„Der Euro ist vom europäischen Friedensprojekt zum Zankapfel geworden“

Der Euro macht Probleme, da sind sich die SPD-Politikerin Gesine Schwan und der Jurist Christoph Degenhart bei einer Diskussion Anfang Oktober 2022 im Dresdner Stadtmuseum einig. Doch ihre Krisen-Analysen fallen unterschiedlich aus.

 

Das Motto der Veranstaltung schlug zunächst einen pessimistischen Ton an: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa?“.  Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Währungsunion in der EU wurden schon immer kontrovers diskutiert, in den vergangenen Jahren mehr denn je. Die bis heute geltenden „Maastricht-Kriterien“ in Bezug auf Haushaltsdefizit, Bruttoinlandsprodukt und Schuldenquote sollten Stabilität garantieren. Doch spätestens mit der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise ab dem Jahr 2010 zeigten sich die Schwächen des Systems.

Auch im Dresdner Stadtmuseum ging es rege hin und her. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe zum 30-jährigen Jubiläum des Maastrichter Vertrags, in Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der Konrad-Adenauer-Stiftung Sachsen, dem Zentrum für Internationale Studien und dem Institut für Internationales Recht der TU Dresden. Die beiden geladenen Referenten präsentierten in Dresden verschiedene Standpunkte zur Euro-Union, zu ihren Stärken und Schwächen: Gesine Schwan, SPD-Politikerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform, und Christoph Degenhart, früherer Richter des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen.

Die Unterschiede zwischen arm und reich wachsen

Beide eint eine gewisse Skepsis, ob die Lage so schlimm ist wie im Veranstaltungstitel angedeutet. „Ich weiß nicht, ob die EU wegen eines möglichen Scheiterns des Euros am Scheideweg steht“, sagt Gesine Schwan. Im Moment erlebe sie „eine große Gemeinsamkeit in der EU, durch den gemeinsamen Fonds zur Bewältigung der Pandemieschäden, durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine“. Sie bestreitet jedoch nicht, dass durch die Währungsunion Probleme entstanden sind. Schwan skizziert Erwartungen, die es ursprünglich an die gemeinsame Währung gegeben habe: „Der Gedanke war, dass diese Währung, neben den ökonomischen Vorteilen, zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zwingt und damit auch allgemeiner zu einer gemeinsamen Politik.“ Aus einer ökonomischen sollte auch eine politische Einheit entstehen. Doch es habe sich gezeigt, „dass rechtliche Regelungen auf dem Papier“ dies nicht erzwingen könnten.

Die Politikerin kritisiert die Sparpolitik in EU-Ländern, bei der auch Deutschland ein Vorreiter gewesen sei. „Ein Grundaxiom war: Ein ausgeglichenes Budget ist das Entscheidende, um Vertrauen in der Wirtschaft herzustellen.“ Die Folge seien auch Kürzungen bei staatlicher Infrastruktur und Sozialausgaben gewesen. Es sei ein Standortwettbewerb zwischen europäischen Staaten entstanden. „Die Unterschiede zwischen arm und reich wurde immer größer.“ Konkurrenz zwischen den Staaten, etwa durch unterschiedliche Lohnkosten, habe die Solidarität untergraben. „Das hat die Atmosphäre vergiftet.“ Nun, in Zeiten vielfältiger Krisen aber sei Solidarität wichtiger denn je, sagt Schwan. „In den Krisen zeigen sich, dass die Staaten es allein nicht schaffen.“

Solidarität ist keine Einbahnstraße

Der Jurist Christoph Degenhart schließt diplomatisch an seine Vorrednerin an. „Ich habe lange gewartet, Frau Schwan, den Dissens zwischen uns zu erkennen und habe ihn dann in den letzten fünf Minuten entdeckt.“ Auch er sehe die EU als viel mehr als einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, „es ist eine Gemeinschaft der Werte, der Zivilisation, der Demokratie.“ Doch die „Solidarität“ – bei Gesine Schwan ein zentraler Wert – sehe er kritischer. Er erinnert an Plakate im Europa-Wahlkampf, kurz vor der Einführung des Euros, darauf habe gestanden: „Bedeutet der Euro, dass Deutschland für die Schulden anderer Staaten mithaften muss?“ Das Versprechen sei „ein klares Nein“ gewesen, so Degenhart, doch in der Praxis seien Regeln der EU aufgeweicht worden. Auch er sieht als „einen Geburtsfehler“ der EU-Währungsunion, dass man gehofft hätte, „über die gemeinsame Währung den Zwang zur politischen Einigung aufzubauen“. Doch das habe nicht funktioniert, „da wurden die Völker der EU nicht mitgenommen“.

Degenhart übt scharfe Kritik am Handeln der Europäischen Zentralbank, etwa an deren Anleihenkaufprogramm. Er gehörte zu einer Gruppe, die Verfassungsbeschwerde dagegen eingelegt hatte, dem war schließlich beim Bundesverfassungsgericht stattgegeben worden. Die Reaktionen auf die Beschwerde fand der Jurist teilweise „hysterisch“. „Ich finde es schwierig, wenn ich höre, die Euro-Kritiker gehen ans Bundesverfassungsgericht. In diesen europäischen Fragen herrscht teilweise ein Freund-Feind-Denken“, sagt er. „Ich will, dass sich die Organe an das Recht halten.“ Ursachen für Probleme, die auch Gesine Schwan angesprochen hatte, sieht Christoph Degenhart zum Teil an anderen Stellen. Die wachsende Kluft zwischen arm und reich stellt auch er fest, verursacht habe das vor allem „die ultralockere Geldpolitik der EZB“, dadurch seien „Vermögenspreise in die Höhe gegangen“, etwa Immobilienbesitzer übervorteilt worden.

„Der Euro ist vom europäischen Friedensprojekt zum Zankapfel geworden“, sagt Degenhart. „Dazu hat die Missachtung rechtlicher Grundsätze im Zuge der Währungsunion maßgeblich beigetragen.“ Nicht alle EU-Staaten hätten sich an die Regeln gehalten, nicht alle seien stabil genug aufgestellt gewesen für den EU-Beitritt. „Es fing bereits damit an, dass Staaten aufgenommen wurden, die hätten nicht aufgenommen werden dürfen“, sagt Degenhart. „Die Griechenlandkrise resultierte zum Beispiel daraus, dass Griechenland falsche Bilanzen vorgelegt hat bei der Aufnahme in den Euro.“

An Gesine Schwan gerichtet greift Christoph Degenhart noch einmal die „Solidarität“ auf. „Solidarität bedeutet, ich halte mich an die Regeln und, wenn ich Hilfe brauche, wird mir geholfen“, sagt er. „Es entspricht nicht dem Geist des Maastricht-Vertrags, wenn sich ein Staat nicht an die Schuldenbegrenzung hält. Solidarität ist keine Einbahnstraße.“

Tradition der Vorurteile

Abschließend melden sich einige Stimmen aus dem Publikum. Ein Mann beklagt die finanzielle Krise, die immer schlimmer werde. „Der deutsche Sparer wird betrogen und bestohlen.“ Gesine Schwan sagt, man müsse aufpassen, die EU-Länder nicht gegeneinander auszuspielen, die Krisen träfen alle. Es gäbe innerhalb der EU „eine Tradition der Vorurteile“, sagt sie, „der Norden etwa war immer skeptisch gegenüber dem Süden, eine moralische Beurteilung der Länder aber sollte man lassen“. Auch Christoph Degenhart verweist darauf, dass man Probleme in anderen Ländern ebenfalls betrachten müsse, Deutschland sei nicht allein betroffen und habe Probleme auch selbst verschuldet, etwa durch seine ausgedehnte Exportstrategie. „Man sollte die europäische Perspektive, nicht nur die nationale einnehmen“, sagt er.

Eine Frau aus dem Publikum beschwert sich: „Es geht immer wieder um Länder, die wir stützen müssen, die es einfach nicht lernen wollen, weil es bequem ist. Solidarität in allen Ehren, aber irgendwann muss es mal aufhören.“ Schwan reagiert scharf: „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man moralisch besser ist als die anderen, oder?“ Sie fordert, Problemlagen komplex zu betrachten.  „Wenn ich solidarisch bin, stehe ich eine für Nachteile und Probleme von anderen, in die sie möglicherweise nicht aus eigener Verantwortung geraten sind“, sagt sie. „Das kann man in der Wirtschaft nur klären, wenn man die Entstehung von Schulden in all ihrer Komplexität analysiert. Da wird man in Griechenland Verantwortungslosigkeit finden und auch in Deutschland.“

Vor allem an diesem Punkt sind die Differenzen zwischen Gesine Schwan und Christoph Degenhart markiert. Einig sind sich beide in der großen Betrachtung, die Degenhart zum Schluss noch einmal formuliert: „Ich glaube nicht, dass der Euro mittelfristig scheitern wird“, sagt er. „Und ich bin sehr zuversichtlich, dass Europa nicht scheitern wird.“

Nächster Termin in der Reihe „Welche Zukunft hat Europa?“: Am Dienstag, den 1. November 2022 debattieren François Delattre, Botschafter Frankreichs in Deutschland, und Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Dt. Bundestages, zum Thema "Tandem passé? Die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Prüfstand".

Mitschnitt der Veranstaltung in voller Länge: