wenn dies teuer und komplex wäre.

Johannes Varwick sieht das anders, er sei „nicht im Panikmodus“. Die Einschätzung sei richtig, dass sich die Amerikaner eher in Richtung Pazifik orientieren, aber er sehe nicht, dass sich die Amerikaner ganz aus der Nato zurückziehen wollten. In den europäischen Mitgliedsstaaten gebe es unterschiedliche Ansichten, wie bedroht man von sich von Russland fühle und wie viel man in Verteidigung investieren müsse. Deutschland gebe derzeit „mit Mühe“ etwa zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben aus, das halte er „für eine gute Basis“, mehr für unnötig, sagt Varwick.

Auch an dieser Stelle kommt Kontra aus der Runde. Man sei mit den besagten zwei Prozent „nicht blank“, sagt Jana Puglierin, müsse aber auch sehen, dass es der Bundeswehr in weiten Teilen nicht gut einsatzfähig sei. „Ein Krieg wie in der Ukraine würde uns total herausfordern, weil wir aus einer Mängelwirtschaft kommen“, sagt sie. „Wir haben über Dekaden nicht genug investiert.“

An dieser Stelle hakt ein Gast aus dem Publikum nach: Liegt es allein am Material oder hat die Bundeswehr nicht auch ein Personalproblem? „Salopp formuliert, es fehlt an allem, an Material, Personal, Infrastruktur, Ausbildung“, sagt Generalmajor Stahl.

Ein anderer Zuhörer wendet sich an Johannes Varwick. Vor einigen Jahren habe er mit ihm einen Appel für Frieden in Europa unterzeichnet. Inzwischen habe er daran Zweifel. „Wie kommen wir wieder zu einem gerechten Frieden?“, fragt er. „Da habe ich ein Problem, weil ich mir das mit diesem Putin-Regime nicht vorstellen kann. Ich sehe derzeit diese Möglichkeit nicht, sehen Sie die?“ Er halte den Impuls immer noch für richtig, antwortet Varwick, auch wenn er nicht optimistisch sei. „Natürlich ist das eine Situation, wo es nur noch schlechte Optionen gibt.“ In dieser Lage gehe es darum, „einen Interessenausgleich zu machen“, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine „vom Tisch zu nehmen“, sich damit abzufinden, dass es „territoriale Veränderungen“ in der Ukraine gebe. Man müsse auch „schmutzige Deals“ eingehen, sagt Varwick, „damit nicht ein ewiger Abnutzungskrieg weiterlaufe“. Das halte er für realistisch.

Die Debatte verläuft auch an dieser Stelle kontrovers, die anderen Experten widersprechen. Russland wolle nicht nur ukrainische Gebietsverzichte und den Verzicht einer Nato-Mitgliedschaft des Lands durchsetzen, sagt Jana Puglierin. Es werde auch eine Demilitarisierung und eine sogenannte „Entnazifizierung“ gefordert. „Das ist für mich kein Interessenausgleich“, sagt sie. „Ich habe in den vergangenen drei Jahren keinen Schritt gesehen, den sich Russland auf die Ukraine zubewegt hat“. Aus so einer Lage könne keine dauerhaft stabile Friedenslösung entstehen.

Von „Deals“ hält auch Wolf-Jürgen Stahl nichts. „Die Situation ist dramatisch, menschenverachtend in der Ukraine“, sagt er. „Wenn man jetzt einen Deal macht, dann löst es das Problem mit Putin nicht.“ Dann suche der sich neue Ziele, denn Putin wolle „eine neue Weltordnung“. Für ihn sei es geboten, die Ukraine zu unterstützen. „Bis zu dem Moment, wo das Land sagen würde, jetzt wäre uns der Preis zu hoch“, sagt Stahl. „Aber das muss die Ukraine entscheiden.“

Hinweis: Die Veranstaltungsreihe „Zwischen Fronten – Europas Rolle in der neuen Welt(un)ordnung“ stellt die aktuelle außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Herausforderungen Europas in den Fokus. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen diskutieren über globale Machtverschiebungen, europäische Handlungsoptionen und die Rolle internationaler Organisationen wie NATO, UNO und OSZE. Ziel ist ein offener Dialog über Europas Position in einer Welt im Wandel.

Weitere Termine:

21.05.2025, 18:30–20:00 Uhr, China im Fokus – Partner, Rivale, Bedrohung?, Leipzig

04.06.2025, 18:30–20:00 Uhr, Das Imperium schlägt zurück? Russlands Großmachtansprüche und mitteleuropäische Bedrohungswahrnehmungen, Leipzig

11.06.2025, 18:30–20:00 Uhr, Die USA am Scheideweg: Zwischen globaler Führung und nationaler Abschottung, Leipzig

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