Der fanatisch verlängerte Krieg

Eine Radtour durch den Schluckenauer Zipfel und die deutschen Nachbarorte erinnerte an die letzten Kriegswochen 1945, fanatische Durchhaltebefehle und die Folgen der Vertreibung

 

Diese Radtour glich in mehrfacher Hinsicht einer Fahrt in die Vergangenheit. Mit dem 11. Mai lag der Termin genau 80 Jahre und drei Tage nach der Kapitulation des „Dritten Reiches“ 1945. Der 11. Mai war damals der erste Friedenstag im äußersten Norden des Schluckenauer Zipfels, wo zunächst weitergekämpft wurde. Die Tour verfolgte aber auch die Spuren ehemals blühender Ortschaften, die entweder verschwunden oder stark geschrumpft sind. Sie war zugleich eine sehr gegenwärtige in diesen unfriedlichen Zeiten, indem sie an die jahrzehntelang nachwirkenden brutalen Folgen von Hass und Krieg erinnerte. Mit der heiteren Mischung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigte sie zugleich die Kräfte der Akzeptanz und Verständigung zwischen Nachbarn auf, die Leid und gegenseitigen Verletzungen vorbeugen.

Leicht überwindbare Sprachgrenzen

Es klang deshalb angenehm doppeldeutig, wenn es zur Begrüßung am Bahnhof von Šluknov hieß: „Zuerst müssen wir klären, dass wir einander verstehen!“ Petra Zahradníčková sprach so für den Mit-Veranstalter Hillersche Villa, ein soziokulturelles Zentrum in Zittau und im Dreiländereck. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung war auf dieser vierten Tour im Grenzgebiet zum dritten Mal ihre Kooperationspartnerin.

Gemeint hatte Frau Zahradnickova natürlich die Verständigung über unterschiedliche Muttersprachen hinweg. Eine erste “Volkszählung“ am Bahnhof unter den rund 45 Teilnehmern ergab eine klare Zweidrittelmehrheit für die tschechischen Teilnehmer. Nur zwei sprachen Polnisch und bekamen ihren Privatdolmetscher. Ins Deutsche wurde per Mobilempfänger simultan übersetzt. Denn der Reiseführer durch die Region und durch die letzten Kriegstage Radek Andonov ist ein Tscheche. Seine Ankündigung als Historiker dementierte er gleich zu Beginn. Eigentlich gelernter Elektrotechniker, hat er sich nur gründlich mit der Regionalgeschichte im 20. Jahrhundert befasst und engagiert sich in einem Heimatverein.

Kinder waren nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich willkommen. Die fünf oder sechs „Kleinen“ dankten es mit vorbildlichem Einsatz und bildeten meistens die Spitzengruppe. Aber auch der Durchschnitt der langgezogenen Radlergruppe erwies sich als sportlich. Ein einziges Rad versteckte einen modischen Akku.

Landschaftszauber und patriotischer Heimatstolz

Das nötigt umso mehr Respekt ab, als die 40 Kilometer durch hügeliges Gelände mit Steigungen bis zu zehn Prozent führten. Etwa 500 Höhenmeter waren zu bewältigen. Die Soldaten der im April 1945 heranrückenden Zweiten Polnischen Armee, um die es bei dieser Exkursion vor allem ging, sollen diese Wellen oberhalb des Böhmischen Beckens und unterhalb des Lausitzer Berglandes auf Höhen zwischen 300 und 500 Metern schon als Gebirge wahrgenommen haben. Sogar eine Sprungschanze wartet auf zurückkehrende Winter.

Der inspirierenden, ja idyllischen Landschaft ohne Schroffheiten konnten die historischen Brüche nichts anhaben. „Eine der schönsten Regionen Deutschlands“, schwärmt denn auch Teilnehmer Hartmut Anders aus Kirschau. Er lobt aber auch die selbstverständlich praktizierte Nachbarschaft, nicht nur beim günstigeren Tanken für tschechische Kronen. Anders spricht aber auch von einer spürbaren Verschlossenheit des Menschschlags hier, verglichen etwa mit der offeneren Atmosphäre in Prag. Mit einem sich nur langsam entwickelnden Tourismus seit dem EU-Beitritt Tschechiens 2004 könnte sich das ändern. Von einem „großen Zauber“ der Region spricht Reiseführer Andonov. Die Radwege auf tschechischer Seite können jedenfalls schon als zauberhaft gelten und beschämen manche Buckelpiste in Sachsen.

Traditionalismus und Patriotismus begegnet einem vor allem auf deutscher Seite, wenn man von Sohland nach Šluknov anradelt. „Gottes Segen und des Bauern Hand / schützen Volk und Vaterland“, steht auf einem Banner. Auf der Tour stößt die Gruppe in Wehrsdorf dann auf einen beinahe anachronistisch anmutenden Umzug zur Erinnerung an 300 Jahre Kirchweihe. Zuvor liefen die frommen Dorfbewohner über den Kirchsteig hinüber nach Lipová, damals Hainspach.

Auffallend gut gepflegt sind auch auf der tschechischen Seite Mahn- und Gedenksteine an die deutschen Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Relativ gut erhalten zeigen sich Familiengräber auf den Friedhöfen. Kurz hinter der Grenze steht am Radweg nach Lobendava, früher Lobendau, ohne Spuren tschechischen Protestes ein dunkler Gedenkstein „an die Vertreibung der Sudetendeutschen“. „Die Toten mahnen“, heißt es am Fuß, und der profunde Regionalhistoriker Radek Andonov weist an den zahlreichen Haltepunkten der Tour wiederholt auf die Verbrechen beider Seiten hin. Richtung Lobendava fällt an einem tschechisch bewohnten Haus sogar ein kunstvoll gefertigtes und wohlgepflegtes Schild „Schmiede“ auf. In der bemerkenswerten Kirche hängt unverändert ein Banner des „Ostersängervereins Lobendau“.

Hitler als „Erlöser“ der Sudetendeutschen

Alle Fahrtteilnehmer wissen, dass tolerante Nachbarschaft hier überhaupt nicht selbstverständlich war. Die Erzählungen von Radek Andonov illustrierten darüber hinaus den besonderen Anlass dieser Tour, nämlich daran zu erinnern, wie verbissen noch in den letzten Kriegstagen und darüber hinaus um Rückzugswege für die Reste der Wehrmacht und für deutsche Flüchtlinge gekämpft wurde.

Der Hobbyhistoriker greift dabei auf die Prägungen der Region durch die Österreich-Ungarische Monarchie zurück. Der Schluckenauer Zipfel galt als Schmiede, als Zentrum der Metallbearbeitung und der Textilindustrie. Bis zu fünftausend Firmen soll es gegeben haben. Umso härter traf sie die Weltwirtschaftskrise nach 1929, und umso größer war dann die Bereitschaft der Sudetendeutschen, Hitler zu wählen und ihm nach der Annexion 1938 zuzujubeln. „Sie haben in ihm den Erlöser gesehen.“ Andonov berichtet von einem Deutschenanteil von 95 bis 98 Prozent in den Dörfern, von solchen, in denen gerade ein einziger Tscheche anzutreffen war, und nur in Städten wie Liberec oder Česká Lípa stellten sie 10-15 Prozent der Einwohner.

Verbrechen in einem aussichtslosen Krieg

Wie der von den Deutschen begonnene Krieg auf sie selbst zurückfallen würde, deutete sich am 13. Februar 1945 an. Bis hierher soll der Feuerschein des brennenden, etwa 60 km Luftlinie entfernten Dresden zu sehen gewesen sein. Asche und Papierfetzen flogen bis in den Schluckenauer Zipfel.

Militärisch greifbar wurde die drohende Niederlage dann nicht nur durch den Vormarsch der Roten Armee. 1944 war in Polen eine zweite polnische Armee gebildet worden. Angeblich ein Versuch, Polen durch Kommunisten zu infiltrieren, weil etwa ein Drittel der Führungsfunktionen durch die Rote Armee besetzt wurden. Aber das Gegenteil sei wahr, sagt Radek Andonov. Hier hätten Patrioten und ehemalige Partisanen gegen die Nazis gekämpft. Ein Freund von ihm aus dem Heimatverein erschien in einer Uniform der damaligen 2. Polnischen Armee und begleitete die Tour bis Lobendava auf einem historischen Fahrrad.

Sowjetische und polnische Soldaten stießen zunächst 1945 bis fast nach Dresden vor, schlossen am 19. April die Festung Bautzen ein. Doch in den Tagen bis zum 26. April fällt ihnen die letzte erfolgreiche deutsche Panzeroffensive in der Oberlausitz in den Rücken. Mindestens 5000 Tote und die doppelte Zahl an Verwundeten sind auf polnischer Seite zu beklagen.

Zugleich begehen beide Seiten entsetzliche Kriegsverbrechen. Am 22. April verbrennen in Niederkaina bei Bautzen polnische und sowjetische Soldaten 200 Volkssturmmänner in einer Scheune. Am selben Tag töten in Guttau ebenfalls bei Bautzen Deutsche das medizinische Personal und die Verwundeten eines polnischen Feldlazaretts. Radek Andonov berichtet von der Exhumierung eines Massengrabes mit 104 Leichen erst im Jahre 1961 bei Uhyst, die Hälfte deutsche Deserteure, die übrigen Russen und Polen.

Für die Bewohner der auf der Radtour besichtigten Orte dauerte der Krieg noch etwa zwei Tage länger. Andonov weiß über die Vorgänge speziell um Lobendau viel vom ehemaligen Pfarrer namens Posselt. Am 7. Mai seien die Polen herangerückt. Aber verbissen hätten sich 200 deutsche Männer mit nur zwei Geschützen auf die Verteidigung des Ortes eingerichtet, der schließlich eingeschlossen wurde. Ein Rückzugsweg nach Westen Richtung Dresden und Westalliierte sollte unbedingt freigehalten werden.

Die einfachen deutschen und polnischen Soldaten hatten keine verlässlichen Informationen über den Stand der Entscheidungsschlacht um Berlin. Neben vielen historischen Fotos hatte Radek Andonow auch ein Flugblatt des Großadmirals Karl Dönitz mitgebracht, der nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 die letzte provisorische Reichsregierung führte: „Kapitulation kommt nicht infrage!“ So fielen noch am 8. Mai in Lobendau 12 Männer, einer am nächsten Tag. In der Gewölbedecke der großen Dorfkirche sind noch Einschüsse zu sehen. Andonow vergleicht mit dem Prager Aufstand und der Befreiung, die „nur“ 30 Tote forderte.

Dramatischer Bevölkerungsschwund

Die Folgen der Vertreibung der Sudetendeutschen und des Gegenhasses auf sie wurden auf dieser Radtour wiederholt augenfällig. Häuser, ja ganze Ortsteile konnte man anhand historischer Fotos nur noch imaginieren. Andonov schätzt, dass in diesem Gebiet nach 1945 zehn oder elf Dörfer komplett abgesiedelt wurden. Severni zählt nur noch ein Viertel der ehemaligen Einwohner. In Lobendau waren es vor dem Krieg 1 600, in besten Zeiten sogar die doppelte Anzahl, worauf die große Kirche noch hindeutet. Heute sind es noch 250. Fugau im äußersten schmalen Nordzipfel des Zipfels ist nicht mehr auffindbar, wurde in den 1950-er Jahren dem Erdboden gleichgemacht. „Es war politisch nicht gewünscht, dass Menschen in Grenznähe leben“, sagt Radek Andonov. Man habe Angst gehabt, dass sich Deutsche hier wieder ansiedeln, die nach kommunistischer Ideologie als „feindliche Elemente“ galten.

Seit mehr als 20 Jahren sind diese ehemaligen Feinde freundliche Mitglieder der Europäischen Union. Bei einer Station der Radtour erläuterte Landeszentralen-Referent für Europa und Internationales Ivo Vacík auf dem großen Spiel- und Rastplatz in Steinigtwolmsdorf anhand eines selbst entwickelten EU-Spiels zentrale Entwicklungen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ziel war es, eine Brücke von der historischen Situation im Jahr 1945 zur aktuellen Lage zu schlagen.

Die Teilnehmenden hatten die Gelegenheit, markante Ereignisse – beginnend mit der Gründung der Montanunion 1951 bis hin zum Maastricht-Vertrag 1993 – kritisch zu reflektieren. Im deutsch-tschechisch-polnischen Teilnehmerkreis wurden darüber hinaus mehrere aktuellen Thesen der europäischen Sicherheitspolitik kontrovers diskutiert.

Der nachbarschaftlichen Stimmung im Pulk tat das keinerlei Abbruch. Es hätte nur noch die abschließende Einkehr in ein Wirtshaus bei böhmischem Bier gefehlt. Das aber muss man zwischen Šluknov/Schluckenau und Schirgiswalde lange suchen.