"Ich wünsche mir Gespräche auf Augenhöhe"

Der Jurist Gjulner Sejdi, seit 2016 Vorsitzender des Leipziger Vereins Romano Sumnal, lebt seit 30 Jahren in Sachsen und setzt sich ein für die Rechte von Sinti und Roma. Im Interview spricht er über offenen und versteckten Rassismus.

Herr Sejdi, wir verwenden in der Veranstaltungsbeschreibung den Begriff "Antiziganismus", ein umstrittener Begriff. Wie stehen Sie, wie steht Ihr Verein dazu?

Wir beim Verein Romano Sumnal benutzen zur Beschreibung des Rassismus gegenüber Sinti und Roma lieber den Begriff Antiromaismus. Zwischen den Interessensvereinigungen gibt es allerdings unterschiedliche Ansichten darüber, ob schon der Begriff "Antiziganismus" rassistisch ist, weil er die Bezeichnung "Zigeuner" beinhaltet. Sinti und Roma verwenden das Wort "Zigeuner" nicht, um sich selbst zu beschreiben. Das Wort gibt es in unseren Sprachen nicht. Es spiegelt die Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf unsere Gemeinschaft wider und ist behaftet mit Vorurteilen und Klischees. Viele Aktivistinnen und Aktivisten möchten dieses Wort darum gern vermeiden. Ich kann allerdings auch diejenigen verstehen, die sagen, die Verwendung dieses Begriffes kennzeichnet den Rassismus und wendet sich dagegen.

Der Begriff ist verbunden mit klischierten und stereotypischen Vorstellungen vom Leben der Sinti und Roma, vom fahrenden Volk. Wie leben denn Sinti und Roma in Sachsen?

Wir sind ganz normale Menschen mit einem ganz normalen Leben. Das ist nur der Mehrheitsgesellschaft nicht bewusst. Seit dem zweiten Weltkrieg wurde unsere Geschichte in Deutschland nicht ernsthaft aufgearbeitet und es gab bisher nur wenige Debatten, bei denen auch wir als Betroffene zu Wort kamen. Menschen wie Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates deutscher Sinti und Roma, haben dazu beigetragen, die Gesellschaft zu sensibilisieren. Hier im Osten gab es aber noch weniger Austausch und Aufarbeitung. Hier schwankt das Bild zwischen den Klischees: Lagerfeuerromantik, wunderschöne Frauen und Gesang auf der einen Seite oder bettelnde Menschen in der Fußgängerzone auf der anderen. Weil wir eine neue Sicht auf unsere Kultur schaffen wollten, haben wir 2013 den Verein Romano Sumnal gegründet. In Europa leben zwischen zehn und zwölf Millionen Roma und Sinti. Für Sachsen selbst gibt es keine konkreten Zahlen. Wir haben hier Kontakt mit rund 200 verschiedene Familien. Die Zahl ist wahrscheinlich höher und ändert sich ständig, weil auch viele Roma vorübergehend als Saisonarbeiter nach Sachsen kommen, auf dem Bau, zum Beispiel oder in der Landwirtschaft.

Woher kommen die Familien, von denen Sie sprachen?

Es gibt Familien, die leben seit Anfang der Neunzigerjahre hier, andere praktisch schon immer, seit 600 Jahren und mehr. Das sind Deutsche, aber viele bleiben unter sich. Die wollen von der Mehrheitsgesellschaft nicht nur als Sinti und Roma wahrgenommen, sondern als Deutsche anerkannt werden wie alle anderen. Viele von denen, die später nach Sachsen gekommen sind, stammen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, aus Serbien Mazedonien, dem Kosovo, Bosnien-Herzegowina. Durch die europäische Freizügigkeit gibt es außerdem viele EU-Bürger, die nur zum Arbeiten herkommen, die pendeln.

Stellen Sie denn eine Diskriminierung fest von Roma und Sinti in Sachsen?

Diskriminierung bezieht sich nicht nur auf Roma und Sinti, sondern auf sehr viele Bürgerinnen und Bürger, die hierher zugezogen sind. Es gibt allerdings auch eine zusätzliche Diskriminierung, die sich speziell auf die Herkunft als Rom bezieht. Wenn beispielsweise jemand aus der Slowakei stammt oder Tschechien und dazu stereotypisch als Rom erkennbar ist, wird er noch deutlicher durch diese Brille als Fremder betrachtet, als wenn er nur Slowake wäre. Oder wenn wir jemanden aus Spanien oder Italien – richtige EU-Bürger – empfangen, beobachten wir einen Unterschied in der Wahrnehmung im Vergleich zu Menschen aus Tschechien oder Bulgarien. Das lässt sich schwer definieren, aber wir merken es.

Laut Sachsenmonitor 2018 sagten mehr als die Hälfte der Befragten, sie hätten ein Problem damit, wenn sich Roma oder Sinti in ihrer Umgebung niederließen. Wie ordnen Sie diese Aussage ein?

Ich frage mich, welche Menschen da befragt wurden und wie man dann zu diesem Ergebnis gekommen ist. Natürlich gibt es eine Diskriminierung, aber in diesem Ausmaß, kann ich sie nicht bestätigen. Wir merken schon, dass es eine gewisse Sensibilität gibt in der Mehrheitsbevölkerung, wenn sich ihnen gegenüber jemand als Sinti oder Rom outet. Die meisten Bürgerinnen und Bürger wissen jedoch gar nicht, wie Roma tatsächlich leben oder welche Menschen als typische Roma gelten könnten. Zum Beispiel hat unser Verein seinen Sitz in Leipzig Grünau, weil es hier viele Romafamilien gibt. Als wir das so kommuniziert habe, bekamen wir als Antwort: Aber wir kennen hier gar keine. Es stellt sich also immer die Frage, inwiefern jemand in ein stereotypes Bild passt. Diese Umfrage und diese Statistiken sind entstanden, ohne die Mehrheitsgesellschaft vorher richtig zu informieren. In der Öffentlichkeit wurde nie über die Kultur der Sinti und Roma gesprochen, nie über unsere Sprache. Es wurden nur Klischees reproduziert und zur Grundlage dieser Fragestellung gemacht.

Antiromaismus in der Debatte über Rassismus erst allmählich wahrgenommen. Warum, denken Sie, ist das so?

Uns fehlt noch die Lobby, wenn wir sagen, wir wollen über Antiziganismus sprechen. Es ist gut, dass so viel über Antisemitismus gesprochen wird, denn auch da geht es um das Einordnen von Bildern und um Aufklärung von Vorurteilen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, auch über Antiromaismus, über Antiziganismus, zu sprechen. Roma und Sinti sind seit Jahrhunderten unterwegs in verschiedenen Ländern, Kulturen, Bevölkerungsgruppen. Wir bringen eine breite Kultur mit. Nur hatten wir nie die Gelegenheit, das auch zu zeigen. Schon sehr lange sind wir konfrontiert mit einer Antihaltung und werden als die Fremden wahrgenommen, selbst wenn wir schon sehr lange sesshaft sind in einer Region. Es ist an der Zeit, das zu ändern, die Menschen ernst zu nehmen und ihnen Mut zu geben. Viele outen sich nicht als Roma oder Sinti, weil sie Angst haben, ihre soziale Stellung zu gefährden, ihren Arbeitsplatz, ihr Ansehen in der Mehrheitsgesellschaft. Ihre Herkunft ist ein Tabuthema, das sie nur mit einem bestimmten Kreis von Menschen teilen.

Welche konkreten Beispiele kennen Sie?

Die Sängerin Marianne Rosenberg ist eine Sintiza, die sich lange nicht dazu geäußert hat. Sie hat erst über ihre Herkunft gesprochen, als sie einen gewissen Status erreicht hatte. Es gibt viele Roma-Wissenschaftler, die zu Beginn ihrer Arbeit Sorge hatten, in eine gewisse Richtung geschoben zu werden. In der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft gibt es keine Roma-Anwälte oder -Doktoren. Uns wird unterstellt, wir können uns nicht integrieren, dabei wurde uns nie die Möglichkeit gegeben, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Im Dritten Reich wurden etwa 500.000 Sinti und Roma ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg trafen dann die Überlebenden, die zum Beispiel von ihren Lehrern in die Reihe der Konzentrationslager gestellt wurden, wieder auf die gleichen Lehrer. Und diese Lehrer hatten ihre Ansichten nicht über Nacht geändert. Das ist einer der Gründe, weswegen unsere Leute auch weiterhin benachteiligt wurden.

Also verstecken sie die eigene Herkunft und passen sich an…

Diese Menschen sind sehr stolz auf das, was sie sind. Aber sie merken genau, wann sie diesen Stolz zeigen können und wann sie ihn besser vermeiden, wann sie davon profitieren oder wenigstens keine Nachteile haben werden.

Studien belegen beispielsweise, dass Romakinder eher für die Förderschule empfohlen werden als beispielsweise für Gymnasien. Beobachten Sie institutionelle und strukturelle Diskriminierung auch konkret in Sachsen?

Welche Menschen werden als Roma gesehen? Nicht die erfolgreichen. Keiner käme auf die Idee, meine Kinder nach ihrer Herkunft zu fragen und sie basierend darauf auf die Förderschule zu schicken. Meine Kinder gehen aufs Gymnasium aber niemand kommt auf die Idee, zu sagen. Ah, die Roma gehen auch aufs Gymnasium. Viele unserer Menschen passen in das fertige Bild und deswegen wurden viele der Kinder in Förderschulen gesteckt. Wir haben hier einen Fall von einem Mädchen, das aus der Slowakei kam. Die Familie hat lange Zeit in England gelebt. Das Mädchen wurde in der Schule in eine niedrigere Klasse eingeschult als es ihrem Alter entsprochen hätte. Aber was soll denn eine Zwölfjährige anfangen mit Neunjährigen?  Natürlich hat sie nicht mitgemacht und alle sind davon ausgegangen, dass sie nicht lernfähig ist, obwohl sie ein sehr intelligentes Mädchen war. Ihre Englischlehrerin hat das erkannt, weil sie mit dem Kind Englisch gesprochen hat. Danach wurde sie gefördert. Die Verantwortlichen haben bis dahin nicht bedacht, dass die Familie lange in England gelebt hat, dass das Kind eine neue Sprache lernen, sich anpassen und neue Freunde finden muss. Viele unserer Kinder geraten in solche Situationen und sind angewiesen auf aufmerksame Lehrerinnen und Lehrer.

Sie beobachten also eine Kombination von bereits vorhandenen Vorurteilen und dem generellen Problem von Integration. Gegenseitiges Kennenlernen bereinigt Klischees. Wo kann ich denn die Kultur von Roma und Sinti kennenlernen?

Viele unserer Menschen sprechen gern über sich – wenn sie sich sicher fühlen. Aber es ist schwierig, wenn ein Fremder kommt und einfach Fragen stellt. Wenn unsere Leute sich aufgehoben fühlen, dann öffnen sie sich und man erhält auch Einblick in die Familienstrukturen. Bei den Sinti und Roma ist die Familie das gesündeste Organ. Die Familie bleibt zusammen, gibt sich Halt.

Fehlendes Vertrauen auf beiden Seiten vertieft die Klischees und auch die gegenseitige Ablehnung. Unsere Veranstaltung "Zwischen Zusammenleben, Ablehnung und Antiziganismus: Wie Sinti und Roma in Sachsen leben und wie das Miteinander gelingt" ist auch zustande gekommen, weil es im Vogtlandkreis Probleme gab: unbewohnbare Grundstücke, Gewalt gegen Sinti und Roma. Wie lassen sich solche Konflikte lösen?

Wir müssen betrachten, weswegen es zu solchen Situationen kommt. Wir sehen nur die Menschen, denen es schlecht geht. Ich kenne viele wohlhabende Familien, die hier ihre eigenen Häuser haben, bei denen man nicht auf die Idee kommt, die gehören zu den Roma und Sinti, weil sie eben nicht das Klischee erfüllen. Öffentliche Aufmerksamkeit erhalten unsere Leute, wenn sie auf der Straße leben, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie sich in einer prekären Situation befinden. Viele unserer Sinti und Roma kommen aus einfachen Verhältnissen. Sie stammen aus Rumänien, Bulgarien, Tschechien, der Slowakei. Hier arbeiten sie in Jobs, die sonst niemand möchte. Viele haben ein großes Vertrauen in die Deutschen und wissen gleichzeitig nicht, was ihre Rechte sind, zum Beispiel in Bezug auf Arbeitsverträge. Oft unterschreiben sie etwas, dessen Folgen sie gar nicht im Blick haben. Dadurch geraten sie in prekäre Situationen, arbeiten unter Mindestlohn, machen unbezahlte Überstunden, werden schlicht nicht bezahlt oder sind in unwürdigen Unterkünften untergebracht. In der Fleischindustrie arbeiten viele Roma, auf dem Bau, auf den Feldern. Sie hoffen auf den nächsten Job, der besser ist und bis dahin landen sie nicht selten in den beschriebenen miserablen Situationen, die dann zu Ärger führen.

Wie sehen Sie da Vertreterinnen und Vertreter in Verwaltungen – fühlen Sie sich unterstützt?

Ich sehe da Menschen, die sehr hilfsbereit sind. Viele der Behörden arbeiten sehr gründlich, sind hilfsbereit und machen sich Gedanken über die Situation der Roma. Wenn allerdings das Klischee noch mitspielt in der Wahrnehmung, verschlimmert sich die Situation meistens.

Was würden Sie sich wünschen von der Landespolitik in Bezug auf Sinti und Roma?

Ich wünsche mir viel. Froh bin ich darüber, dass in dieser Landesregierung erstmals auch die Frage nach den Schwierigkeiten der Sinti und Roma gestellt und das Thema im Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Wir sind bereit, mit der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen, mit Politikern, mit Journalisten. Wir wollen ernst genommen werden, um Stereotype abzubauen und zu zeigen, wer wir sind, wie unsere Kultur ist, dass wir uns in vielem nicht unterscheiden von der Mehrheitsgesellschaft. Wir wollen weg von dem Bild, dass Sinti und Roma arm sind, dass sie immer ein bestimmtes Aussehen haben. Ich wünsche mir Gespräche auf Augenhöhe. Ich möchte unsere Anliegen einbringen und die unserer Familien. Ich will die Möglichkeit haben, bei anderen ein neues Bild zu schaffen über Sinti und Roma, das sich unterscheidet von dem, was sie über uns von ihren Opas und Omas gehört haben.

Die Veranstaltung "Zwischen Zusammenleben, Ablehnung und Antiziganismus: Wie Sinti und Roma in Sachsen leben und wie das Miteinander gelingt" findet am Mittwoch, dem 24. März 2021, 19 Uhr, online statt. Mehr Informationen zum Verein "Romano Sumnal" finden Sie hier. Ein Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung bietet ebenfalls noch einmal einen umfassenden Einblick in das Thema Antiziganismus/Antiromaismus.