Corona und die Grundrechte

Ausgangssperren sind ein historisch einmaliger Eingriff in die Freiheit. Gerade jetzt braucht der Staat eine kritische Öffentlichkeit.

Die Franzosen haben die Bastille gestürmt, die Deutschen haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfunden. – Dieses Bonmot der deutschen Staatsrechtslehrer Bodo Pieroth,Bernhard Schlink und Michael Kniesel gewinnt in der Corona-Krise eine tiefgreifende Bedeutung. Mit den vor Tagen erlassenen Ausgangsbeschränkungen greift der deutsche Staat massiv in die Freiheitsrechte seiner Bürger ein – und selbst geneigte Beobachter fragen sich, ob und in welchem Maße er das darf und tun sollte. Ausgangssperren und Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind in der deutschen Geschichte nicht neu – allerdings erfolgten sie zumeist vor der Etablierung des demokratischen Rechtsstaates, meist in Kriegszeiten oder durch totalitäre Regime. Die sowjetische Besatzungsmacht verhängt beispielsweise in der ehemaligen DDR nach den Aufständen des 17. Juni 1953 den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre, um weitere Proteste zu verhindern. 

Am stärksten ähnelt die heutige Situation aber der Cholera-Epidemie von 1892 in Hamburg. In der Hansestadt erkrankten – aufgrund mangelnder Hygiene in der Trinkwasserversorgung – in rasendem Tempo 16.956 Menschen, von denen 8.605 starben. Der von der Reichsregierung als „Reichs-Commissar für die Gesundheitspflege im Stromgebiet der Elbe“ eingesetzte Mediziner Robert Koch riegelte den Hafen, die Schulen ab, verbot Versammlungen, so dass das gesamte öffentliche Leben zum Erliegen kam, verbesserte die Wasserversorgung. Nach zehn Wochen war die Krise gebannt, die Zahl der Neuerkrankungen sank – die Maßnahmen hatten gegriffen. 

Der „Sturm auf die Bastille“ bleibt in Deutschland aus"

Keine Ausgangssperren gab es dagegen nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986. In beiden deutschen Staaten wurden die Gefahren heruntergespielt. Im Westen stritten Politik und Experten über radioaktive Grenzwerte. Während Hessen und Bayern zumindest Spiel- und Sportstätten phasenweise schlossen, ließ Baden-Württemberg sie weiter offen. Im Westen führte die Atomkatastrophe zu heftigen Protesten der Umweltbewegung – während in der DDR die Gefahren totgeschwiegen wurden. Lediglich in der ostdeutschen Bürgerrechts- und Umweltbewegung begannen Diskussionen – zumeist in den Kirchen, da diese im totalitären DDR-Staat eine gewisse Autonomie bewahrt hatten.

Derartige Debatten sind heute fast nur noch online, in der Presse, im Radio und Fernsehen möglich, da etwa die Kirchen (wie auch Moscheen und Synagogen) wochenlang geschlossen sind. Das ist ein noch nie dagewesener Einschnitt in der europäischen Religionsgeschichte. Wie es scheint, wird es flächendeckend keine Karfreitags- und Ostergottesdienste geben, was selbst im Zweiten Weltkrieg oder im Dreißigjährigen Krieg nicht der Fall war. Doch nicht nur die in Art. 4 Grundgesetz (GG) festgeschriebene Religionsfreiheit ist eingeschränkt, sondern auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), die Freizügigkeit insgesamt (Art 11 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), ebenso die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5.3), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13.1). Auch das Asylrecht ist durch die geschlossenen Grenzen kaum anwendbar (Art 16a). Die Presse- und Meinungsfreiheit (Art 5.1) besteht fort. Die Parlamente sind handlungsfähig, arbeiten unter Hochdruck an der Anpassung der einschlägigen Gesetze, sodass der demokratische Rechtsstaat weiter intakt ist. Der Sozialstaat funktioniert, erlebt eine schwere Belastungsprobe.

Der „Sturm auf die Bastille“ bleibt in Deutschland trotzdem aus – die einschränkenden Maßnahmen werden von der Bevölkerung akzeptiert, weil die Bedrohung der allgemeinen Gesundheit einsichtig ist – und die Menschen eine Art „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ verspüren, wie es der Göttinger Soziologe Berthold Vogel ausgedrückt hat. Die Regierungen und Verwaltungen werden von rechtsstaatlich gesonnenen Parteien und Politikern getragen werden, die transparent ihre Anordnungen begründen. Das schafft Vertrauen.

"Entsprechen ... Ausgangsbeschränkungen wirklich dem Prinzip der Angemessenheit?"

So weit – so gut. Und doch ist es gerade „in der Stunde der Exekutive“ geboten, dass die Öffentlichkeit - wie auch sonst in der Demokratie üblich – die Politik kritisch-konstruktiv begleitet. Machen wir uns klar: Im Prinzip könnte gegenwärtig keine Demonstration stattfinden, die sich gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte wehrt. Deshalb muss andernorts – etwa im Internet – über die aktuelle politische, rechtliche und gesellschaftliche Entwicklung diskutiert werden. Die Öffentlichkeit sollte dabei als Maßstab zur Bewertungen der verordneten Einschränkungen das Kriterium anlegen, das auch sonst im Rechtsstaat grundlegend ist: das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es besagt, dass der Nutzen einer Regelung ihren Schaden überwiegen muss. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gliedert sich in die Unteraspekte des legitimen Zwecks, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit einer Maßnahme. Damit ist das Verhältnis einer Regelung zum Erhalt der Rechtsordnung insgesamt gemeint.

Die ersten drei Aspekte sind in der Corona-Krise erfüllt, da nur durch die soziale Distanz das Risiko einer Ansteckung und damit die Zahl der Infizierten gesenkt werden kann. Auf diese Weise soll das deutsche Gesundheitswesen stabil gehalten werden. Die rechtliche Grundlage der massiven Einschränkungen sind die Paragrafen 28-33 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die ausdrücklich Grundrechtseinschränkungen vorsehen. Rechtlicher Konsens besteht zudem darin, dass Einschränkungen der Freiheitsrechte zeitlich begrenzt und sachlich begründet sein müssen.

Allerdings diskutieren in diesen Tagen Rechtswissenschaftler – etwa auf den Seiten des juristisch-journalistischen verfassungsblog.de –, ob die Paragrafen des IfSG wirklich hinreichend sind, um mehr als individuelle Quarantäne und Ausgangsverbote zu verordnen. Entsprechen also allgemeine Ausgangsbeschränkungen wirklich dem Prinzip der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit? Der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen meldet etwa gegenüber den bayrischen Allgemeinverfügungen Zweifel an, etwa weil die Schließungen von Hochschulen und das Verbot von allgemeinen Versammlungen im IfSG nicht aufgelistet würden. Er wirbt dafür, schnell sichere Rechtsgrundlagen zu schaffen. Kingreen weist auch darauf hin, dass nach dem Grundgesetz keinesfalls das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2) über den anderen Grundrechten stehe.

"Vielleicht schweißt die Krise die Menschen zusammen"

Doch auch jenseits der Juristenzunft mehrt sich Kritik an den Ausgangsbeschränkungen. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, sieht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, weil die überwältigende Mehrheit der Bürger sich an die Abstandsregeln hielte. Deshalb gebe es keinen Grund, aufgrund des Fehlverhaltens weniger die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, so Landsberg. Der Zwang der Allgemeinquarantäne biete sich nur für dezidierte Risikogebiete an, ansonsten solle der Staat aufklären.

Nicht nur über Sinn und Grenze der Einschränkungen der Freiheitsrechte braucht es eine Debatte, sondern auch über die weitreichenden politischen Maßnahmen, die gerade beschlossen werden. Über ein Jahrzehnt diskutierte ganz Europa über die Schuldenbremse. Nun ist sie binnen weniger Tage ausgesetzt. Die Bundesregierung legt ein wirtschaftliches Hilfspaket von 156 Milliarden Euro, das nur durch neue Schulden beglichen werden kann. Dies geschieht ohne größere gesellschaftliche Debatte. Zweifellos hat der Bund in den letzten Jahren Schulden abgebaut, so dass nun Spielräume bestehen. Wenn gleichzeitig aber Steuern zu sinken und die Konjunktur abzuflachen drohen, möchte doch auch der „staatsbedürftige Bürger“ wissen, wie sich Schulden langfristig refinanzieren lassen, welche Einschränkungen und Steuererhöhungen auf ihn zukommen.

In diesen Tagen wird aus guten Gründen der gesellschaftliche Zusammenhalt beschworen – und es gibt viele gute Solidaritätsbeispiele zu beobachten. Vielleicht schweißt die Krise die Menschen zusammen, vielleicht lassen sich sogar ebenso erwartbare Verteilungskämpfe verhindern. Gerade deshalb ist es wichtig, dass in einer Gesellschaft mündiger Bürgerinnen und Bürger kein „diskursiver Notstand“ entsteht, wie es der Bayreuther Rechtsphilosoph Carsten Bäcker nennt. Denn auch in der Krise lebt die Demokratie vom Abwägen der Argumente und vom Gegensatz der Meinungen. So wie die Bürger jetzt den Staat brauchen, braucht dieser gerade jetzt eine offene und damit debattenfreudige Gesellschaft.

 

Dieser Text erschien am 27. März 2020 als Gastartikel in der Sächsischen Zeitung