Fünf Fragen an Igal Avidan
SLpB: In Ihrem Buch geben Sie Menschen Raum, die Brücken zwischen jüdischen und arabischen Israelis bauen. Was hat Sie bei diesen Begegnungen am meisten überrascht?
Avidan: Mich hat am meisten überrascht, wie sehr diese Menschen erzählen wollten. Fast alle waren sofort gesprächsbereit, haben andere Kontakte vermittelt und sehr offen über ihre Aktivitäten berichtet – manchmal auch über ganz private Engagements und besonders von arabischer Seite über die Geschichte ihrer Familien. Gleichzeitig war es erstaunlich, wie groß manchmal die Diskrepanz ist zwischen jüdischen und arabischen Stadtteilen in der gleichen Stadt – Stadtteilen, die nichts miteinander zu tun haben. In Lod zum Beispiel habe ich zwei ganz unterschiedliche Führungen erlebt: erst durch einen Stadtteil mit einem modernen neuen Museum, dann durch einen anderen Stadtteil, der wie ein Slum wirkte. Und trotzdem: Der arabische Anwalt, der mich dort herumführte, lebt heute in einer Villa unter Privilegierten – nachdem er sich juristisch das Recht erstritten hat, in ein eigentlich nur für Juden vorgesehenes Viertel zu ziehen. Das hat mich beeindruckt.
SLpB: Eine Ihrer Protagonistinnen, Noha Khatib, beschreibt, wie persönliche Geschichten oft leichter Zugang zu Menschen finden als reine Fakten. Wie wichtig sind solche Begegnungen, gerade auch in der aktuellen Situation, um Vorurteile abzubauen?
Avidan: Ich finde das ganz wichtig. Nehmen wir den jetzigen Konflikt: Da gibt es einen israelischen Akademiker, der fließend Arabisch spricht und Botschaften von Palästinenserinnen und Palästinensern aus Gaza übersetzt. Er verbreitet Stimmen, die das Massaker am 7. Oktober kritisieren, die Hamas-Regierung offen oder halb offen kritisieren und von ihrem Hunger und ihrem Leiden berichten. Das macht Eindruck, gerade weil er selbst jüdischer Siedler war und sogar einen Terroranschlag überlebt hat. So jemand ist glaubwürdig, er fungiert als Vermittler. Denn wie soll sich eine Palästinenserin oder ein Palästinenser in Israel Gehör verschaffen? Niemand kennt einen, man hält alles für Propaganda der Hamas. Aber wenn dieser Akademiker auftritt, verschafft er sich Gehör und genau das zeigt, wie wichtig solche Vermittlungen sind. Genau das wäre auch hier in Deutschland wichtig: mehr Begegnungen zwischen jüdischen und arabischen Menschen. Ich erlebe zum Beispiel an Schulen, dass Jugendliche mit arabischem Hintergrund, besonders die Mädchen, großes Interesse zeigen – sie wollen wissen, wollen erzählen, wollen wahrgenommen werden. Das wäre auch ein wichtiges Signal an jüdische Gemeinden, sich stärker daran zu beteiligen.
SLpB: Viele Ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner sprechen von Hoffnungen und Visionen – von Gleichberechtigung, gegenseitigem Verständnis oder friedlichem Zusammenleben. Welche dieser Stimmen klingt Ihnen bis heute besonders nach – und haben diese Hoffnungen in der aktuellen, angespannten Situation noch eine Chance?
Avidan: In engem Kontakt bin ich zum Beispiel noch mit Fadi Kassem aus Akko, einem jungen Araber, der ganz spontan als Krankenpfleger einem schwer verletzten jüdischen Gleichaltrigen das Leben gerettet hat, der von einem Mob überfallen wurde. Nawal Abu Amir, die beduinische Schulleiterin, schafft es, trotz einer 1,5 Kilometer langen Mauer zwischen dem arabischen und dem jüdischen Stadtteil Austausch zwischen ihren arabischen Schülern und jüdischen Schülern jenseits der Mauer zu organisieren. Das sind Stimmen, die nachklingen. Und was die Hoffnung betrifft: Die israelische Nationalhymne heißt Hatikwa, „Die Hoffnung“. Sie wurde schon 60 Jahre vor der Staatsgründung gesungen, als sie zur Nationalhymne wurde. Hoffnung braucht manchmal länger, aber sie stirbt bekanntlich zuletzt.
SLpB: Manche Ihrer Porträtierten wirken wie stille Heldinnen und Helden des Alltags. Braucht es mehr solcher Menschen, um den gesellschaftlichen Riss zu überbrücken?
Avidan: Sie sind stille Heldinnen und Helden, und sie selbst halten sich gar nicht für außergewöhnlich. Bei Fadi Kassem habe ich das bemerkt – er hat einfach Menschenleben gerettet, was er tagtäglich als Krankenpfleger tat. Viele andere sind ähnlich. Zum Beispiel Uri Buri, der bekannte Restaurantbesitzer, der heimlich die Lage in der Altstadt von Akko entspannt, indem er arabische Jugendliche beschäftigt, mit arabischen Köchen arbeitet oder Familien unterstützt – ohne es an die große Glocke zu hängen. Für ihn ist das selbstverständlich. Wichtig ist aber: Heldinnen und Helden sind Einzelne. Das Problem ist, dass sie ihre Taten meist für sich behalten und niemand von ihnen weiß. Aber wenn man ihre Geschichten weitererzählt, haben sie eine größere Wirkung – dann können sie auch ein Vorbild für andere werden.
SLpB: Ihr Buch macht Mut, dass ein Miteinander möglich ist – trotz Gewalt, Misstrauen und politischer Spannungen. Was möchten Sie, dass Ihr Publikum aus den Lesungen mitnehmen?
Avidan: Ich möchte klarmachen: Israelis und Juden in Deutschland sind nicht verantwortlich für die Politik der israelischen Regierung – weder für das Gute noch für das Schlechte. Viele verwechseln Israel mit den Israelis und richten ihre Wut dann gegen Menschen, die sie zufällig auf der Straße sehen, weil sie Hebräisch sprechen oder einen Davidstern tragen. Das darf nicht sein! Wir wollen nicht, dass der Konflikt aus Israel und Palästina nach Deutschland übergreift. Differenzierung ist wichtig und ich versuche jedenfalls, dazu beizutragen.
„… und es wurde Licht!“ von Igal Avidan erschien 2023 im Berenberg Verlag. Es ist zur Ausleihe in unserer Bibliothek verfügbar.
Erleben Sie Igal Avidan live:
Im Rahmen unserer Reihe Kontrovers vor Ort liest der Autor aus seinem Buch und erzählt von den Begegnungen, die ihn besonders bewegt haben. Eine Gelegenheit, die Geschichten hinter den Geschichten direkt von ihm zu hören.
Auch bei uns im Programm:
Einen anderen, sehr persönlichen Blick eröffnet Michael (Gerber) Touma in seinen Lesungen: Er erzählt die Liebesgeschichte seiner jüdischen Mutter Haya und seines palästinensischen Vaters Emile, die 1949 in Haifa begann – eine Liebe gegen Widerstände, die doch bis über den Tod hinaus Bestand hatte.
