Biopolitik als Mainstream der 1930er Jahre?

Wie stand die Evangelische Kirche zu Eugenik, Zwangssterilisation und Krankenmord?

Das Deutsche Hygiene-Museum, die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und die Evangelische Hochschule Dresden luden am 13.05.2025 zu einer Buchpräsentation und Podiumsdiskussion zur Biopolitik und der Haltung der Evangelischen Kirche ein. Zu diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte haben der Marburger Kirchenhistoriker Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser und der Berliner Historiker Dr. Uwe Kaminsky nach jahrelanger Forschungstätigkeit die Quellenedition der Protokolle des „Ständigen Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege“ der Inneren Mission 1931–1938 herausgegeben.

 

Die Edition zeigt deutlich, wie sich seit Anfang der 1930er Jahre auch evangelische Theologinnen und Theologen, Medizinerinnen und Mediziner, Juristinnen und Juristen sowie Fürsorgekräfte aus diakonischen Einrichtungen mit Fragen der Eugenik (Erbgesundheitslehre) und der Euthanasie (also der Tötung von behinderten oder als sozial minderwertig betrachteten Menschen) auseinandersetzten.

Das Deutsche Hygiene-Museum erwies sich daher als passender Ort für diese Buchvorstellung, da es in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus deutschlandweit zu den führenden Einrichtungen zur Verbreitung eugenischen Denkens gehörte.

Das Gespräch führen Julia Bienholz-Radtke (Deutsches Hygiene-Museum), Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser (Philipps-Universität Marburg), Dr. Uwe Kaminsky (Charité Berlin) und Prof.in Dr.in Anja Katharina Peters (Evangelische Hochschule Dresden), aufgezeichnet von Dr. Roland Löffler (Sächsische Landeszentrale für politische Bildung).

Roland Löffler: Eugenik, Euthanasie, Biopolitik – was ist das eigentlich und worin unterscheiden sich diese Begriffe?

Julia Bienholz-Radtke: Der Begriff der Biopolitik ist eng mit dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) verbunden. Er argumentierte, dass die Lebensführung der Bevölkerung in der Moderne zum Gegenstand von Politik geworden und in Macht- und Wissensstrukturen eingebettet ist.
Die Eugenik kann als historisches Beispiel begriffen werden. Die eugenische Idee verbreitete sich im ausgehenden 19. Jahrhundert international und zielte auf die gesellschaftliche Kontrolle der Fortpflanzung. Damit war die Vorstellung verbunden, das Erbgut der Bevölkerung verbessern und die Ausbildung von Krankheiten verhindern zu können. Während Menschen mit vermeintlich positiven Erbanlagen Anreize zur Fortpflanzung erhalten sollten, wollte man Menschen mit negativen Erbanlagen von der Fortpflanzung ausschließen. Dabei wurden zunehmend auch Zwangsmaßnahmen, beispielsweise zur Sterilisation von psychisch kranken Personen, erwogen.
Die Tötung von Menschen wurde ebenfalls gesellschaftlich diskutiert. 1920 veröffentlichten der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche die einflussreiche Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Der Begriff „Euthanasie“ meinte in diesem Zusammenhang die schmerzlose Tötung durch Ärztinnen und Ärzte.

Roland  Löffler: Das hatte dann im Nationalsozialismus erhebliche Folgen …

Julia Bienholz-Radtke: Der nationalsozialistische Staat überführte diese Überlegungen in die Praxis. Im Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verabschiedet, das die staatlich angeordnete Sterilisation von ca. 400.000 Menschen zur Folge hatte. Nach 1939 töteten medizinisches und pflegerisches Personal ca. 200.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie psychischen Erkrankungen.

Roland Löffler: Kommen wir auf Kirche und Diakonie zu sprechen. Welchen Beitrag leistete der Protestantismus zum Aufbau des Sozialstaates – und wie kam es hier zur Akzeptanz des eugenischen Denkens?

Jochen-Christoph Kaiser: Die Sozialpolitik entstand lange vor der Reichsgründung 1870/71 nicht auf staatliche Anordnung, sondern eher aus der Zivilgesellschaft heraus, die auf eine Reihe von gesellschaftlichen Herausforderungen reagierte. Es handelte sich überwiegend um kirchliche Gruppen, die je nach Region entweder katholisch oder protestantisch geprägt waren. Aus diesen entwickelte sich ab 1848 die sogenannte Innere Mission (später: Diakonie genannt), während sich die Katholiken 1897 zur Caritas zusammenschlossen.
Diese konfessionellen Träger richteten ihr Augenmerk auch auf jene sozialen Ränder, die von anderen Institutionen gar nicht erreicht wurden. Sie schufen Heime für diese Klientel und machten mehr oder weniger erfolgreiche Versuche ihrer Integration in die Gesellschaft. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs das Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung und auch ein Verständnis dafür, dass diese bisher vernachlässigten Sektoren dringend reformiert werden mussten. Allmählich entstand daraus ein neuartiger Diskurs, der sich von der religiösen Ursprungssphäre emanzipierte und Bestandteil der Gesundheitswissenschaften wurde. Diese Entwicklung war auch mitverantwortlich dafür, dass sich in der Sozialfürsorge ein Paradigmenwechsel in Richtung einer Ökonomisierung des medizinisch-sozialen Bereichs vollzog. Unter dieser Vorgabe entstanden Programme zur Unfruchtbarmachung devianter Gruppen durch ihre freiwillige oder zwangsweise Sterilisation. Denn die wissenschaftliche Medizin ging damals von der unbewiesenen Prämisse aus, dass etwa behinderte oder schwerkranke Menschen wiederum behinderte oder kranke Nachkommen zur Welt bringen würden. Das sollte durch eine vorsorgliche Sterilisation verhindert werden. Danach entstanden, wie Frau Bienholz-Radtke schon ausführte, auch Ideen zu ihrer physischen Liquidation, also zur „Euthanasie“.

Roland  Löffler: Wie schlugen sich diese Trends in der sächsischen Landeskirche und der ihr verbundenen Inneren Mission nieder?

Uwe Kaminsky: Die Diskussion erreichte in Sachsen einen Höhepunkt, als der Bezirksarzt Gustav Boeters 1924 einen Entwurf für ein Sterilisationsgesetz vorlegte, das als „Lex Zwickau“ in die Debatte eingehen sollte. Sein Aufruf an die deutsche Ärzteschaft zur zwangsweisen rassenhygienischen Unfruchtbarmachung von „Blödsinnigen, Epileptikern oder Taubstummen“ fand eine positive Aufnahme bei Pfarrer Johannes Hünlich aus Stangengrün (bei Zwickau), der die Sterilisation „Bausteine“ befürwortete. Auch der Leiter der Anstalt Katharinenhof in Großhennersdorf, Medizinalrat Ewald Meltzer, der dann auch im „Ständigen Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ später auftauchen sollte, schloss sich einem Plädoyer für die Zwangssterilisation an.

Roland Löffler: Worin unterschied sich die Diskussion in der Inneren Mission von jener in anderen Wohlfahrtsverbänden?

Uwe Kaminsky: Die Innere Mission war der einzige Wohlfahrtsverband, in dem die Diskussion über Eugenik in den Jahren 1931 bis 1938 diese Institutionalisierung in einem Ausschuss erfuhr. Auch in der Arbeiterwohlfahrt oder der Caritas hat es Personen gegeben, die eugenische Positionen vertraten, doch hat die Diskussion dort nicht diesen Niederschlag gefunden. Auf katholischer Seite gab es mit dem Theologen Joseph Mayer und dem Jesuiten und Wissenschaftler Hermann Muckermann zwei explizite Vertreter der Eugenik. Als im Jahre 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch das NS-Regime beschlossen wurde, gab es nur wenig kirchlichen Widerspruch gegen den eingeführten Zwang zur Sterilisation von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen.

Roland Löffler: Wie kam es bei der Inneren Mission zur Einrichtung des „Ständigen Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege“?

Uwe Kaminsky: Hier hatte der Leiter der Gesundheitsabteilung im Centralausschuss für Innere Mission, der Volkswirt und Arzt Hans Harmsen, bereits 1930 den Wechsel von der Individualfürsorge zur Sorge für das Volk vorangetrieben. Er lud für den Mai 1931 zur ersten „Fachkonferenz für Eugenik“ ein, die sich seit 1934 „Ständiger Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ nannte. Er tagte bis 1938. Seine Protokolle haben wir in unserem Band dokumentiert. Neben der Beförderung der Eugenik in der Wohlfahrtspflege in Form der freiwilligen Sterilisation sprach man sich allerdings gegen die „Euthanasie“ aus.

Jochen-Christoph Kaiser: Man darf nicht vergessen, dass Harmsen nicht nur sehr ehrgeizig war, sondern mit dem „Ständigen Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ und der dazugehörigen Geschäftsstelle einen Apparat besaß. Mit dessen Hilfe konnte er beharrlich seine Ziele verfolgen und über Netzwerke in verschiedene Teile der Gesellschaft streuen. Die Akteure waren gut miteinander verbunden, man tauschte sich aus, unterstützte einander und suchte die Öffentlichkeit. Zu diesem Netzwerk gehörte auch das DHMD.

Roland Löffler: Welche Rolle spielte das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden bei der Verbreitung eugenischen Denkens?

Julia Bienholz-Radtke: Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (DHMD) verstand sich seit seiner Gründung 1912 als Institution der Gesundheitsaufklärung. Während eugenische Positionen zunächst noch eine untergeordnete Rolle spielten, entwickelten sich diese in den 1920er Jahren zu zentralen Themen der Museumsarbeit. Es vertrieb eigene Lehrmittel und Publikationen zum Thema und erarbeitete eigene (Wander-)Ausstellungen, die oft ein großes Publikum fanden.
Die Gesundheitsausstellungen der 1920er- und 1930er-Jahre vermittelten den Besucherinnen und Besuchern nicht nur praktisches Gesundheitswissen, sondern sie propagierten und popularisierten auch die Unterscheidung zwischen vermeintlich „hochwertigen“ und vermeintlich „minderwertigen“ Menschen. An diesen Ausstellungen lässt sich der Aufstieg der Eugenik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzeichnen.

Roland Löffler: Es bestand demnach eine direkte Verbindung zwischen dem einflussreichen Arzt Hans Harmsen und dem Deutschen Hygiene-Museum? Worin genau lag diese Verbindung?

Julia Bienholz-Radtke: Hans Harmsen war an der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung beteiligt, die 1930 anlässlich der Eröffnung des Museumsgebäudes in Dresden stattfand. Unter dem Titel „Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens“ präsentierte hier die deutsche Reichsregierung gemeinsam mit verschiedenen sozialen Verbänden eine kulturhistorische Schau, die die deutsche Sozialfürsorge umfangreich vorstellte. Der Eugenik war ein eigenes Ausstellungskapitel gewidmet, das weitreichende politische Forderungen wie Eheberatungen, Gesundheitszeugnisse und – bei schweren Erbkrankheiten – sogar Eheverbote forderte.
Harmsen war als wichtiger Vertreter des Central-Ausschusses der Inneren Mission ebenfalls an der Entwicklung der Schau beteiligt und verantwortete zwei Ausstellungskapitel. So schrieb er im Ausstellungskatalog: „Wir haben nicht das Recht, krankes Leben zu vernichten, wohl aber die Pflicht, aus religiöser, ethischer und sozialhygienischer Verantwortung die Entstehung von krankem Leben zu vermeiden.“

Roland Löffler: Wie kam es zu den weitreichenden Netzwerkbildungen zwischen kirchlichen, medizinischen und staatlichen Akteuren?

Julia Bienholz-Radtke: Die Gesundheitsausstellungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren oft Großveranstaltungen, die verschiedensten Akteuren eine Bühne boten. Die eigene Arbeit vor großem Publikum darstellen und bewerben zu können, sprach sicherlich für eine Teilnahme. Das DHMD verfügte als ein zentraler Akteur der sogenannten hygienischen Volksbelehrung über ein großes Netzwerk an Kontakten in die Medizin, Wissenschaft, Regierung und sozialen Verbänden. Es war auch Mitglied im Reichsausschuss für hygienische Volksbelehrung, der seit 1921 bestand und als Arbeitsgemeinschaft der auf dem Gebiet tätigen Akteure fungierte.

Roland Löffler: Was bedeuteten diese allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen für die Innere Mission? Wie gestaltete sich die Diskussion um Eugenik und Euthanasie im „Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ konkret – was sagen die Quellen?

Jochen-Christoph Kaiser: Aus historischer Sicht sind die von uns erstmals veröffentlichten Debattenprotokolle von Relevanz, weil aus ihnen die Komplexität des Problemfeldes „Euthanasie“ in den Einrichtungen für geistig und körperlich behinderte Menschen deutlich wird. Generell gilt, dass die Probleme der freiwilligen wie auch zwangsweisen Sterilisation von den konfessionellen Heil- und Pflegeanstalten meist neutral bis zustimmend diskutiert wurden, während man alle Formen der „Euthanasie“, sei es jene auf Verlangen oder gar die aktive Tötung, grundsätzlich verwarf. Sie verstoße gegen das fünfte Gebot und sei „sowohl vom religiösen wie vom volkserzieherischen Standpunkt“ grundsätzlich abzulehnen.

Roland Löffler: Also etwas vereinfachend gesagt: Die Innere Mission war in der Tendenz mehrheitlich für eugenische Maßnahmen wie die (Zwangs-)Sterilisation, aber gegen die Euthanasie, also die Tötung von Menschen … Gab es keine deutlicheren Gegenstimmen?

Jochen-Christoph Kaiser: Durchaus. Es war vor allem Paul-Gerhard Braune, Theologe und Leiter der zu Bethel gehörenden Einrichtung Lobetal bei Bernau und Vizepräsident des Central-Ausschusses für Innere Mission, der frühzeitig Material über die Krankenmorde sammelte. Das geschah unter Kontaktaufnahme mit diversen staatlichen Dienststellen und mit einigen der Aktion skeptisch bis ablehnend gegenüberstehenden Medizinern (Prof. Karl Bonhoeffer, der Vater des Theologen Dietrich Bonhoeffer). Insgesamt gesehen hatten jedoch weder persönliche Beziehungen noch direkte Eingaben an einflussreiche Instanzen von Partei und Staat Erfolg.

Roland Löffler: Das bedeutet aber auch, dass es aus der Inneren Mission heraus nur wenig Widerstand gegen die Tötungsmaßnahmen der Nationalsozialisten gab.

Jochen-Christoph Kaiser: Der Widerstand bzw. Widerspruch aus der Inneren Mission hielt sich in überschaubaren Grenzen. Die wenigen konfessionellen Akteure, die widersprachen, hatten meist weder „heiße Drähte“ zu den Verantwortlichen in führenden Ämtern und wenn sie diese besaßen, blieben ihre direkten Eingaben an Regierungsstellen meist ohne Erfolg. Einzig das mutige Ausbrechen des katholischen Münsterschen Bischofs Clemen August Graf von Galen aus dem Konsens der nichtöffentlichen Proteste – und die ihm folgende erregte Stimmung der katholischen Bevölkerung in seiner Diözese – zeigte Wirkung. Sein Protest trug zur offizösen Einstellung der Krankenmorde (im August 1941) bei. Die sogenannte „Anstalts-Euthanasie“, in der Patientinnen und Patienten aufgrund unzureichender Lebensmittelrationen und auch der Giftspritze getötet wurden, konnte er auch nicht aufhalten. Es lässt sich aber festhalten: Widerspruch und passiver Widerstand gegen die „Euthanasie“ bildeten einen der wenigen Ansatzpunkte, an denen die behauptete Einheit von „Führer- und Volkswillen“ ins Wanken kam. Hier ging es – anders als bei Juden, Roma und Sinti und anderen Opfern von NS-Zwangsmaßnahmen – um Menschen aus dem eigenen Familienkreis, deren Tötung indirekt auch die eigene Existenz bedrohte. Die Funktionsfähigkeit des Regimes wurde dadurch aber nur in einem Randbereich tangiert.

Roland Löffler: Wie ging es nach 1945 insbesondere in Westdeutschland weiter? Wie wurde die eugenische Vergangenheit in der evangelischen Kirche und im Deutschen Hygiene-Museum nach 1945 aufgearbeitet?

Uwe Kaminsky: Nach 1945 wurde an der Eugenik nur die Ausweitung zur „Euthanasie“ unter dem Nationalsozialismus kritisch diskutiert. Unhinterfragt blieb dagegen die Einstellung, Wertunterscheidungen zwischen Menschen festzuhalten. Eine Entschädigung zwangssterilisierter Menschen, die nicht unter Entschädigungsgesetze im Westen wie auch im Osten fielen, wurde auch von der Inneren Mission noch 1960 explizit abgelehnt. Als es in Westdeutschland zu einer Diskussion über die Reform des Strafgesetzbuches kam, richtete das Diakonische Werk als Nachfolger der „alten Inneren Mission“ 1959 einen „Eugenischen Arbeitskreis“ ein, der bis 1968 tagte und verschiedene Stellungnahmen erarbeitete.

Roland Löffler: War das die bruchlose Fortsetzung der eugenischen Debatten der 1930er-Jahre?

Uwe Kaminsky: Ganz so war es nicht: Es fand ein Wechsel von einer bevölkerungspolitisch ausgerichteten Eugenik zu einer persönlichen, auf das Individuum sich beziehenden Eugenik statt. Es ging nicht mehr um das Wohl des Volkes, sondern darum, wie jeder Einzelne nun mit Behinderung, Abtreibung etc. umgehen solle. Ungebrochen blieb aber das Denken, wie ich schon sagte, zwischen wertvollerem und weniger wertvollem Leben zu unterscheiden.

Roland Löffler: Wie lange hielt das Diakonische Werk denn an diesem Ausschuss fest?

Uwe Kaminsky: Es ist vermutlich kein Zufall, dass dieser Ausschuss Ende der 1960er-Jahre, also in der Zeit der aufkommenden Studenten- und Bürgerbewegungen, der kritischeren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seine Tätigkeit einstellte. Erst mit dem Tod verschiedener alter, in die NS-Eugenik verstrickter Mitglieder, wie dem Humangenetiker Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969), wurde das Thema auch im Rahmen einer Reform des Sozialstaats in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre in den Hintergrund gedrängt. Ganz verschwunden ist es aber nie.

Roland Löffler: Und wie ging es im Deutschen Hygiene-Museum weiter? Gab es hier eine kritische Aufarbeitung der Jahre 1913–1945 und des eugenischen Denkens?

Julia Bienholz-Radtke: Das Deutsche Hygiene-Museum setzte seine Arbeit nach 1945 zügig fort. Die eugenischen und rassistischen Lehrmittel und (Wander-)Ausstellungen wurden schlicht nicht wieder aufgelegt. Stattdessen lag der Fokus nach Kriegsende auf der Gesundheitsaufklärung zu Volks- und Geschlechtskrankheiten.
Die Aufarbeitung der Institutionsgeschichte erfolgte erst ab den 1980er- und 1990er-Jahren. Die Analyse der Gesundheitsausstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat seitdem eine größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dennoch fehlt bis heute eine kohärente, kritische Institutionsgeschichte für das Deutsche Hygiene-Museum in der NS-Zeit. Um diese Lücke zu füllen, streben wir ein neues Forschungsprojekt zum Thema an.

Roland Löffler: Abschließend möchte ich Sie fragen: Lassen sich eugenische Kontinuitäten in gesundheitspolitischen Diskussionen nach 1945 bis heute feststellen? Sind wir frei von eugenischen Debatten? Und wie hat sich die ethische Diskussion seitdem verändert?

Anja Katharina Peters: Weder die BRD noch die DDR setzten die Ausgrenzung behinderter, kranker oder als „anders“ wahrgenommener Menschen im Sinne biopolitischer Staatsdoktrin fort. Allerdings konnten die meisten Täterinnen und Täter in Geburtshilfe, Medizin und Pflege meistens nahtlos ihre Karrieren fortsetzen: Hans Harmsen war ein Mitbegründer von Pro Familia. Werner Villinger, Chefarzt in der großen Diakonieanstalt Bethel bei Bielefeld, Befürworter der Sterilisation und im Nationalsozialismus als Erbgesundheitsrichter aktiv, wurde nach 1945 Professor und sogar Rektor der Universität Marburg. Darüber hinaus war Villinger einer der Mitbegründer der Lebenshilfe. Gleichzeitig war er mit dafür verantwortlich, dass die Opfer der – auch von ihm durchgeführten – Zwangssterilisationen vom Bundesentschädigungsgesetz ausgenommen wurden.
Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ihr Leid anerkannt wurde. Währenddessen trug der nationalsozialistische Ungeist zur Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung bei: Sie waren auch nach 1945 Medikamentenversuchen ausgesetzt, wurden ohne Einwilligung sterilisiert und ausgeschlossen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass man auch heute Ärztinnen und Ärzte findet, die Menschen mit geistiger Behinderung unter sehr freier Auslegung des Grundsatzes der informierten Zustimmung sterilisieren. Und ohne Menschen das Recht auf Entscheidungen über ihren Körper absprechen zu wollen, müssen wir feststellen, dass pränatale Untersuchungen dazu geführt haben, dass Kinder mit vorab feststellbaren Behinderungen oder genetischen Normabweichungen meistens nicht geboren werden.
Auch wir, die wir uns mit diesen Themen befassen, schließen Menschen aus: Zwar sind die Veranstaltungsräume oft barrierefrei zugänglich, aber unsere Sprache ist es nicht, und auch unser Umgang beispielsweise mit neurodivergenten Menschen ist es nicht. Auch wir haben eine Norm internalisiert. 80 Jahre nach dem Ende des menschenverachtenden eugenischen Systems der Nazis haben wir immer noch einen weiten Weg zu gehen, um es nicht nur besser, sondern gut zu machen.