Digitale Souveränität als demokratische Aufgabe: Tagung über Big Tech und die Zukunft des Netzes

Ohne Google, Microsoft oder Meta läuft in Deutschland kaum ein digitaler Prozess. Da diese enorme Abhängigkeit von wenigen Konzernen politisch ausgenutzt werden kann, birgt sie große Gefahren für Verwaltung, Bildung und unsere Demokratie. Doch wie ernst ist die Lage? Wie könnte eine souveränere digitale Zukunft aussehen – und wie können wir sie aktiv gestalten?

 

Um diese Fragen zu diskutieren, hat die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung am 12. November 2025 zur Fachtagung „Die Zukunft der digitalen Welt ist politisch gestaltbar: Von Big Tech zur digitalen Souveränität“ eingeladen. Die Tagung, zu der sich etwa 50 Teilnehmende aus der sächsischen Bildungslandschaft, der IT-Branche und dem Journalismus eingefunden haben, wird von der freien Referentin Kirsten Limbecker moderiert.

Wie Medienwissenschaftler und Buchautor Michael Seemann in seiner einleitenden Keynote erklärt, begründe sich die enorme Macht digitaler Plattformen durch den Netzwerkeffekt. Er führt aus, dass beispielsweise der allererste Telefonbesitzer mit seinem Gerät nicht viel anfangen konnte, da weder er noch andere Menschen ihn erreichen konnten. Mit einem zweiten Telefon sei jedoch eine erste Verbindung entstanden, wodurch der Wert beider Telefone gestiegen sei. Bei drei, vier oder fünf Telefonen hätten sich demnach drei, 16 oder 25 mögliche Verbindungen ergeben. Seemann fasst zusammen: „Der Wert eines Netzwerks wächst exponentiell.“

Ähnlich wie bei Telefonen verhalte es sich bei sozialen Medien: Je größer ein Netzwerk ist, desto mächtiger sind die Unternehmen, die es betreiben. Gleichzeitig verstärke sich der Netzwerkeffekt, weil Menschen meist das Netzwerk wählten, auf dem die meisten anderen bereits seien: „Weil alle meine Freunde WhatsApp nutzen, muss auch ich auf der Plattform sein.“ Einmal dort, hält der Lock-in-Effekt den Nutzer fest: Er kann die Plattform nur zu dem Preis verlassen, alle seine Kontakte und seine gesamte Reichweite zu verlieren.

„Wir sind in eine Falle gelaufen“, resümiert Seemann. Milliarden Menschen seien den geschickt ausgelegten Pfaden der Plattformkonzerne gefolgt, ohne die langfristigen Konsequenzen zu erkennen. Verstärkt durch die aktuelle Trump-Regierung wendeten sich diese Plattformen nun gegen ihre Nutzer und würden – wie die Umfunktionierung Twitters zu einer „rechten Propagandawaffe“ zeige – zum „feindlichen Territorium“.
 

Journalistin Jennifer Stange knüpft an die düstere Gegenwartsbeschreibung ihres Vorredners an und fragt: In welchem Verhältnis stehen Politik und Technik zueinander? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, beginnt sie ihren Vortrag mit Ausschnitten aus dem Film Terminator 1. In dem 1984 gedrehten Streifen kämpft die Menschheit gegen eine überlegene künstliche Intelligenz, die einen kalten, herzlosen Terminator, gespielt von Arnold Schwarzenegger, in die Vergangenheit schickt, um die Menschheit zu vernichten.
„Auch wir leben in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, aber nicht mehr kontrollieren können“, so Stange. Auch in der weiteren Film- und Seriengeschichte des Terminators gehe es immer wieder um dieses Spannungsfeld: Bestimmt die Technik die Realität der Menschheit oder hat diese einen Gestaltungsspielraum gegenüber den Technologien?

Doch nicht nur James Cameron – der Regisseur von Terminator – hat nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Denn während der Philosoph Günter Anders schon in den 50ern vor dem Hintergrund der industriellen Vernichtung der Juden während des Holocaust vor einer Welt warnte, in der immer effizientere Maschinen und Systeme schließlich die Menschlichkeit abschafften, stand für Hannah Arendt das „Handeln“ im Zentrum ihres Denkens. Für sie war Technik kein Schicksal, sondern ein Werkzeug. Der Mensch könne entscheiden, wie er dieses einsetze.

Dieses Spannungsfeld aus Kontrolle und Determinismus lasse sich auch auf unsere heutige Situation beziehen, so Stange. Tech-Eliten wie Elon Musk und Jeff Bezos gestalteten nicht nur Produkte, sondern versuchten bereits, ihre Gesellschaftsvisionen in der Wirklichkeit umzusetzen. Ihre libertäre und technokratische Weltsicht reduziere Demokratie auf Effizienz und Wachstum zum moralischen Imperativ. „Zukunft wird gesetzt, nicht verhandelt“, warnt Stange.
 

Für demokratische Gesellschaften bedeute das: Untätig bleiben ist keine Option. Anders’ Warnung vor der technischen Überforderung trifft auf Arendts Ruf zum Handeln. Die Zukunft ist politisch gestaltbar – wir müssen sie gestalten, bevor andere es für uns tun, appelliert Stange.

Doch wie lässt sich unsere digitale Souveränität zurückgewinnen? Ein Best-Practice-Beispiel dafür gibt Dr. Nils Trares-Wrobel, Referatsleiter in der Abteilung für Digitales der Landesregierung Schleswig-Holstein. „Digitale Souveränität bedeutet für Individuen und Institutionen, über die Fähigkeit und Möglichkeit zu verfügen, ihre Rollen in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können“, so Trares-Wrobel.

Um dieses Ziel zu erreichen, arbeite man in Schleswig-Holsteins Digitalministerium aktiv daran, sich von der digitalen Abhängigkeit der großen Unternehmen zu befreien. Dazu setzte man vor allem auf Open-Source-Programme. Diese hätten zwei Vorteile: Da ihre Codes öffentlich einsehbar sind, hätten Nutzer eine größere Sicherheit. Da man für das Schreiben der Programme vor allem heimische Firmen beauftrage, stärke man zudem die eigene Digitalwirtschaft.

Doch sei ein solches Projekt kein Selbstläufer: „Da braucht es schon einen Minister, der sich der Sache voll und ganz verschreibt“, so Trares-Wrobel. Doch habe man auch schon Erfolge vorzuweisen: Denn seit US-Präsident Trump laut darüber nachdenke, Teile Kanadas zu annektieren, boykottiere das Land viele Digitalprodukte „made in USA“ und wendete sich lieber an das friedliche Schleswig-Holstein.
 

Nach dem Input sind die Teilnehmenden nun dazu aufgefordert, „ins Träumen“ zu kommen und sich die Frage zu stellen: „In welcher digitalen Welt wollen wir leben?“ In Kleingruppen diskutieren die Teilnehmenden unter anderem darüber, ob öffentlich-rechtlich kontrollierte soziale Medien eine geeignete Alternative zu Facebook, Instagram und Co. sein könnten oder ob es digitale Gewerkschaften braucht, um die Interessen von Plattformnutzenden durchzusetzen. 

Nach der Mittagspause können sich die Teilnehmenden zwischen zwei Sessions entscheiden. Der Journalist Stefan Mey gibt Einblicke in die Welt freier Technologien – von Wikipedia über Linux bis hin zu alternativen KI-Projekten – und zeigt, welche demokratischen und gesellschaftlichen Ideale diese Ansätze prägen. Rainer Mühlhoff, Philosoph und Professor für KI-Ethik, gibt einen Workshop darüber, warum Datenschutz nicht nur die Privatsphäre betrifft, sondern eine kollektive Aufgabe ist, die für eine freie und demokratische Gesellschaft unverzichtbar bleibt.

Im Anschluss teilen die Teilnehmenden ihre wichtigsten Erkenntnisse aus den beiden hochinteressanten Sessions: Alternative Programme, Betriebssysteme und digitale Tools, zeigt Stefan Mey, gibt es genügend. Unter den Teilnehmenden teilten viele die Erfahrung, dass ein Umstieg durchaus machbar sei – Gewohnheiten ließen sich ändern. Auch könne man durchaus auf manche Funktionen verzichten.

Durch den Workshop mit Rainer Mühlhoff sei vielen Teilnehmenden die enorme Relevanz des oft etwas dröge wirkenden Themas Datenschutz deutlich geworden. Immerhin lassen sich große Mengen personenbezogener Daten nutzen, um ganze Gesellschaften zu lenken und zu kontrollieren. Um die Demokratie zu schützen, sei es deshalb wichtig, datensparsam zu surfen, indem man beispielsweise auf datenarme Alternativen umsteigt und seine Browser- und App-Berechtigungen anpasst.
 

Ein zweites Best-Practice-Beispiel stellt Anja Obermüller vor. Die Kommunikationswissenschaftlerin hat vor mehreren Jahren ein Selbstexperiment gestartet und nutzt seitdem ausschließlich Apps des sogenannten „Fediverse“. Dabei handelt es sich um ein eigenes Universum aus Apps, Programmen und Betriebssystemen, das sich als Gegenentwurf zu kommerziellen Anwendungen versteht. Ihr persönliches Fazit lautet: „Bei Anwendungen des Fediverse fühlt es sich so an, als stünde der Nutzer im Mittelpunkt – nicht der Profit.“ Auch über weniger bekannte, alternative Apps und Anwendungen könne sie auf alle für ihre Arbeit im Bereich Netzpolitik wichtigen Informationen zugreifen und gleichzeitig ihre Zielgruppe erreichen. 

Zum Ende der Tagung sind die Referenten in einer Podiumsdiskussion dazu angehalten, die aktuelle Netz- und Digitalpolitik des Bundes und die Frage zu diskutieren, wie digitale Souveränität erreicht werden kann. Während Stefan Mey für mehr europäische Selbstbehauptung plädiert und in der Debatte über „digitale Souveränität“ eine Chance auf eine positive Veränderung sieht, mahnt Anja Obermüller, Innovation „nicht als Selbstzweck“ zu feiern und endlich klare digitale Schutzmechanismen für Bürgerinnen und Bürger zu schaffen.

Obwohl auch er Open-Source-Programme für einen Teil der Lösung hält, plädiert Rainer Mühlhoff dafür, nicht blauäugig zu sein: „Open Source ist kein Garant für Antikapitalismus oder die Abwesenheit von Ausbeutung von Arbeitskräften“. Abschließend mahnt Jennifer Stange, dass technokratische und demokratiefeindliche Positionen nicht nur in den USA, sondern auch in der deutschen Wirtschaft und Politik weit verbreitet sind und bereits Einfluss auf die Gestaltung unserer politischen Zukunft hätten.

 

Teile der Veranstaltung wurden aufgezeichnet, diese finden Sie hier: