Hand in Hand beantragen Finnland und Schweden eine Aufnahme in die NATO

Getragen von einem radikalen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung rücken beide Länder nach dem Überfall auf die Ukraine von ihrer traditionellen Bündnispolitik ab.

Alles ging schneller als gedacht - und am Ende sogar schneller als zunächst geplant. Nicht einmal drei Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben Finnland und Schweden die Aufnahme in die NATO beantragt. Am Vormittag des 18. Mai übergaben die Botschafter beider Länder im Brüsseler Hauptquartier des Bündnisses die Beitrittsgesuche an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Der Angriff Wladimir Putins auf die europäische Friedensordnung und seine hemmungslose Kriegsführung gegen das benachbarte “Brudervolk” haben auch die beiden nordischen Mitgliedstaaten der EU, die bisher nicht der Nordatlantischen Allianz angehören, zu einer grundlegenden Neuausrichtung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik veranlasst. Lange gehegte Überzeugungen, dass die Bündnisfreiheit am besten den nationalen Interessen diene, gehören nun der Vergangenheit an.

Abschied als “moralische Großmacht”

Die Frage eines NATO-Beitritts war in beiden Ländern lange Zeit nicht nur nicht aktuell; sie widersprach ihrer politischen und historischen Identität.

Schweden ist immer stolz gewesen auf seine zwei Jahrhunderte lang durchgehaltene Politik der Neutralität. Im Kalten Krieg überhöhte der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme die Position seines Landes zwischen den Blöcken und erklärte es zu einer “moralischen Großmacht”. Auch deshalb fiel den schwedischen Sozialdemokraten der Abschied von der Bündnisfreiheit jetzt besonders schwer. 

Finnland ist durch seine Geografie und Geschichte geradezu schicksalhaft mit dem mächtigen Nachbarn im Osten verbunden. Die Erinnerung an zwei verheerende Kriege zwischen 1939 und 1944 prägt das nationale Bewußtsein bis auf den heutigen Tag. Der potentiellen Bedrohung stets gewärtig, hatte sich schließlich die politische Einsicht durchgesetzt, dass die Sicherheit des Landes nur durch einen Interessenausgleich mit Moskau zu gewährleisten sei. Diese Zuversicht ist durch die Gewaltbereitschaft und unberechenbare Zerstörungswut Putins nachhaltig erschüttert worden. 

Gemeinsam und gleichzeitig

Dass Finnland und Schweden in die Nato streben, hat in den vergangenen Tagen öfter für Schlagzeilen (und möglicherweise eine gewisse Verwirrung) gesorgt. Ein formeller Beschluss beider Regierungen wurde in Helsinki aber erst am 15. Mai und in Stockholm erst am 16. Mai gefasst. Diese zeitgleich getroffenen Entscheidungen sind das Ergebnis einer ausgetüftelten Choreographie.

Einerseits ging es darum, bei einem derart abrupten, folgenreichen Bruch mit außen- und sicherheitspolitischen Traditionen einen breiten innenpolitischen Konsens zu erreichen. Andererseits waren beide Länder in ständiger, gegenseitiger Abstimmung um ein gemeinsames und gleichzeitiges Vorgehen bemüht. Finnland war Schweden zwar immer einen Schritt voraus und brachte es damit wiederholt in Zugzwang. Aber intensive Kontakte auf diplomatischer und parteipolitischer Ebene führten dann doch gemeinsam ans Ziel.

”Wir leben in einem neuen Zeitalter.”

Der finnische Staatspräsident Sauli Niinistö sprach von einem historischen Tag als er das Beitrittsgesuch ankündigte: ”Wir leben in einem neuen Zeitalter.” In einer gemeinsamen Sitzung des Staatsoberhauptes mit den für die Sicherheit des Landes zuständigen Mitgliedern des Kabinetts war zuvor der Antrag zur Aufnahme in das westliche Bündnis beschlossen worden. “Wir sehen heute ein ganz anderes Russland als noch vor einigen Monaten”, erläuterte Ministerpräsidentin Sanna Marin.

Nur wenige Stunden später konnte auch die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson einen “historischen Beschluss” verkünden: Die von ihr geführte sozialdemokratische Partei hatte nach einer mehrstündigen Vorstandssitzung hinter verschlossenen Türen einer Nato-Mitgliedschaft zugestimmt. Das Prinzip der Bündnisfreiheit habe dem Land lange Zeite einen guten Dienst erwiesen, sagte Andersson, aber nach dem 24. Februar sei es nicht mehr vereinbar mit der Realität. Die Sozialdemokraten seien daher zu dem Schluss gekommen, “dass es das Beste für Schweden und die Sicherheit des schwedischen Volkes ist, wenn wir uns der Nato anschließen.”

Die meisten Fachleute und Politiker sind stets der Meinung gewesen, dass es aus politischen wie militärischen Gründen die beste Lösung sei, wenn sich die beiden Nachbarn gemeinsam der Allianz anschlössen. Hätte nur Finnland diesen Schritt gewagt, Schweden aber nicht, wären beide auf unterschiedliche Weise exponiert und möglichem Druck ausgesetzt gewesen. Die Regierung in Helsinki reagierte jedoch früher und entschlossener auf die neue Weltlage. Letztlich zog sie die anfangs noch zaudernde Regierung in Stockholm mit.

Dramatischer Umschwung in der öffentlichen Meinung

Dass alles so schnell ging, hat auch mit einem dramatischen Umschwung in der öffentlichen Meinung zu tun. Noch im Januar hatte eine Umfrage in Finnland ergeben, dass eine NATO-Mitgliedschaft nur von 28 Prozent der Bevölkerung gutgeheißen und von 42 Prozent abgelehnt werde. Im März war die Zahl der Befürworter auf 62 Prozent gestiegen. Im Mai lag sie bei 76 Prozent. Ähnlich, aber weniger eindeutig ist das Meinungsbild in Schweden. Während es zu Beginn des Jahres noch klare Mehrheiten gegen einen Beitritt gab, lag die Zustimmung zuletzt bei knapp fünfzig Prozent. Der Anteil der Gegner nahm stark ab, aber viele zweifelten weiterhin und konnten sich nicht entscheiden.

In Finnland trieb die 36 Jahre alte sozialdemokratische Ministerpräsidentin Marin eine Entscheidung für die NATO umsichtig und entschlossen voran. Um einen möglichst breiten Konsens zu erreichen, erhielt das Parlament viel Zeit zu Beratungen. Zehn Ausschüsse befassten sich mit der Sache und konnten hinter verschlossenen Türen Experten befragen. Ein zuvor von der Regierung vorgelegter Bericht zur sicherheitspolitischen Lage vermied zwar jede ausdrückliche Empfehlung, hob aber hervor, dass der abschreckende Effekt der finnischen Landesverteidigung durch militärische Fähigkeiten der NATO wesentlich verstärkt würde. Darüber hinaus erhöhe eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens die Sicherheit im gesamten Ostseeraum.

Marins Regierung besteht aus fünf Parteien, die ein breites politisches Spektrum zwischen linken, grünen und bürgerlich-liberalen Positionen abdecken und allesamt weibliche Vorsitzende haben. Bei den Sozialdemokraten gab es durchaus NATO-Skeptiker, aber in einer Sitzung des Parteivorstandes stimmten 53 von 60 Mitgliedern für einen Beitritt. Noch eindeutiger fiel das Votum des Parlaments nach zweitägiger Plenardebatte aus. Von 200 Abgeordneten unterstützten 188 den Antrag auf Nato-Mitgliedschaft. In der mitregierenden Linkspartei stimmte nur eine Minderheit mit Nein. Die Konservativen, die derzeit in der Opposition sind, waren seit langem für einen NATO-Beitritt, räumten aber ein, dass eine von ihnen geführte Regierung einen so breiten Konsens kaum erreicht hätte.

Schwierige Zeitenwende in Schweden

In Schweden dagegen drohte parteipolitischer Streit - auch weil im September ein neues Parlament gewählt wird. Im März verkündete Oppositionsführer Ulf Kristersson, der Vorsitzende der Konservativen, eine von ihm geführte Regierung werde nach der Wahl unverzüglich die Aufnahme in die NATO beantragen, falls es dafür im Reichstag eine Mehrheit gebe. Die meisten Parteien rechts der Mitte waren inzwischen für eine Mitgliedschaft. Ministerpräsidentin Andersson ist Chefin einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung. Im November hatte ein Parteitag noch einmal die Linie bekräftigt, dass die Bündnisfreiheit gut sei für das Land. Dieser Grundsatz habe es zweihundert Jahre aus allen Kriegen herausgehalten und trage zur sicherheitspolitischen Stabilität in Nordeuropa bei. Kategorisch stelle Andersson damals fest: “Schweden wird nicht um Mitgliedschaft in der NATO ansuchen.”

Die Sozialdemokraten auf einen neuen Kurs zu bringen, war nicht leicht. Zuerst versuchte die Ministerpräsidentin und Parteivorsitzende zu lavieren. Sie schloss einen NATO-Beitritt zwar nicht mehr aus, versuchte aber, einen Beschluss mit dem Argument auf die lange Bank zu schieben, in der angespannten Lage könne ein Antrag auf Mitgliedschaft zusätzlich destabilisierend wirken. Doch das hätte die NATO im Herbst zu einem Wahlkampfthema gemacht. Also ging Andersson schließlich in die Offensive.

Der Partei wurde ein sicherheitspolitischer Dialog mit den Mitgliedern verordnet, danach sollte der Parteivorstand entscheiden. Prominente Sozialdemokraten, die für die Abschaffung von Atomwaffen sind und vor allem deshalb gegen die NATO waren, schwenkten nach und nach auf die neue Linie ein. Die geplante Sitzung des Parteivorstand wurde vorgezogen, um beim Tempo der Finnen noch mithalten zu können. Und nachdem die Sozialdemokraten Ja gesagt hatten - ein Abstimmungsergebnis im Parteivorstand ist nicht bekannt - konnte auch das Parlament mit der Frage befasst werden. Sechs von acht Parteien sprachen sich nach der Debatte für einen Beitritt zum westlichen Bündnis aus, nur die Linkspartei und die Grünen stimmten dagegen.

Finnische Emanzipation

In Finnland war es auch leichter, die politische Wende einzuleiten, weil es in der Außen- und Sicherheitspolitik schon länger ganz offiziell eine “NATO-Option” gibt. Als Präsident Niinistö sich in seiner Neujahrsansprache auf diese Option berief, wurde das im Ausland oft als Befürwortung eines Beitritts verstanden. Dabei wollte er damals nur hervorheben, dass alle Staaten die gleiche Souveränität hätten, dass sie selbst über ihre Zugehörigkeit zu einem Bündnis entschieden und dass Interessensphären nicht mehr zeitgemäß seien. Dies war einerseits eine Unterstützung für die schon von russischen Truppen umzingelte Ukraine, andererseits aber auch eine Klarstellung in eigener Sache. Denn die Forderung Moskaus, die NATO müsse vertraglich auf jede künftige Erweiterung verzichten, galt nach Darstellung des russischen Außenministeriums auch für Finnland und Schweden.

Der Präsident ist für die Außenpolitik zuständig, obwohl die traditionell starke Stellung des Staatsoberhauptes zugunsten einer Stärkung der parlamentarischen Demokratie abgeschwächt wurde. Niinistö äußerte sich vor der offiziellen Stellungnahme aber nur orakelhaft zu einer NATO-Mitgliedschaft, um der parlamentarischen Debatte nicht vorzugreifen. Als die Entscheidung gefallen war, informierte er Putin in einem Telefongespräch, das sachlich verlaufen sein soll. Von Journalisten auf mögliche Gegenmaßnahmen angesprochen, sagte Niinistö ganz undiplomatisch, seine Antwort an Russland laute: “Ihr habt dies verursacht. Schaut in den Spiegel!”

Finnland und Schweden haben, worauf gerade jetzt gern hingewiesen wird, eine lange gemeinsame Geschichte. Seit dem Mittelalter waren sie gleichberechtigte Teile des schwedischen Königreiches. Nach einer langen Reihe schwedisch-russischer Kriege kam der östliche Teil 1809 als autonomes Großfürstentum unter die Herrschaft der Zaren. Die in den Wirren der russischen Revolution gewonnene Unabhängigkeit Finnlands stand 1939 wieder auf dem Spiel, als Stalin den Befehl zum Angriff gab und ein kommunistisches Marionettenregime einzusetzen versuchte. Im “Winterkrieg”, der manche Ähnlichkeit mit Putins Überfall auf die Ukraine hat, leisteten die finnischen Streitkräfte vier Monate lang tapfer Widerstand. Dann musste ein mit harten Gebietsabtretungen verbundener Frieden akzeptiert werden. Auf Revanche aus, trat Finnland ein Jahr später an der Seite Deutschlands in Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion ein. Gerade noch rechtzeitig konnte 1944 ein Separatfrieden geschlossen werden, um eine Besetzung des Landes abzuwenden.

Ein von Moskau aufgezwungenen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand schränkte jedoch die Souveränität Finnlands ein. In dieser schwierigen Lage entwarfen weitsichtige politische Führer eine Überlebensstrategie, die im Ausland manchmal abwertend als “Finnlandisierung” bezeichnet wurde. Die Strategie ging von der Annahme aus, dass sicherheitspolitische Interessen Moskaus akzeptiert werden müssten, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Unter dieser Voraussetzung könne dann in der Innenpolitik und in den Beziehungen zum Westen mehr Spielraum entstehen.

Tatsächlich gelang es Finnland, sich Schritt für Schritt aus den politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Nachkriegszeit zu befreien. Es wurde in jeder Hinsicht ein zum Westen gehörendes Land.  Als Gastgeber der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki präsentierte man sich 1973-75 neben Österreich, Schweden und der Schweiz als neutral und nicht paktgebunden. Seit 1995 sind die beiden nordischen Länder Mitglieder der Europäischen Union.

In der Allianz willkommen

Der NATO-Generalsekretär und viele Mitgliedstaaten haben den Bewerbern ein beschleunigtes Beitrittsverfahren in Aussicht gestellt. Beide Länder haben sich in den letzten Jahren der Allianz durch die Teilnahme an Auslandseinsätzen und Manövern stark angenähert und zugleich ihre bilaterale militärische Zusammenarbeit verstärkt. Beide würden durch ihre militärischen Fähigkeiten und die Verfügbarkeit ihres Territoriums zur Stärkung der Allianz beitragen.

Finnland hat eine hoch motivierte Wehrpflichtarmee, die 280.000 Reservisten mobilisieren kann. Erst kürzlich wurde beschlossen, für die Luftwaffe 64 moderne amerikanische Kampfflugzeuge des Typs F-35 anzuschaffen. Schwedens Stärken sind die Seestreitkräfte und eine international konkurrenzfähige Rüstungsindustrie.

Ihrer Aufnahme in die Atlantischen Allianz müssen am Ende alle Mitgliedstaaten zustimmen. Auch die an sich routinemäßigen Beitrittsverhandlungen können nur eingeleitet werden, wenn im Nato-Rat, dem ständigen Entscheidungsorgan der 30 Bündnispartner, niemand seit Veto einlegt. Da spielt die Türkei erst einmal nicht mit, denn Präsident Recep Tayyip Erdogan spekuliert auf Gegenleistungen. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Horst Bacia war Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und deren Korrespondent in Stockholm, Moskau, Ankara und Brüssel. Seither lebt er in Helsinki. Am 22. April 2022 erschien in diesem Blog sein Beitrag "Finnland will schnell über einen Beitritt zur NATO entscheiden - und zieht wohl Schweden mit".