Das Phänomen „PEGIDA“

Soll man reden? Nein. Man muss reden! Thesen.

Am Abend des 10.11.2014 hatte die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) Rupert Neudeck zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen. Es war wie immer. Er brachte die notwendige Würze ins Gespräch. Jeder Mensch, so Neudeck, besitzt eine ihm innewohnende Vorstellung von dem, was Gut und Böse ist. In jedem Menschen wohnt die Mitmenschlichkeit.

Nach der Veranstaltung trafen er und ich auf den Dresdner Neumarkt auf eine Menge aus mehreren tausend Menschen. Wir sahen Deutschlandfahnen. Wir hörten laute Rufe. Wir sahen hunderte in die Höhe gehaltene leuchtende Handys. „Das ist ja so wie im nationalen Sozialismus.“ entfuhr es Rupert Neudeck. Das sind dieselben Bilder. Das sind dieselben Symbole. Das ist derselbe Irrtum wie damals. Das ist die verhängnisvolle Idee, sozialer Zusammenhalt ließe sich allein national organisieren. Seine Worte beeindruckten mich.

Als er sich verabschiedet hatte, ging ich zu den Organisatoren der PEGIDA-Demonstration. Ich fragte sie, was sie – die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – unter Abendland verstünden. Die Antworten blieben äußerst bescheiden. Ich tappte in die Falle der Phänomenologie, wie viele zu diesem Zeitpunkt. Ich hielt die Demonstration für eine rechtsextremistische Angelegenheit. Ich „sah“ Neonazis in verändertem Outfit. Ich täuschte mich. Ich übersah, dass sich tausenden Menschen aus vielerlei verschiedenen Gründen versammelt hatten, dass sich unter ihnen viele befanden, die ernste politische Probleme auf die Straße getrieben hatten. Ich habe mich öffentlich entschuldigt, die PEGIDA-Demonstranten noch im Dezember in toto für Rechtsextreme gehalten zu haben. Ein Teil der abgehaltenen Reden legte diesen Verdacht nahe. Inzwischen meine ich, das Phänomen differenzierter beurteilen zu können.

Gesprächsblockade aufzulösen

Am 3. Dezember 2014 veranstaltete die SLpB eine öffentliche Diskussion zu der Frage „Wie verteidigen wir das Abendland?“ Die hinter der Formulierung steckende Idee bestand darin, den von PEGIDA verwendeten Begriff aufzunehmen, die Demonstranten für eine seriöse Beschäftigung zu gewinnen und dazu beigetragen, die zu diesem Zeitpunkt noch beklagte Gesprächsblockade aufzulösen. Zur Veranstaltung kamen mehr als 200 Personen. Am 6. Januar 2015 wiederholte die SLpB die Einladung zur Diskussion, diesmal zu der sehr offenen Frage „Warum (nicht) zu PEGIDA gehen?“ Wir beobachteten ein weiter wachsendes Interesse, das nun auch von den Medien geteilt wurde.

Die vorgetragenen Probleme spiegelten einen Problem- und Gefühlsstau, der sich über lange Zeit entwickelt hatte. Genannt wurden u. a. ein allgemeines Unbehagen über „die“ Politik und „die“ Politiker, die nicht in der Lage sind, die sozialen Probleme konstruktiv zu lösen und ohnehin von „der“ Wirtschaft bzw. „den“ Lobbyisten abhängig und gekauft. Immer wieder artikuliert wurde die Angst vor einer unkontrollierten Zuwanderung von Menschen anderer Kulturen und Religionen. Es wurden Zusammenhänge hergestellt zwischen Rüstungsexporten, ausbrechenden Kriegen und sich anschließenden Flüchtlingsbewegungen. Einige kritisierten die „völlig verfehlte Entwicklungspolitik“. Viele äußerten ihren Protest dagegen, von „der“ Politik mit Arroganz behandelt zu werden. Im Kontext von Formulierungen wie „Die reden nicht mit uns, und wenn überhaupt, dann nur von oben herab.“ „Wenn wir nicht einverstanden sind, erklären sie uns die Dinge ein zweites Mal, wie Oberlehrer es mit einem verstockten Kind zu tun pflegen.“ wurde auch erkennbar, dass Politik und Verwaltung oft als miteinander identisch betrachtet werden. Den größten Raum nahm die Klage dagegen ein, bei der Standortwahl von Asylbewerberheimen nicht einbezogen worden zu sein. Nicht selten verband sich der Protest mit Fragen nach der Gestaltung des alltäglichen Lebens in Sammelunterkünften, nach der Organisation der ärztlichen Versorgung für die Flüchtlinge und nach der Präsenz der Polizei insbesondere im ländlichen Raum.

Starke Ablehnung des gesellschaftlichen und politischen Systems

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen, auf der Grundlage der Beobachtungen des Demonstrationsgeschehens vornehmlich in Dresden, auf der Grundlage von Erfahrungen aus Veranstaltungen, die im Zusammenhang der Proteste gegen die Unterkünfte für Asylsuchende in anderen sächsischen Städten, u. a. in Riesa, Schneeberg, Chemnitz, Neukirch/L.), organisiert wurden sowie auf der Grundlage der Sichtung von Korrespondenz (Telefonate, Briefe, Mails, Facebook - Einträge) mit ca. 200 Personen, die zum Teil ihre Sympathie zu PEGIDA zum Ausdruck brachten, darf ich an dieser Stelle einige Thesen vortragen. Diese basieren auf den Wahrnehmungen eines Teils der sächsischen Bevölkerung, der sich seit ca. 6 Monaten erkennbar politisiert und artikuliert. Zu konstatieren ist in diesem Teil eine starke Ablehnung des gesellschaftlichen und politischen Systems.

Diese Ablehnung geht einher

  • mit einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber seinen Funktionsträgern bzw. Funktionseliten einerseits, insbesondere werden genannt: „die Politiker“ und „die Medien“,
  • mit einer schwach ausgeprägten Neigung und Fähigkeit, das System und die Funktionsträger öffentlich zu verteidigen andererseits.

Diese Ablehnung geht außerdem einher:

  • mit einem mangelhaften Verständnis der Funktionsweise des gesellschaftlichen und politischen Systems,
  • mit dem Gefühl der Überfremdung durch zum überwiegenden Teil aus Westdeutschland stammenden Funktionseliten (Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien, Kultur),
  • mit der Bereitschaft, die Ablehnung, das Misstrauen und den Unmut in stark emotionalisierter Art auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken  zum Ausdruck zu bringen. („Wir müssen es denen da oben mal zeigen.“; „Wir müssen ein Zeichen setzen.“)

These 1:

Das Verständnis und die Akzeptanz des Systems der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, des Grundgesetzes, des Staatsaufbaus, der repräsentativen Demokratie, der Funktionsweise der Institutionen (z. B. Medien und Presse) sind auch 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung Deutschlands / dem Beitritt der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bei Teilen der sächsischen Bevölkerung nur schwach ausgeprägt. Das System wird von einem (kleinen) Teil der Bevölkerung nicht als das eigene erkannt und akzeptiert.

Viele Beiträge (Redebeiträge bei Demonstrationen, Korrespondenzen, Beiträge in Diskussionsveranstaltungen) zeugen von einem technokratischen (fast mathematisch-technischen) Politikverständnis. Oft wird nicht realisiert bzw. nicht akzeptiert, dass politische Meinungs- und Willensbildungsprozesse in der Demokratie viel Zeit beanspruchen, Kompromisscharakter tragen, dem Mehrheitsprinzip unterworfen sind und von sachfremden Faktoren beeinflusst werden. In vielen Beiträgen spiegelt sich ein autoritäres Politikverständnis.

These 2:

Die beobachteten Phänomene sind auch Ausdruck und Folge anhaltender Unterschiede bzw. einer sogar fortschreitenden Auseinanderentwicklung sozialer Milieus.

Die Unterschiede werden stärker bzw. deutlicher erkennbar:

  • zwischen der ökonomischen, sozialen und demografischen (!) Entwicklung der urbanen Zentren einerseits und der Entwicklung des ländlichen Raums andererseits,
  • zwischen den einkommensstarken (besser verdienenden) und einkommensschwachen Teilen (prekäre Arbeitsverhältnisse, 3. Arbeitsmarkt, „Generation Praktikum“, anwachsende und v. a. prognostizierte Altersarmut) der Bevölkerung,
  • zwischen den bildungsstarken und bildungsschwachen Teilen der Bevölkerung,
  • zwischen alten und jungen Menschen; erstere fühlen sich vielfach überfordert; letztere können als Gewinner der Transformation und Globalisierung gelten und sich leichter mit neuen Entwicklungen (z. B. in den Informations- und Kommunikationstechnologien) arrangieren.

In (kleinen) Teilen der indigenen Bevölkerung bzw. in Teilen der sich im Gegenüber zu der aus Westdeutschland zugezogenen Bevölkerung als einheimisch empfindenden Bevölkerung existieren nach wie vor erhebliche Ressentiments. Dies gilt wohl auch umgekehrt.

In der beobachteten Gruppe (bei Demonstrationen von PEGIDA und Veranstaltungen, über Kontakte und Korrespondenzen) versammeln sich tendenziell:

  • mehr Menschen mit dem Hauptwohnsitz im ländlichen Raum als Menschen mit dem Hauptwohnsitz in den urbanen Zentren,
  • mehr Menschen aus den Teilen der Bevölkerung mit eher geringem oder mittlerem Einkommen als Menschen mit höherem Einkommen,
  • mehr Menschen mit (einseitig) ausgeprägter technischer, ökonomischer und praktischer Kompetenz als Menschen mit (einseitig) ausgeprägter theoretischer, politischer, sozialer und kultureller Kompetenz,
  • mehr Männer als Frauen, mehr ältere als jüngere Menschen,
  • mehr Menschen, die sich als Einheimische fühlen (in der DDR sozialisiert bzw. Kinder von Eltern, die in der DDR sozialisiert sind), als Menschen, die aus Westdeutschland nach Sachsen gekommen sind (bzw. Kinder von Eltern, die aus Westdeutschland nach Sachsen gekommen sind).

Bei den PEGIDA - Demonstrationen summieren sich die beschriebenen Merkmale. „In Dresden tanzt der Opernball. In der Lausitz heulen die Wölfe. Jetzt fahren wir zur Demo.“

These 3:

Die von offener, öffentlicher, fairer, auf gegenseitiges Verständnis und auf Kompromiss abzielender Auseinandersetzung geprägte, politische Kultur ist schwach ausgeprägt. Opposition wird oft nur als Konfrontation wahrgenommen und betrieben. Die konstruktive Funktion von Opposition wird nicht verstanden oder übersehen, schlicht nicht ausgehalten, nicht gewollt und nicht aufgenommen.

Viele Beiträge (oft von Personen, die mit PEGIDA sympathisieren) beklagen, dass sich Verantwortungsträger in Politik und Verwaltung der öffentlichen Auseinandersetzung entziehen.

Das (PEGIDA-) Demonstrationsgeschehen, insbesondere der vergangenen Wochen ist gekennzeichnet durch schwindende Differenzierung und durch zunehmende Radikalisierung (Diffamierungen, pauschale Abqualifizierungen). In den durchgeführten Dialogforen, Informations- und Diskussionsveranstaltungen äußerte sich ein großes Rede- und Mitteilungsbedürfnis. Nur selten konnte eine ausgeprägte Bereitschaft zum verstehenden Zuhören, zum Argumentieren, zum nachdenklichen Abwägen, zum kompromiss- und konsensorientierten Diskutieren festgestellt werden.

Auch die PEGIDA - Demonstrationen stießen rasch und stoßen nach wie vor auf starke demonstrative Gegenwehr. Das Schema „Links gegen Rechts; Rechts gegen Links“ ist ausgeprägt. Die Empörung über die im öffentlichen Raum vorgetragenen rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Positionen ist glaubwürdig und wird gut organisiert. Vermittlungsversuche werden öffentlich diskreditiert und angefeindet. („PEGIDA - Versteher“) 

These 4:

In Teilen der Bevölkerung gibt es eine ausgeprägte Islam- und Fremdenfeindlichkeit, zumindest erhebliche Ressentiments. Diese äußern sich zunehmend offen, pauschal und radikal.

Dass sich diese Phänomene in Sachsen zeigen, wo der Ausländeranteil sehr gering ist, wo es wenige Erfahrungen mit fremden Kulturen gibt und wo nur wenige Muslime leben, muss nicht verwundern.

  • Der Islam und fremde Kulturen ganz allgemein fungieren als Projektionsflächen eines allgemeinen Unmuts und großer politischer Verunsicherung.
  • Soziale Verhältnisse wie in Neukölln oder Duisburg werden antizipiert und als bedrohlich empfunden. Prominente Kritiker wie z. B. Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky können in Anspruch genommen werden.
  • Ängste entstehen insbesondere dann, wenn konkrete, alltägliche Erfahrungen fehlen.
  • Die politische Situation in Syrien, in Libyen, im Irak sowie die Berichterstattung über die vom so genannten Islamischen Staat ausgehende Gewalt sind angetan, schlimmste Befürchtungen auszulösen.
  • Muslime, die nach Sachsen kommen, treffen auf eine zu ca. 80% areligiöse Bevölkerung. Die „Wiederkehr des Religiösen“, das viele für überwunden glaubten, verunsichert.

Mit dem Untergang der DDR ist nahezu geräuschlos und in kürzester Zeit die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus verschwunden. Wenngleich sie von den meisten Menschen in der DDR als funktionsuntüchtig erlebt und kritisiert wurde, gab sie doch eine gewisse Orientierung, begründete eine Weltsicht und Gesellschaftsordnung, formulierte nachvollziehbare Ideale und verhieß Schutz vor globalen Bedrohungen. Sozialwissenschaftler vom Göttinger Institut für Demokratieforschung diagnostizieren eine „politische Heimatlosigkeit und weltanschauliche Leere“ als Ursachen für „PEGIDA in den Trümmern des einst roten Sachsen“.

These 5:

Zum offenen politischen Dialog über den ausgebrochenen Problem- und Gefühlsstau gibt es keine vernünftige Alternative. Er ist auf möglichst vielen Ebenen zu führen. Nach wie vor gibt es viele ernst zu nehmende Problemanzeigen von Bürgern, die bisher keine andere politische „Adresse“ als PEGIDA  und Co. gefunden haben. Es ist nicht sicher, ob durch Dialog und Diskurs eine weitere Radikalisierung im Protest- und Demonstrationsgeschehen verhindert werden kann.

Ich bin überzeugt, dass die Stärke des demokratisch verfassten Gemeinwesens in Konfliktfällen besonders deutlich hervortritt. Diese Fälle müssen erkannt, akzeptiert und in vernünftig ausgetragenem Streit angegangen werden. Ich darf am Ende kurz auf Rupert Neudeck zurückkommen. Ich teile seine Überzeugung, dass jeder Mensch ein tiefes Verständnis von dem besitzt, was Gut und was Böse ist. Deshalb können wir im Gespräch bleiben. Er war vor kurzem wieder in Dresden und hat sich an einer Veranstaltung beteiligt. Im Rückblick auf die seit November vergangenen Monate stelle ich fest, dass sich nicht nur eine Radikalisierung eines (kleinen) Teils der PEGIDA - Demonstranten ergeben hat, sondern auch eine Diskussionskultur entstanden ist, die helfen kann, den Problem- und Gefühlsstau abzubauen.

Dieser Beitrag erschien in Der Landkreis, Mai 2015.