„Goebbels würde es schätzen.“ Was Putins Informationskrieg für unsere Freiheit bedeutet

Seit Jahrzehnten versucht der Kreml die Informationshoheit in Russland zu erzielen. Freie Medien und Zivilgesellschaft werden behindert und verboten. Kremltreue Medien prägen für die meisten Russinnen und Russen das Bild von der Welt. Der Ukraine-Krieg offenbart das abermals. Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen berichtet am 16. Juni in Chemnitz über diesen Informationskrieg und zieht drei Lehren für den Umgang mit Medien in unserer freien Gesellschaft.

Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine ist Misha Katsurin ein erfolgreicher Unternehmer in Kiew. Er betreibt mehrere Restaurants, ein Modelabel, beschäftigt 250 Menschen. Mit Kriegsbeginn versucht er seine Frau und die zwei Kinder aus dem Land zu bringen. Warum? Fragt sein in Russland lebender Vater am Telefon. Katsurin berichtet von den Bombardements auf Kiew. Das könne nicht sein, widerspricht der Vater. In einer friedlichen Militäroperation würden die Russen warme Kleidung, Essen und vor allem Sicherheit bringen – sie würden die Ukraine vor einem Nazi-Regime schützen. Katsurin versteht die Welt nicht mehr: „Vater, ich erfinde das alles nicht. Ich sehe es mit meinen eigenen Augen.“

Das Gespräch endet im Streit. Katsurin erkennt seinen tiefgläubigen Vater, der unmöglich einen Krieg unterstützen würde, nicht wieder. Das Telefonat hinterlässt Katsurin aufgewühlt. Er muss diese Erfahrung teilen. Sein Instagram-Post beginnt mit den Worten: „Goebbels würde es schätzen: Mein eigener Vater glaubt mir nicht.“ Offenbar gibt es viele solche Telefonate in den Anfangstagen des Krieges. In den mehr als 10.000 Kommentaren berichten viele Ukraine von ähnlich Erfahrungen mit ihren in Russland lebenden Verwandten.

Wir sind in einem Informationskrieg

Neben der persönlichen Tragik zeigt Katsurins Geschichte die schleichende Wirksamkeit jahrzehntelanger propagandistischer Desinformation, einen massiven Mangel an Faktenvertrauen und Medienkompetenz inmitten eines Informationskrieges. Dieser offenbart sich gerade deutlich rund um den Ukraine-Krieg, aber er ist global, alltäglich und betrifft uns alle. Darüber berichtet Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen vor 60 Gästen in seinem Vortrag „Fakt und Fake. Über die neue Macht der Desinformation und die Kunst des Miteinander-Redens“.

In seinen Eingangsworten gibt Pöksen die Linie vor, entgegen vieler Postulate würden wir nicht in einem postfaktischen Zeitalter leben. Eine Anerkennung dieses Begriffes käme einer Kapitulation gleich und so wird der Abend zu einer Präventions-Lehrstunde gegen Desinformation. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges leitet Pörksen drei zentrale und allgemein gültige Fragen und Lehren ab.

Wie erreicht man diejenigen, die kaum noch erreichbar sind?

Seit Jahren betreibt Putin in Russland ein großes Menschen- und Medienexperiment. Sein Ziel: die totale Informationskontrolle. Inzwischen ist der unabhängige Journalismus faktisch abgeschafft, die Medien sind gleichgeschaltet und das Internet massiv reguliert. Der Kreml bestimmt, welche Informationen die Russinnen und Russen in Rundfunk, Presse oder Internet finden: Demnach gibt es angeblich in der Ukraine keinen Krieg, der Westen und die NATO sind Schuld und in Kiew regiert ein Nazi-Regime. Bis zum Telefonat mit Misha hatte Katsurins Vater keine anderen Informationen. Er ist in einer Informationsblase gefangen und hegt keine Zweifel. Auch mit Blick auf die westlichen Demokratien fragt Pörksen, wie gelingt es, zu den in Informationsblasen gefangenen Menschen kommunikative Brücken zu bauen?

Pörksen berichtet von verschiedenen Intervention der letzten Monate. Herausragend ist die Videobotschaft von Arnold Schwarzenegger vom 18. März. Dabei spricht Schwarzenegger die Menschen in Russland direkt an. Er belehrt und verurteilt nicht, er respektiert die andere Perspektive, er nennt Fakten und bietet den Unsicheren eine Rettungsleine an. Dieses „Meisterwerk der politischen Rhetorik“ erreicht die Zielgruppe und wird zum Debattengegenstand im Staatsfernsehen.

Wie erschüttert man jahrzehntelang verfestigte Weltbilder? Wie entfremdet man ein verblendetes Volk von seiner Führung? Diese kommunikationspsychologischen Fragen sind nicht neu, Thomas Mann gab bereits in den 1940er Jahren bei seinen BBC-Reden an die „Deutschen Hörer“ die Antwort: Die Adressaten als Individuen in ihrer Zwangslage ernst nehmen, wertschätzen und emotional erreichen. So spricht Schwarzenegger die russischen Soldaten direkt an: „Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage, ihr habt es mit euren eigenen Augen gesehen.“ Wie bereits Thomas Mann appelliert Schwarzenegger an die eigene Urteilskraft und betont die individuelle Verantwortung der Soldaten indem er ihnen sagt, ihr habt es gesehen, ihr könnt euch später nicht herausreden.

Allerdings hat dieser kommunikationspsychologische Ansatz bisher enge zwischenmenschlichen Grenzen. Pörksen empfiehlt daher den Fokus auf die gesellschaftliche Ebene im Sinne einer kommunikationspsychologischen Krisenkommunikation zu weiten.

Wie kommt man vor die Desinformations-Welle?

Katsurins Beispiel zeigt, wenn sich die Fake-Narrative erst einmal verfestigt haben, hat die Wahrheit, haben Fakten kaum noch Wirkungskraft. Wie bringt man also die Desinformationsbekämpfung aus einem Reaktions-Modus in einen präventiven Modus?

Anhand aktueller Beispiele beschreibt Pörksen die Möglichkeiten. Während im Januar/Februar 2022 der Kreml eine bevorstehende Invasion leugnet, zeigen Sattelitenbilder massive russische Truppenbewegungen und damit offensichtliche Vorbereitungen des Überfalls. Besonders die USA warnen detailliert, so bleibt für eine propagandistische Legitimierung oder Bagatellisierung des Krieges durch den Kreml kein Raum. Die Mär von der „Spezialoperation zur Entnazifizierung“ der Ukraine greift nur intern. 

Kurz nachdem russische Hacker ein Fake-Video lancieren, in dem Präsident Selenskyj scheinbar zur Kapitulation aufruft, postet Selenskyj umgehend ein Antwort-Video. Das russische Fake-Video kommt nicht zur Entfaltung, weil Selenskyj vorbereitet ist und weil die ukrainische Bevölkerung vor derartigen Propaganda-Versuchen gewarnt ist.

Als weiteres Beispiel führt Pörksen den Umgang mit Querdenker-Kampagnen an. Die Argumentationsmuster von Impfgegnern ähneln sich seit dem Kaiserreich: Da ist von höheren Mächten und Verschwörungen die Rede, Impflinge seien Versuchskaninchen in einem menschenverachtenden Experiment oder es wird von Zwangsimpfungen geraunt. Kern dieser Muster ist immer ein Opfer-Narrativ, aus welchem sich vermeintlich ein legitimes Widerstandrecht ableiten würde.  

Der Weg vor die Desinformations-Welle führt über die Kenntnis der Strategien, Argumentationsmuster und Arbeitsweisen des jeweiligen Propaganda-Milieus, die Ableitung adäquater Szenarien sowie die Sammlung und Veröffentlichung entsprechender Informationen. Es gilt, anstehende Kommunikationsräume zu antizipieren und aufklärerisch mit Fakten zu besetzen, bevor die Fake-Maschine anläuft. Neben Vorbereitung und Fakten zählt vor allem Tempo, wie Selenskyjs Antwort-Video zeigt.   

Wie gelingt Medienbildung?

Wie auch bei anderen Bildungsthemen ist Finnland bei der Frage der Medienbildung ein Vorreiter. Als Reaktion auf die russische Krim-Besetzung 2014 entwickelte Finnland ein critical thinking curriculum. Ab Klasse 3 gehört die Auseinandersetzung mit Desinformation zum Schulstoff. Schon Grundschülerinnen und -schüler lernen, sich kompetent mit der Funktionslogik von Medien, Manipulationstechniken, Kunst der Rede, Quellenanalyse und gängigen Fake-Narrativen auseinander zu setzen. Ziel ist die Medienmündigkeit aller Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer präventiven Desinformationsbekämpfung.

Mit Blick auf Deutschland zeigt sich Pörksen kritisch. Trotz offensichtlichem Bedarf – an dieser Stelle sei auf die von der SLpB 2021 veröffentlichte Medienkompetenzstudie verwiesen – würde eine schnelle Umsetzung am lethargischen Umgang der deutschen Bildungspolitik mit der laufenden Medienrevolution scheitern. Die im Digitalpakt beschlossene milliardenschwere Ausstattung unserer Schulen mit Hardware sei richtig und nötig, aber vollkommen unzureichend.

Auch ohne die aktuelle Kreml-Propaganda besteht Handlungsbedarf. Wir befinden uns mitten in einer Neukonstruktion der Kommunikation und so geht es um die fundamentale Frage, wie wir unsere Öffentlichkeit als geistigen Lebensraum unserer liberalen Demokratie schützen. Medienmündigkeit ist hier das Schlüsselwort. Hardware und technische Benutzerkompetenz sind nötig, von zentraler Bedeutung aber ist der bewusste Umgang damit. 

Vier Trends für die redaktionelle Gesellschaft

Dabei sieht Pörksen vier zentrale Herausforderungen. Erstens: Mit den neuen Medien gibt es eine neue Geschwindigkeit. Ein Klick, und die Nachricht ist in der Welt. Tempo und Genauigkeit stehen zunehmend im Konflikt. Zweitens: Die explodierende Vielzahl an Informationen schafft neue Ungewissheiten. Die einhergehende Orientierungssuche bietet Andockpunkte für gezielte Desinformationen. Drittens: Das Internet ist voll neuer Anreize. Trash-News konkurrieren mit seriösen Nachrichten um Aufmerksamkeit. Und nicht selten gewinnt Interessantheit vor Relevanz. Und Viertens: Es bieten sich neue Manipulationsmöglichkeiten. Einerseits befördern Fake-Identitäten und Apps für Deepfakes eine Demokratisierung der medialen Manipulation. An deren Effektivierung arbeiten andererseits Staaten mit Troll-Armeen und Künstlicher Intelligenz, um zum Beispiel freie Wahlen zu beeinflussen.

Pörksen hofft auf eine Graswurzelrevolution der Medienbildung. In einer Zeit, wo jeder auch Sender ist, braucht es journalistische Kulturtechniken und eine journalistische Ethik für alle. Die Grundprämissen einer redaktionellen Gesellschaft sollten sich an den Handlungsmaximen guten Journalismus orientieren: Prüfe erst, sende später. Höre auch die andere Seite. Mache Dinge nicht größer, als sie sind. Und, sei skeptisch, beachte eigene blinde Flecken, Vorurteile und Urteile.

„Misha, der Krieg ist schrecklich“

Die Geschichte von Misha Katsurin geht weiter. Er weiß um die russische Propaganda und er gibt nicht auf, telefoniert in den Folgewochen immer wieder mit seinem Vater. Offen und ohne Belehrungen finden sie zueinander, hören einander zu. Katsurin berichtet vom Alltag im Krieg, schildert seine Nöte. Später meint sein Vater: „Misha, der Krieg ist schrecklich, und es sterben Menschen.“   

Warum sollten nicht weitere kommunikative Brücke nach Russland gelingen? 11 Millionen Russen haben Verwandtschaft in der Ukraine. Für Katsurin sind das 11 Millionen Informationskanäle, um die Kreml-Propaganda zu untergraben. Und wenn die russischen Eltern, Tanten, Onkels und Cousins nur zwei, drei Freunden von der Wahrheit berichten, sind 30-40 Millionen Menschen eine sehr kritische Masse in Russland, hofft Katsurin. Er baut eine Homepage und teilt unter dem Hashtag #Papabelieve Erfahrungen, Tipps und Argumentationshilfen für die schwierigen Gespräche mit den russischen Verwandten. Seine Restaurants sind inzwischen Geschichte, jetzt ist Katsurin Aktivist in Sachen Medienmündigkeit.