"Früher dachten die Polen, Europa ist der Himmel."

Europa hat mit der Flüchtlingskrise und der zunehmenden Rückbesinnung auf nationalistische Werte in den Mitgliedsstaaten zu kämpfen. Polen steht mit seiner 2015 gewählten rechtskonservativen Regierung mittendrin. Wie erleben die Polen die Dynamiken unserer Zeit? Auf der SLpB-Gedenkstättenfahrt 2016 hatte Lucia Preiss die Chance, dazu ein Gespräch mit einer polnischen Historikerin zu führen.

Es ist Mitte Februar in Polen. Der Himmel ist grau und der eisige Wind weht über die flache, kahle Landschaft. Wir sind in Oświęcim - einer Stadt, die durch die Gräueltaten der Nationalsozialisten Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu trauriger Berühmtheit gekommen ist. Damals hieß sie Auschwitz und beherbergte den größten Arbeits- und Vernichtungslagerkomplex der Welt. Doch das soll keine Geschichte über den Nationalsozialismus sein – vielleicht ist sie es dennoch am Rande.

Primär ist es jedoch eine Geschichte über Frau S. und ihre Gedanken zu Polen im Jahr 2016.

Frau S. ist Ende Vierzig und Historikerin. Sie begleitet unsere Gruppe zwei Tage lang und führt uns durch die Lagergelände. Schon am ersten Tag ist mir aufgefallen, wie reflektiert und vielschichtig ihre Äußerungen sind und wie sehr sich ihre Führung von den der anderen Guides absetzt. Die Wege zwischen den Stationen der Gedenkstätte Birkenau sind lang, die Fläche beträgt über 170 Hektar. Wir kommen ins Gespräch.

Frau S. erzählt, dass sie vor zehn Jahren wegen eines Arbeitsangebots ihres Mannes nach Oświęcim gezogen ist. Ich frage sie, was sie damals über den bevorstehenden Umzug dachte. „Am Anfang konnte ich das gar nicht glauben: Oświęcim, wirklich? Das ist doch nicht möglich! Inzwischen schäme ich mich dafür. Die Stadt hat 800 Jahre Geschichte und viele interessante Perspektiven.“  

Trotzdem war der Umzug nach Oświęcim  nicht unproblematisch – zu der Tätigkeit als Guide kam sie über Umwege. „Ich mochte meinen Beruf als Lehrerin, er hat mir wirklich Spaß gemacht. Leider gibt es hier nicht so viele junge Leute, deswegen konnte ich nicht weitermachen. Aber die Touristenführungen sind auch gut und als Historikerin fand ich schnell eine Stelle. Seit die Grenzen offen sind, gibt es im Tourismus in Polen viel mehr Arbeit. Besonders im Sommer haben wir sehr viel zu tun.“

"Wir waren quasi blind"

Reisefreiheit. Eine zentrale Kategorie bei der Transformation aller osteuropäischen Gesellschaften nach dem Fall des eisernen Vorhangs. Polen trat 2004 der EU und 2007 dem Schengener Abkommen bei. Seitdem hat sich das Land laut Frau S. grundlegend verändert.

„Die Öffnung nach Westen hat den Polen viel Freiheit und viel Wissen gebracht. Meine Kinder können sich das gar nicht mehr vorstellen wie das war, nicht reisen zu können. Wenn das Geld da ist, können sie Frankreich besuchen, Deutschland besuchen oder andere Länder - für uns war das damals unvorstellbar. Wir kannten nur Polen und vielleicht noch ein, zwei andere sozialistische Staaten. Wir waren quasi blind, wir hatten wenig Informationen.“

Sofort muss ich an die neuen Mediengesetze denken, die Polen ein Ermittlungsverfahren der EU-Kommission aufgrund unzulässiger Einschränkung der Pressefreiheit eingebracht hat. Ich frage nach. „Was halten Sie von den Pressereformen, die die neue Regierung eingeführt hat?“

„Ich muss sagen: es ist schwierig. Ich glaube dass es weniger schlimm ist als das in Deutschland oder Österreich dargestellt wird. Wir kommen aus einer anderen Kultur als die westeuropäischen Staaten, wir müssen unseren Weg mit den Medien selbst finden. Wenn man uns zwingt, die Dinge auf die eine oder andere Weise zu machen, kann es passieren, dass die Polen Europa ablehnen - und je mehr Druck von außen auf die Polen kommt, desto mehr werden sie in diese Richtung gehen. Das wäre sehr schade.“

„Wie stehen die Polen gerade zu Europa? Wie empfinden Sie das?“

„Polen ist derzeit in einer schwierigen Situation - Russland ist schlecht, sagt die Regierung, aber Europa ist auch nicht ideal. Wir haben in Polen viel profitiert von Europa, aber Europa hat viele Probleme, die es lösen muss. Früher dachten die Polen, Europa ist der Himmel, aber jetzt denken das nur noch wenige. Viele Polen denken wir können nicht bei allem behilflich sein.“

Berührungsängste mit anderen Kulturen

„Was meinen Sie konkret? Die Flüchtlingskrise?“

„Ja, es ist vor allem das. Wenn wir die Bilder sehen der Menschen aus Syrien, Städte die komplett zerbombt sind, öffnen wir unsere Herzen. Aber wir wissen nicht, was da auf uns zukommt. Zehn-, zwanzig-, dreißigtausend Flüchtlinge kann unser Land aufnehmen. Wir sind 36 Millionen, da geht das - aber was kommt danach? Werden sie bleiben? Werden sie wieder zurückkehren in ihre Länder? Werden sie sich in die polnische Kultur integrieren? Und wo endet das? Wenn wir diese zehn-, zwanzig-, dreißigtausend aufnehmen, werden dann immer mehr kommen? Das ist ein Problem, dass Europa gemeinsam lösen muss.“

„Hat das was damit zu tun, dass viele Polen noch nicht den Lebensstandard haben, den sie sich wünschen? Ich habe gelesen, dass viele nicht das Gefühl haben, anderen helfen zu können.“

 „Leider ist das wahr. In den letzten Jahren hat sich Polen stark gewandelt. Jeder der hier vor 30 Jahren schon war, sieht das ganz offensichtlich. Aber vieles ist nur Fassade. Es gibt hinter der Fassade immer noch viel Armut. Und dass das schnell weggeht ist eine Illusion. In 5, 10, 20 Jahren - das wird nicht passieren. Wir werden nicht so schnell auf das Niveau von einigen westeuropäischen Ländern kommen. Viele junge Leute ziehen weg, wenn sie sehen: ich bin gut gebildet, ich bin fleißig und ich kriege für die gleiche Arbeit vielleicht die Hälfte von Lohn, die ich in einem anderen Land bekommen könnte. Das ist ein großes Problem.“

Frau S. bestätigt viele Dinge, die ich bereits in einschlägigen Analysen gelesen habe. Die Frage nach dem Grund der Berührungsängste mit anderen Kulturen stellt sich quasi von selbst.

„Glauben Sie, dass manche Polen den Flüchtlingen gegenüber auch deshalb skeptisch sind, weil Polen bisher ein kulturell eher homogenes Land war?“

„Ja, gerade mit dem Islam ist das ein Problem. Die Polen kennen das nicht. Sie haben nie diese Kulturen kennengelernt. Wenn man viele Menschen aufnimmt, wird sich die Kultur stark verändern - man muss auf diese Meinung kein Etikett kleben, das ist einfach so. Wir sehen wie sich die Kultur in westeuropäischen Ländern bereits verändert - in Frankreich zum Beispiel, da sieht man das ganz deutlich. Aber schlimm ist auch, dass die Parteien das ausnutzen: wenn diese Leute kommen, werden sie überall Moscheen bauen, sie werden eventuell Terrorismus mitbringen und so weiter. Das ist natürlich Unsinn, aber es wirkt.“

Gemeinsames Erbe des Realsozialismus

„Haben sich die Polen von der Demokratie und von Europa mehr erwartet?“

„Kurz gesagt: Ich glaube schon. Ich glaube viele Menschen in Polen sind enttäuscht. Sie dachten nach dem Ende der Sowjetunion, dass es schneller viel besser wird. Die jungen Leute dachten, dass es nicht so viel Arbeitslosigkeit geben würde. Das kann man ausnutzen und das machen die Parteien - wenn diese Leute herkommen brauchen sie erstmal soziale Unterstützung, die haben wir nicht. Und dann werden sie Arbeit brauchen, das macht vielen Menschen Angst. Und Angst ist sehr mächtig. Wir haben das nie gelernt, mit diesen Schwierigkeiten in der Demokratie umzugehen, darüber offen zu diskutieren und Lösungen zu finden. Früher kam alles von Oben.“

Die Parallele zu Sachsen und Pegida drängt sich auf.

Es sind Nachwehen des Realsozialismus, die sich überall in den Nachfolgestaaten des Ostblocks zeigen. 40 Jahre Isolation, Autoritarismus und Planwirtschaft hinterlassen Spuren. Dass politische Kultur nicht von alleine kommt, wenn man ein neues System einsetzt, lernen wir gerade schmerzhaft. Es ist die bisher größte Aufgabe, der wir uns heute als demokratisches vereintes Europa  stellen müssen. Wir werden uns eingestehen müssen, dass wir im Rausch von 1989 Fehler gemacht haben und uns viel Zeit nehmen, das zu korrigieren – gemeinsam. „In Vielfalt geeint“ sollte insofern auch die unterschiedlichen Niveaus demokratischer Erfahrung gelten,  die die Länder mitbringen – denn eine europäische Gemeinschaft ist nur machbar, wenn die politische Kultur aller Mitglieder auf Demokratie, Freiheit und Partizipation aufbaut.