„Deutschland hat sich in eine immer größere Abhängigkeit von Russland begeben“

Die Journalistin Sabine Adler berichtet seit vielen Jahren über Russland und die Ukraine und zieht eine kritische Bilanz. Politikern in Deutschland wirft sie Versagen im Umgang mit Russland vor, über die Ukraine habe man zu lange hinweggeschaut. Sie fordert eine Aufarbeitung.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert inzwischen ein Dreivierteljahr. Haben Sie Hoffnungen, dass der Krieg bald zu Ende ist oder finden Sie das illusorisch?

Es deutet nichts darauf hin, dass der Krieg bald zu Ende ist. Mein Eindruck ist, dass es nun eine Art Strategiewechsel, eine Verschärfung der Lage gibt. Auf russischer Seite wurde gerade ein neuer General eingesetzt, Sergej Surowikin, der schon aus den Tschetschenienkriegen und aus Syrien bekannt ist. Er führt nun die russischen Truppen in der Ukraine an und wird für eine weitere Brutalisierung des Kriegs sorgen. Mit seiner Ernennung hat Russland die flächendeckenden Bombardierungen wie zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine sofort wiederaufgenommen. Das ist blanker Terror gegen die Zivilbevölkerung.

Es gibt immer wieder Stimmen, auch von deutschen Politikern, die Verhandlungen fordern und auf ein baldiges Kriegsende drängen. Wie realistisch ist das in der aktuellen Lage?

Es hört sich ja immer sehr gut an, wenn man Verhandlungen und einen Waffenstillstand fordert. Aber was, wenn sich die Parteien nicht an einen Tisch setzen wollen? Putin möchte nur über die ukrainische Kapitulation verhandeln. Mit seiner Annexion der vier Regionen, die seine Truppen noch nicht einmal besetzt haben, hat er versucht, Fakten zu schaffen. Und das macht mehr als deutlich, was er von Gesprächen hält – nichts. Die Ukraine ist gerade in der Vorhand. Die Ukrainer konnten in den vergangenen Wochen eigene Gebiete zurückerobern, sie werden vom Westen immer besser mit Waffen ausgestattet und nutzen diese klug. Es gibt keinen Grund für die Ukrainer, diesen Moment nicht zu nutzen und stattdessen Russland eine Erholungspause für die Wiederaufrüstung zu verschaffen. Sie wissen, dass in den Gebieten, die die Russen besetzen, Terror und Gewalt herrschen. Warum sollten sie sich einem solchen Regime freiwillig unterwerfen?

Ihr kürzlich erschienenes Buch „Die Ukraine und wir“ ist eine harte Kritik an Deutschland, an Politikern und Politikerinnen, sie werfen vielen ein langes Versagen vor im Umgang mit Russland und der Ukraine. Wie kommen Sie zu diesem Urteil?

Das Versagen ist für mich evident, wenn man sich allein die Energiepolitik anschaut, die seit 2005 immer in die gleiche falsche Richtung gegangen ist. Deutschland hat sich in eine immer größere Abhängigkeit von Russland begeben und Russlands Aufrüstung so mitfinanziert. Und es war keine Partei in Sicht, die eine Kurskorrektur vorgenommen hat. Die CDU hätte diesen Weg überhaupt nicht erst beschreiten müssen. Angela Merkel hatte gleich zu Beginn ihrer Kanzlerschaft jede Möglichkeit dazu. Sie hätte sich das Nord-Stream-Projekt, das von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder mit Putin eingefädelt wurde, überhaupt nicht zu eigen machen müssen. Sämtliche Warnungen der osteuropäischen Nachbarn wurden in den Wind geschlagen.

Haben alle Parteien ein Russland-Problem?

Die Grünen haben Russland meiner Ansicht nach am realistischsten gesehen. Das liegt auch daran, dass sie seit Jahrzehnten enge Kontakte zur Zivilgesellschaft pflegten und somit sehr genau wussten, was in Russland los ist, wie dieses Land immer autoritärer wurde. Die Grünen wussten es genauer als andere Parteien, aber sie wollten unbedingt den Ausstieg aus der Atom- und Kohlenutzung. Deshalb nahmen sie Gas als Übergangs-Energie in Kauf. Also kam letztlich auch von den Grünen zu wenig Widerspruch zur Abhängigkeit von russischer Energie. Viele in der SPD verhielten sich vollkommen unkritisch gegenüber Putin. In der CDU hatte einige zwar ein differenziertes Putin-Bild, etwa Angela Merkel, aber auf die konkrete Russland-Politik hatte das häufig keine Auswirkungen. Etwa, wenn es um Sanktionen gegen Russland ging. Die waren, zum Beispiel nach der Annexion der Krim, viel zu lasch.

Als Angela Merkel regiert hat, gab es dazu verhältnismäßig wenig Kritik. Wird sich das Bild von ihr nun nachträglich verändern?

Ich rechne damit. Angela Merkel hat Entscheidungen in ihrer Kanzlerschaft häufig nicht erklärt. Sie hat Kritiker abgespeist, beispielsweise die Nord-Stream-Projekte als privatwirtschaftlich dargestellt. Aber das waren natürlich politische Projekte. Unter ihrer Kanzlerschaft gab es eine vollkommen ungenügende Kommunikation von Politik auf Augenhöhe mit den mündigen Wählern. Es gibt noch viele andere Punkte, die erklärungsbedürftig sind, etwa ihre Haltung zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Angela Merkel hat bei einer Veranstaltung in Berlin vor einigen Monaten gesagt, dass sie damals dagegen war, weil sie der Auffassung war, dass Putin das als Kriegserklärung aufgefasst hätte. Aber die Kriegserklärung von Putin kam schließlich auch ohne eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Das sind alles Dinge, über die es dringend Aufklärung braucht. In ihren bisherigen Äußerungen zu ihrer Kanzlerschaft seit ihrem Ausscheiden macht sie es sich jedenfalls zu leicht.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass es eine Tradition gab, über die Ukraine hinwegzuschauen. Wie erklären Sie sich das?

Mein Hauptvorwurf ist, dass sich die Politik in Deutschland nicht auf den aktuellen Stand gebracht hat, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion 15 Sowjetrepubliken eigene Länder gegründet haben. Das gilt auch für die Ukraine, immerhin das zweitgrößte Land in Europa. Man hat sich nicht die Mühe gemacht, mal zu schauen: Wie entwickeln sich diese Länder? Was macht sie heute aus, was ist ihre Besonderheit? Man hat sich für diese Länder nicht wirklich interessiert. Meist wurde nach Russland geschaut. Kaum jemand blickte in die Ukraine, nicht einmal nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. Stattdessen wurde verallgemeinert: dass sich die Ukraine wohl so ähnlich entwickelt wie Russland, in eine autokratische Richtung, was aber gar nicht stimmte. Die Ukraine hat eine sehr freie Zivilgesellschaft, die sich einmischt, die ein starkes Bedürfnis hat, das Land zu gestalten und die immer noch vielen Unzulänglichkeiten, von Korruption bis Rechtsstaatlichkeit, in den Griff zu bekommen.

Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu Gräueltaten von Deutschen in der Ukraine. Es gab das Massaker von Babyn Jar, wo über 30.000 jüdische Menschen in der Ukraine von der Wehrmacht ermordet wurden. Sie schreiben, dass die Aufarbeitung erst spät eingesetzt hat. Warum?

In der Sowjetzeit wurden hunderte von deutschen Massakern an der ukrainischen Bevölkerung verschwiegen. Es gab unzählige Babyn Jars. Dass die Sowjetunion die Zivilisten vor diesem Holocaust durch Erschießen nicht schützen konnte, empfand man als Schmach. Betroffen war größtenteils die jüdische Bevölkerung, aber auch die polnische, ungarische oder rumänische Minderheit und Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Sie alle wurden pauschal als sowjetische Opfer dargestellt. Dieses Ausmaß des Leids der Zivilbevölkerung kratzte am Bild des heroischen Siegs. In der DDR wurde darüber ebenfalls geschwiegen. Heute können wir sagen, in Deutschland gab es viel Aufarbeitung zu den Verbrechen in der Nazi-Zeit, aber, was zum Beispiel in der Ukraine geschah, blieb lange ein weißer Fleck. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich erst spät, in einer Rede 2021 bei einer Gedenkveranstaltung 80 Jahre nach dem Massenmord von Babyn Jar, klar für die Verbrechen von Deutschen in der Ukraine entschuldigt.

Gab es in all den Jahren Momente, wo Sie als Berichterstatterin aus diesen Ländern dachten, nun ändert sich die Perspektive auf Russland und die Ukraine? Oder begann das erst mit dem Krieg?

Der Krieg hat den verbrecherischen imperialen Charakter des Putin-Regimes offengelegt und damit so manchem in Deutschland die Augen geöffnet. Viele Korrespondenten haben schon viele Jahre vorher vor der Gefährlichkeit Russlands gewarnt. Wir sind aber nicht durchgedrungen. Es gab so oft gesellschaftliche, politische Ereignisse, die mehr Aufmerksamkeit bekamen. Und vergessen wir nicht die deutsche Wirtschaft, die auf billigem Gas bestand.

Sie fordern eine Aufarbeitung der Russland-Politik in Deutschland, auch durch Untersuchungsausschüsse. Glauben Sie, dass es irgendwann wirklich dazu kommt?

Das wird, denke ich, sehr davon abhängen, wie sich die Energiekrise weiterentwickelt. Wenn sie sehr schmerzhaft wird, wird sich die Frage noch mal drängender stellen: Wer hat uns das eingebrockt? Es könnte sein, dass es dann noch mal zu einer Bestandsaufnahme kommt. Wie konnte es sein, dass Deutschland gegen alle Warnungen, auch mit einer großen Rücksichtslosigkeit gegen die osteuropäischen Länder, an diesem Kurs in diese irrsinnige Abhängigkeit von Russland festgehalten wurde? Der Parteitag der Grünen in Bonn hat gerade seine Bundestagsfraktion aufgefordert, einen solchen Untersuchungsausschuss zu initiieren. Die Chance, dass es dazu kommt, ist gering, denn U-Ausschüsse sind das Instrument der Opposition, nicht von Regierungsparteien. Im Grunde ist die Union als größte Oppositionspartei am Zug. Sie müsste ihn vorschlagen, aber merkwürdigerweise macht das bisher niemand aus der CDU, auch Friedrich Merz geht dabei nicht voran. Die Parteien müssten sich dabei natürlich auch mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen. Ich hoffe dennoch, dass es dazu kommt, weil wir auch in Hinblick auf China dringend Lehren ziehen müssen. Vermutlich werden sich aber wohl erst Journalisten und Historiker an die ausführliche Aufarbeitung machen müssen.

Was prägt Ihre eigene Haltung zu Russland und der Ukraine, als Mensch, als Journalistin?

Egal, wo ich bin und recherchiere, ob in der Ukraine, in der Türkei oder sonstwo, ich schaue mir an: Wie groß ist das Demokratieverständnis in einer Gesellschaft? Wird Demokratie mit Füßen getreten oder können sich Individuen frei entfalten? Geht es in einer Gesellschaft autoritär zu oder nicht? Ich bin dabei wahnsinnig empfindlich. Sobald es anfängt, autoritär zu werden, schaue ich nochmal genauer hin. Das betrifft vieles in meinem Leben, meine Perspektive bei Berichterstattung. Auch mein Arbeitsumfeld. Wenn Chefs anfangen, autoritär zu werden, kann ich nicht arbeiten. Glücklicherweise muss ich nicht so arbeiten.

In Ostdeutschland ist die Stimmungslage anders als in Westdeutschland. Der Anteil von Menschen, die Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine ablehnen, ist höher. Sie sind im Osten geboren. Wie beobachten Sie das? Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?

Es ist wirtschaftlich schwieriger für Menschen im Osten. Hier ist vieles enger genäht, es gibt weniger Rücklagen, eine größere Verlustangst. Die Krisenfestigkeit ist schwächer ausgeprägt, dafür habe ich erst mal großes Verständnis. Viele haben schon die Erfahrung gemacht, dass sich alles verändert hat, man noch einmal neu anfangen musste. Und es herrscht ein ausgeprägter Wunsch, möglichst einfache Antworten zu bekommen. Bei einigen gibt es die Haltung, das erlebe ich auch bei Lesungen in Ostdeutschland: Halten wir uns doch am besten aus allem raus, bei Waffenlieferungen und so weiter. Aber dieser Konflikt ist nun mal kompliziert, er betrifft vieles. Wir können uns nicht raushalten und andere die Arbeit machen lassen. Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, wo es wirklich aufhört, ist die Sehnsucht nach Autoritärem, die einige offensichtlich haben. Das ist grotesk nach allem, was Putin angerichtet hat.

Die Journalistin Sabine Adler ist langjährige Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks. Sie berichtete viele Jahre aus Moskau, war Leiterin des Hauptstadtstudios in Berlin und Korrespondentin im Studio Warschau mit Schwerpunkt Polen, Belarus, baltische Länder und Ukraine. Während der Ereignisse auf dem Euro-Maidan berichtete sie aus Kiew und danach über den Krieg in der Ostukraine. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem als "Politikjournalistin des Jahres". Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt ist „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“ im Ch. Links Verlag erschienen.