Hallo Brüssel, Teil 6 - Alles begann im Lande der Sowjets. Comics und Politik

Endspurt in Brüssel. Die letzte Woche in Brüssel hat begonnen und wegen der vielen Gesprächstermine in den letzten Tagen ist leider viel liegen geblieben. Daher kann ich auch erst heute vom Wochenende berichten. Am Wochenende begab ich mich auf die Suche nach Comics. Genauer gesagt war es eher eine Spurensuche.

Erkundet man Brüssel zu Fuß, fallen rund um das Stadtzentrum Häuserwände auf, die entweder künstlerisch verziert sind oder auf denen Comicfiguren von links nach rechts an einem Tau schwingen, auf einer Leiter kletternd Dächer erklimmen oder noch sehr viel verrücktere Sachen tun.

Auf den Spuren von Tim und Struppi

Dies erschien mir eine sehr witzige Idee zu sein - Fassaden derart zu gestalten, dass ich beschloss, mal wieder neugierig zu sein. Und neugierig war und bin ich ganz besonders auf Hergé, den Vater von Tintin und Milou. In Deutschland sind uns die beiden als Tim und Struppi bekannt.

Eigentlich hieß Hergé ganz anders: Georges Prosper Remi. Dreht man seine Initialien um und spricht sie sehr französisch aus, dann erhält man Hergé, wobei das H am Anfang stumm ist und nicht mitgesprochen wird. Hergé wurde 1907 in Etterbek geboren. Etterbek ist heute ein Stadtteil von Brüssel, in dem sich auch die Universität befindet. Georges Remi wuchs in einem sehr katholisch-konservativen Elternhaus auf, trat in seiner Kindheit in die katholische Pfadfinderjugend ein und beschäftigte sich bereits sehr früh mit dem Zeichnen.

Fremdenfeindlich und rassistisch?

Sein erster "Comic" erschien 1923 in einem Pfadfindermagazin. Hergé war damals gerade 16 Jahre alt. Zwei Jahre später schloss er die Realschule ab und arbeitete fortan bei einer Zeitung namens Le XX Siècle, die hauptsächlich einen klerikalen und sehr konservativen Leserkreis hatte. Gegen Ende der 1920er Jahre wurde Hergé die Verantwortung für die Kinderbeilage dieser Zeitung übertragen. Fortan illustrierte er Erzählungen und fügte, wie zu dieser Zeit in amerikanischen Comics bereits üblich, Sprechblasen hinzu. Er schrieb sogar eine eigene Geschichte, die zwischen 1929 und 1930 erschien. Diese Geschichte heißt "Im Lande der Sowjets". Sie ist zugleich die Geburtsstunde von Tim und Struppi; und sie ist auch heute noch sehr umstritten.

Dazu muss man wissen, dass der Direktor der Zeitung Le XX Siècle ein sehr konservativer Mensch war, der insbesondere die Entwicklungen im damaligen Russland sehr argwöhnisch betrachtete. "Im Land der Sowjets" spiegelt diese Haltung offenkundig wieder und so sind z. B. die russischen Charaktere stereotyp, ja nahezu fremdenfeindlich überzeichnet.

Das Lachen bleibt im Hals stecken

Das zweite Abenteuer von Tim und Struppi "Tim im Kongo" ist ebenso kritisch zu betrachten. Auch hier nahm Hergé zwar Bezug auf aktuelle Ereignisse (Kolonialisierung und katholische Missionierung des Kongo durch das Königreich Belgien unter König Leopold II), die szenische Umsetzung jedoch ist teilweise rassistisch.

Ob der junge Hergé sich damals einfach nicht traute, sich über die Anweisungen seines Chefs hinwegzusetzen, er es einfach nicht besser wusste oder nicht besser wissen wollte oder aber ganz geflissentlich wider besseren Wissens seine Arbeitsaufträge erfüllte, bietet auch heute noch Stoff für Spekulation.

Erfahrung hilft gegen Vorurteile

Erst das fünfte Abenteuer läutete eine Wende ein. Hergé begann, sich von der Bevormundung des Zeitungsdirektors und den an ihn herangetragenen Vorurteilen zu lösen. Und hier sieht man einmal wieder, dass eine direkte Begegnung mit dem Unbekannten stets die beste Medizin gegen Vorurteile ist.

Just zu diesem Zeitpunkt als Hergé an seiner Geschichte schrieb, erreichte ihn die Bitte des Kaplans der Universität Löwen, sensibel mit der darin geplanten Darstellung Chinas umzugehen. Hintergrund: der Kaplan war insbesondere für die chinesischen Studenten zuständig. Über diesen Kaplan machte Hergé Bekanntschaft mit Chang Ch'ung-jen, Student der Bildhauerei an der Brüsseler Kunstakademie. Die beiden freundeten sich sehr schnell an; Chang erzählte Hergé ausführlich über Chinas Kunst, Kultur und Geschichte und Hergé beschloss von da an, in seinen Geschichten auf exakte und klare Beschreibungen und Zeichnungen zu achten.

Ein Zeichen der Freundschaft der beiden ist im Übrigen der in der Geschichte "Der Blaue Lotos" vorkommende Charakter "Tschang", der ebenfalls aus China stammt und Tims Freund wird.

Der Krieg verändert alles

Drei Jahre später begann der Zweite Weltkrieg und Hergé wurde zum Wehrdienst einberufen. Kurze Zeit darauf erfolgte die Besetzung Belgiens und Hergé verdiente nach seiner Entlassung aus der Armee sein Geld bei der Zeitung Le Soir, die zumindest indirekt von den Deutschen gesteuert wurde.

Dies hatte Auswirkungen auf die Abenteuer von Tim und Struppi - "Im Reich des Schwarzen Goldes" musste vorerst unvollendet bleiben. Auch der Papiermangel zwang Hergé zur Anpassung seiner Arbeitsweise. Statt der üblichen Doppelseite produzierte er nun Bildstreifen mit 3 bis 4 Bildern - das heutige "Strip"-Format.

Zudem widmete sich Hergé weniger den aktuellen Themen und Geschehnissen. Stattdessen verarbeitete er "fantastische" Inhalte, darunter eine Schatzsuche oder Legenden und Mythen. Statt der Handlung standen nun die Charaktere im Vordergrund; der bis dahin einsame Tim bekam mit Kapitän Haddock und Prof. Calculus (in der deutschen Übersetzung: Prof. Bienlein) eine Ersatzfamilie.

Schuld und Last

Nach Ende der deutschen Besatzung und des Krieges schlossen die Alliierten die Zeitung Le Soir und Hergé wurde mit Vorwürfen konfrontiert, NS-Sympathisant gewesen zu sein. Es folgten Verhaftungen, Untersuchungen und Monate der Arbeitslosigkeit. Schließlich fand Hergé eine Arbeit bei dem bekannten Widerstandskämpfer Raymond Leblanc, der am 26.9.1946 das Magazin Tintin zum ersten Mal herausgab.

Unermüdlich produzierte Hergé von da an für das Magazin weitere Abenteuer von Tim und Struppi bis er schließlich in den 1950er Jahren sein Leben nach einer für ihn sehr schweren Zeit komplett umstellte. Er, der katholisch geprägte Mann, verliebte sich in eine 28 Jahre jüngere Frau. Diese Liebe war so stark, dass er sich von seiner Ehefrau trennte und eine Beziehung mit Fanny Vlaminck begann, die er dann 1977 nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete.

Freunde für's Leben

Nach quälenden Albträumen und medizinischen Behandlungen nimmt Hergé seine Arbeit wieder auf und produziert "Tim in Tibet", das 1958 und 1959 erscheint. Es war eine Katharsis. Hergé verarbeitete darin sein bisheriges Leben, seine Albträume und die unglücklichen Momente. "Tim in Tibet" thematisiert zudem die Suche (und irgendwie auch die Sehnsucht) Hergés nach seinem alten Freund Chang, den er Jahre zuvor aus den Augen verloren hatte.

Es sollten noch drei weitere Abenteuer in sehr viel längeren Abständen erscheinen, bevor Hergé 1981 schließlich das Unmögliche gelingt - er fand Chang Ch'ung-jen wieder und die beiden trafen sich ein letztes Mal. Nach langer schwerer Krankheit starb der Vater von Tim und Struppi 1983 in Woluwe Saint-Lambert, das heute ebenfalls ein Stadtteil von Brüssel ist. Hergé wurde auf dem Friedhof Ukkele am Dieweg beigesetzt.

Tim und Struppi machen Politik

Doch damit ist die Geschichte von Tim und Struppi noch nicht zu Ende. Zwar hatte Hergé in seinem Testament verfügt, dass die Abenteuer nicht fortgeführt werden sollten. Hergés Witwe gründete 1987 die Hergé-Stiftung, die sich seitdem um das Wohlergehen von Tintin und Milou kümmert. Im Jahr 2001 verhinderte die Hergé-Stiftung die Veröffentlichung von "Tim in Tibet" in China. Dort sollte sie unter dem Namen "Tim im chinesischen Tibet" verbreitet werden. 2006 wurde die Stiftung hierfür mit dem "Light of Truth Award" durch den Dalai Lama ausgezeichnet.

Insgesamt gibt es 24 Abenteuer von Tintin-Kuifje und Milou. Das letzte davon besteht aus Skizzen, Studien und Notizen - Hergé konnte es leider nicht vollenden. Im Übrigen kann man sich über Hergé, Tim, Struppi und Prof. Bienlein im Belgischen Comic Museum in Brüssel umfassend informieren, in die Abenteuer hinein schnuppern oder sich gleich alle kaufen - die gibt es dort nämlich auch in anderen Sprachen.

Tot ziens!