Chance für einen Entwicklungsschub

Der Fernunterricht im häuslichen „Arrest“ sei ein großes Problem gewesen, meinte eine deutliche Mehrheit der Teilnehmer der beiden Webtalks zum Thema "Digitale Schule: Geht die Schere der Bildungsgerechtigkeit weiter auseinander?".

Am zweiten Abend bescheinigte eine breite Mitte sächsischen Schulen immerhin, in der Krise halbwegs gut funktioniert zu haben. Gar eine vollständige Zustimmung gab es zur zweiten Umfrage, ob die Krise genutzt werden solle, die Schule des 21. Jahrhunderts strukturell neu zu bauen. Sie sei schon vorher in einer durch Corona nur verdeutlichten Krise gewesen, meinten auch alle Teilnehmer am zweiten Abend.

Die Bildung ihrer Kinder und die dabei anzustrebende Chancengerechtigkeit bewegt offenbar viele Bürger, denn das Interesse an diesem Webinar zu Chancen und Risiken der digitalen Schule war rege und von überzeugenden Erfahrungen geprägt. Bei den zuvor schon überprüfungswürdigen Mängeln im sächsischen Schulsystem standen die Lehrplaninhalte und die Stofffülle an erster Stelle. "Wissen wird reproduziert statt angeeignet", kritisierte Pädagogik-Professorin Anke Langner von der TU Dresden. Nach vier Wochen wüssten Abiturienten schon kaum noch etwas von den Prüfungsinhalten. Mit Anke Langner hatte die Landeszentrale pikanterweise die "Mutter" der erst 2019 gegründeten Dresdner Universitätsschule eingeladen. Sie verbindet modernste elektronische Organisationsformen mit individueller reformpädagogischer Förderung und kam deutlich besser durch die Krise als viele Regelschulen. Dieser individuellen Förderung bedarf es in Krisenzeiten besonders, unterstrich auch Landesschülerratssprecherin Joanna Kesicka. Sie lehnt ebenfalls das von Professorin Langner kritisierte "Bulimie-Lernen" ab, das in Corona-Zeiten erst recht an seine Grenzen stieß. "Wir müssen diskutieren, was Schüler wirklich für ihr Leben brauchen", meinte auch Psychologin Brit Reimann von der Evangelischen Schulstiftung Sachsen.

40 Seiten theoretisches Schwimmen

Schilderungen gestresster Eltern boten den Einstieg in die Diskussion, was aus den Erfahrungen der Schulschließzeit zu lernen sei. Denn dass diese wie jede Krise auch die Chance für einen Entwicklungsschub bietet, stand außer Frage. "Es ging über die gesundheitlichen Grenzen", seufzte eine Mutter über ihre Bemühungen, die Hausaufgaben im wörtlichen Sinn zu organisieren. Die Internetverbindung brach zusammen, wenn mehr als ein Kind gleichzeitig online arbeiten wollte.

Lehrer seien ebenfalls mit der Auswahl und Zusammenstellung der Aufgaben überfordert gewesen, meinten andere. Was nutzt eine 40-seitige theoretische Schwimmanleitung? Die LernSax-Software des Kultusministeriums wurde nicht generell verdammt, sei aber viel zu trocken und biete keine horizontalen Austauschmöglichkeiten unter Schülern. Kein einheitliches Meinungsbild gab es zu der Frage, ob das Homeschooling Unterschiede zwischen begabten und leistungsschwächeren Schülern vertieft habe. Brit Reimann berichtete auch, dass einige mit dem selbstorganisierten Lernen überraschend besser zurechtkamen. Das könne man aber erst ab der 7. Klassenstufe erwarten, erklärte Anke Langner.

Letztlich lief alles auf die von Schülerratssprecherin Joanna Kesicka geprägte Formel hinaus: "Präsenzunterricht ist nicht ersetzbar!" Woraus sie für die Zukunft gleich einen Bedarf an außerpädagogischen Unterstützungskräften anmeldete, Psychologen, Sozialarbeiter, die im Koalitionsvertrag genannten Verwaltungsassistenten. Ralf Seifert, der in den heftigsten Wochen die Hotline des Kultusministeriums betreute, mahnte auch selbstkritisch eine neue Fehlerkultur an, die akute Überforderungen eingestehen kann. Er nimmt als wichtigste Botschaft mit, wie wesentlich soziale Fragen nicht nur in Krisenzeiten sind.

Bei aller Kritik blieb denn auch die Atmosphäre beider Webtalks angenehm verständnisvoll. Es gab auch Komplimente an Lehrer für ihren engagierten Einsatz. Retour konnten auch der Landesschülerrat, die Schülerräte insgesamt ein Lob für ihre konstruktive Mitwirkung verbuchen. Die bedankten sich wiederum für fortgesetzte demokratische Beteiligung. Was allerdings Ralf Seifert vom Ministerium doch relativierte. Nach seinen Beratungserfahrungen vermissten Eltern ihre gewohnte Teilhabe. "Das Vertrauen hat gelitten", räumte er ein.

Ein Mitschnitt der Diskussion vom 13. Juli ist auf unserem YouTube Kanal verfügbar.

Bis zum 17. Juli veranstaltete die SLpB Online-Bürgerdebatten, in der die Menschen im Freistaat aufgerufen sind, mit Fachleuten über die Folgen der Coronakrise zu diskutieren. Weitere Informationen finden Sie hier.