Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht

Rückblick auf ein Webinar zum deutsch-russischen Verhältnis im Licht der Ukraine-Krise

Die Verbindungsstörungen während des Online-Webinars der Landeszentrale am 25. Januar erschienen wie passend zum Thema inszeniert. „Wie spricht man mit dem Kreml?“ fragte Moderator Oliver Reinhard von der Sächsischen Zeitung seine beiden Gäste, die aber zeitweise vom Bildschirm verschwunden und gar nicht ansprechbar waren. Assoziationen zur gegenwärtig angespannten Lage um die Ukraine und im schwierigen diplomatischen Umgang drängten sich geradezu auf. Man könnte aus der schließlichen Stabilisierung der Übertragung aber ebenso einen optimistischen symbolischen Schluss ziehen: Manchmal hilft es, sich neu einzuloggen!

Um es vorwegzunehmen: So optimistisch verabschiedeten sich die beiden Kenner der Verhältnisse nach knapp zwei Stunden nicht von ihren etwa 30 Zuhörern und Chatpartnern. „Der Grundkonflikt wird in absehbarer Zeit nicht gelöst werden“, meinte Sarah Pagung von der Deutschen Stiftung für Auswärtige Politik. Sie promoviert derzeit zu den deutsch-russischen Beziehungen.

Ihr Gesprächspartner war Dr. Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ebenfalls ein Russland-Kenner, der sich speziell mit den Eliten, der Wirtschaft des riesigen Landes und den Wirkungen von Sanktionen befasst hat. Auch er erwartet insgesamt wenig Friedfertigkeit in naher Zukunft, aber auch keine akute Kriegsgefahr.

Ursachen der Eskalation

Schon die Einführung von Moderator Reinhard nahm den Tenor der ansonsten rational und ohne jede Polemik geführten Diskussion vorweg: Als vor Jahresfrist im gleichen Rahmen schon einmal über die Gaspipeline Nordstream 2 debattiert wurde, ahnte niemand, dass es noch schlimmer kommen würde. Nur wenige Stichworte genügen zur Veranschaulichung: Der Aufmarsch von hunderttausend russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze, Manöver in Belarus, aber auch erhöhte Alarmbereitschaft bei der 40 000 Mann starken schnellen Eingreiftruppe der NATO. Dazu verschärfte Repressionen gegen die Opposition und Menschenrechtsorganisationen in Russland, zuletzt die im November verfügte Auflösung von „Memorial“. Das alles vor dem Hintergrund stagnierendender Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung.

Beide Fachleute, nach Ursachen für diese Verschlechterung befragt, boten eingangs Erklärungen an. Sarah Pagung formulierte vier Ziele der Kreml-Strategie. Moskau versuche eine politische Kontrolle der Ukraine seit der Krim-Annexion 2014 insbesondere über pro-russische Netzwerke und über das Minsker Abkommen, die aber immer weniger funktioniere. Schon 2014 vorgesehene Wahlen im Donbass sollten den Autonomiestatus des Gebietes und damit den russischen Einfluss festigen. Den Versuch, auch militärische Kontrolle zu erlangen, ordnet die Politikwissenschaftlerin in das allgemeine Bestreben Russlands ein, seine Verteidigungslinien möglichst weit weg von den eigenen Staatsgrenzen zu halten. Im Lauf der Diskussion kam dann wiederholt der Hinweis, dass eine verstärkte Westbindung der Ukraine ja auch direkte Konfrontation an der Grenze bedeutet.

Als dritte Konfliktursache benennt Sarah Pagung den Widerspruch zwischen der von Russland angestrebten abgestuften Souveränität solcher Pufferzonen und der westlichen Sicherheitsordnung. Die kennt nur gleiche Souveränitäten der Bündnismitglieder. Schließlich gehe es Russland auch darum, den amerikanischen Einfluss in Europa, insbesondere in den östlichen NATO-Mitgliedsstaaten zurückzudrängen. Ein Ende der nuklearen Teilhabe beispielsweise würde die europäische Position wesentlich schwächen.

Deutschland eher in Nebenrolle

Globaler betrachtet, konstatiert Sarah Pagung leider eine Erosion kollektiver Sicherheitsabkommen, das Scheitern von Bemühungen gar um eine übergreifende Sicherheitsordnung nach dem vermeintlichen Ende der Systemkonfrontation 1990. Ein Vorwurf an beide Seiten. Die russische Seite hat die europäische Sicherheits- und Zusammenarbeitskonferenz OSZE immer weiter marginalisiert, die US-Amerikaner traten aus dem ABM-Rüstungskontrollvertrag aus.

„Russland ist grundlegend mit dem Status Quo in Europa unzufrieden“, stellt auch Janis Kluge fest. Seine Änderungsbemühungen, auch das Unverständnis Russlands gegenüber ukrainischen Souveränitätsbemühungen, habe der Westen zu lange nicht ernst genommen. Jetzt werde er dazu gezwungen. Kluge sprach von einer „bewussten Drohkulisse“ Russlands. Im Dreieck der Weltmächte verliere aber Europa und insbesondere Deutschland immer mehr an Gewicht in der Auseinandersetzung. „Russland will mit den USA reden, sonst mit niemandem!“

Wüchse Deutschland damit nicht eine Moderatorenrolle zu, wollte ein Chatteilnehmer wissen? Schwierig als Bündnismitglied, aber Janis Kluge fand den Auftritt der neuen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zwischen Festigkeit und Diplomatie gegenüber ihrem Kollegen Lawrow ganz sehenswert. Der Wirtschaftswissenschaftler blickte zurück, dass sich die nicht bedrohte Bundesrepublik über Jahrzehnte an einen „friedlichen und wunderbaren Zustand“ gewöhnt habe, in dem statt des Militärs der Handel dominiere und das Recht des Stärkeren nicht gelte. Für das äußerten übrigens Zuhörer vereinzelt Verständnis, wenn sie „Einkreisungsängste“ der Russen und ihrer Führung ansprachen.

Weder Landesteilung noch heißer Krieg drohen

Die Lage und insbesondere die Stimmung in der Ukraine rückte im Lauf der Diskussion zunehmend in den Mittelpunkt. Die Bevölkerung dort reagiere sehr sensibel auf Kompromisse zwischen Russland und dem Westen, prophezeite Janis Kluger. „Wenn die Hoffnung auf einen Weg in den Westen stirbt, könnte in der Ukraine die Bereitschaft zu einer militärischen Lösung wachsen!“ Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine hätte Sarah Pagung dabei für richtig gehalten. Deutschland werde jetzt als „unsicherer Kantonist“ angesehen. Es sei unsere Pflicht, „den Angriff eines stärkeren Staates auf einen schwächeren zu verhindern“, meinte die Russland-Expertin.

Auch sonst gut Informierte mögen überrascht gewesen sein über Beobachtungen der Stimmungslage in der Ostukraine, die in Medien kaum zu vernehmen sind. Die russische Trojanerpolitik dort sei fehlgeschlagen, es herrsche nicht mehr der Geist von 2014. „Die Russlandnähe ist bei vielen ausgelöscht“, diagnostizierte Janis Kluge, russische Kandidaten erreichten bei Wahlen kaum noch zehn Prozent, während Präsident Wolodymyr Selenskyj in allen Landesteilen gewählt wurde. Eine von Webinarteilnehmern angefragte Teilung der Ukraine sei überhaupt keine Option, bekräftigten beide Kenner der Verhältnisse.

Die häufig wiederkehrende Frage nach einem akut drohenden russischen Einmarsch verneinten beide auch in weitgehender Übereinstimmung. Der Georgienkrieg von 2008 könne nicht als Menetekel gewertet werden. Eine Invasion sei unwahrscheinlich, Russland profitiere letztlich nicht davon und werde sich keinen absehbaren langen Partisanenkrieg leisten wollen. Auch in der russischen Bevölkerung gebe es Angst vor einem Krieg. Russland werde „hoffentlich die Grenzen des eigenen Systems erkennen“. Janis Kluge fürchtet jedenfalls nicht wirklich eine Rückkehr zur Sowjetunion, zum Sowjetimperialismus. Und er glaubt erst recht nicht, dass die westlichen Staaten wegen der Ukraine gegen Russland in den Krieg ziehen würden. Mit Destabilisierungs-, ja Sabotageversuchen gegen die Ukraine sei aber weiterhin zu rechnen. Cyberangriffe haben signifikant zugenommen.

Wenn es einen Funken Hoffnung gab, dann weniger auf die seit 2014 möglichen Quartettbegegnungen im so genannten Normandie-Format. Wie schon eingangs konstatiert, hat die Bundesrepublik bei substanziellen Verhandlungen nicht viel zu sagen. Vielmehr klangen bei Teilnehmern erneut die sich hartnäckig und über Kriege und Jahrhunderte hinweg haltenden russisch-deutschen Verbindungen, ja gegenseitigen Wertschätzungen an. Ungeachtet des russischen Verbots von drei Nichtregierungsorganisationen des deutsch-russischen Austauschs im Mai 2021 und über Nordstream 2 hinausgehend. Von Andeutungen einer neuen deutsch-russischen Achse aber könnten sich wiederum die baltischen Staaten nach übler Geschichtserfahrung verunsichert fühlen, gab Sarah Pagung zu bedenken.

Der Mitschnitt der gesamten Veranstaltung ist auf unserem YouTube Kanal verfügbar