Der Integrationsverein "Das Zusammenleben" e.V. aus Freital hat seine Beratungsarbeit für Spätaussiedler begonnen und bietet inzwischen allen Beratungssuchenden mit Migrationshintergrund Hilfe an.

Frau Jurk, Sie sind die Vorsitzende des Vereins Das Zusammenleben e.V. und Sie sind die Ko-Vorsitzende des Dachverbandes sächsischer Migrantenorganisationen e.V. Wie war Ihr Weg zum Ehrenamt?

2001 bin ich mit meiner Familie aus Kasachstan nach Deutschland eingereist. 2004 habe ich mit anderen Mitstreiterinnen und Mitstreitern das erste Fest für Kinder organisiert. Danach hatten wir die Idee, einen Verein zu gründen. Wir Russlanddeutsche wollten unseren Kindern unsere Muttersprache bewahren, auch die Kultur weiterführen. Viele wollten etwas gründen oder anders selbständig sein, aber wir hatten keine Erfahrung. Deswegen haben wir den Verein Das Zusammenleben e.V. gegründet. Mit ähnlichen Vereinen aus Bautzen, Chemnitz, Heidenau und Plauen haben wir dann das Integrationsnetzwerk Sachsen gegründet. Das waren 26 russisch sprechende Organisationen und 2017 haben wir dieses Integrationsnetzwerk Sachsen dann umgewandelt in den Dachverband, in dem sich inzwischen fünfzig Migrantenorganisationen aus 16 Nationen wiederfinden. Sogar im Vorstand haben wir sechs Nationalitäten – ganz bunt.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass die Vereine in Sachsen in ihrer Mitgliederstruktur sehr homogen sind, dass sich in den Vereinen wenige Migrantinnen und Migranten engagieren. Woran liegt das?

Wenn Sie einheimische Vereine meinen, dann stimmt das. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich habe zum Beispiel ein Praktikum in einem einheimischen Integrationshilfeverein gemacht und wollte Angebote integrieren, die für unsere Klientel passen, zum Beispiel statt Skatspiele für unsere Männer oder Opas andere Kartenspiele. Das wurde mir nicht erlaubt. Dann wollte ich anderen Menschen helfen, ihre Briefe zu übersetzen, da ich schon ein bisschen Deutsch sprechen konnte. Das durfte ich auch nicht. Angebote, die für unsere Russlanddeutschen gepasst hätten, durfte ich im einheimischen Verein nicht anbringen. Daraus entstand dann die Idee, einen eigenen Verein zu gründen. Ein zweiter Grund ist, dass zum Beispiel oft Jugendclubs von Migrantinnen und Migranten gegründet werden. Die Jugendlichen wollten nicht Gast sein irgendwo. Sie wollen auch Gastgeber sein und ihre eigene Sphäre haben, eigene Räume nach eigener Kultur einrichten.

Was sind das für Menschen, die sich bei Ihnen in Freital engagieren, woher kommen sie und welchen Hintergrund haben sie?

Den Verein habe ich 2004, Anfang 2005 gemeinsam mit anderen Russischsprechenden gegründet. Wir waren in einem Sprachkurs, als dort die Idee zu einem Verein entstand. Eigentlich war es ein Verein für die Integration russischsprechender Mitbürger, weil wir nur Russischsprechende integrieren konnten. Deutsch war kaum, Englisch haben wir auch nicht gesprochen. Nach einigen Jahren haben wir den Namen geändert, und sind zum Verein für die Integration aller Migranten geworden. Ich habe selbst zwei Studien absolviert, auch damit ich Leute unterstützen kann: Ein weiterbildendes Studium an der TU Dresden und dann mit 50 habe ich noch Sozialpädagogik studiert und abgeschlossen.

War der von Ihnen gegründete Verein eine Art Brückenverein, eine Hilfe für alle Menschen anderer Herkunft?

Als es unseren Verein bereits seit ein paar Jahren gab, kam die Anfrage vom Freistaat, Kontakt zu Vietnamesen herzustellen. Die vietnamesische Community bestand bereits seit 20 Jahren, aber die Behörden hatten kaum Kontakt mit deren Mitgliedern und umgekehrt - die Vietnamesen hatten keinen Kontakt mit dem Staat. Das waren nette Leute in Blumen- oder Obstgeschäften. Sie haben gelächelt und gegrüßt aber niemand wusste von den Problemen der Vietnamesen. Ich habe eine Vietnamesin kennengelernt, eine sehr engagierte Frau. Sie war Dolmetscherin und wir haben uns unterhalten und dann entdeckt, welche Probleme bei ihren Landsleuten bestehen. Zum Beispiel hatten Vietnamesen keinen Anspruch auf einen Sprachkurs. Das bedeutete, sie waren 24 Jahre lang da, mussten aber sofort arbeiten. Ohne Sprachkurs. Sie haben Geschäfte eröffnet und geleitet, auch ganz fleißig aber sie sind auf diesem niedrigschwelligen sprachlichen Niveau geblieben. Weil die Kinder von Vietnamesen wiederum oft sehr gute Gymnasiasten waren mit guten Deutschkenntnissen, entstanden in den Familien viele Probleme, Unklarheiten oder Unverständnis. Mit Unterstützung und aufgrund meiner Initiative wurden in Freital vier Kurse gestartet mit drei Partnern, der Volkshochschule und einem Verein. Eine große Schwierigkeit war es, einen Lehrer zu finden, weil der Kurs unbedingt am Sonntag stattfinden musste. Bei den Vietnamesen kamen am ersten Tag etwa fünfzig Leute. Dort waren fünfzig Leute und allen wollten am Sprachkurs teilnehmen - am Wochenende, nach sechs Tagen Arbeit. Das war ein Wunder und eine Erfahrung. Danach habe ich zwei vietnamesische Vereine gegründet in Freital.

Wie genau haben Sie das angestellt?

Ich habe mich professionalisiert. Ich habe Dutzende Multiplikatorenschulungen in Freital besucht und organisiert, zu der Vereinsvorsitzende aus anderen Vereinen gekommen sind. Wir haben Schulungen gehabt und danach habe ich andere Communities darin geschult, wie zum Beispiel eine Satzung aussehen soll, wie Protokolle aussehen, was ein Gründungsprotokoll ausmacht. Ich habe bis jetzt zwölf Vereine gegründet, georgische, vietnamesische und russischsprechende Vereine.

Wenn sie den Zusammenleben e. V. erklären müssten, was würden Sie sagen?

Dieses Jahr feiern wir unser 15-jähriges Jubiläum. Zu Beginn hatten mehr Aktivitäten für Kinder im Programm: Tanz für Kinder, Sprache für Kinder, Klavier, Sport. Später richteten sich unsere Aktivitäten an Jugendliche. Jetzt liegt unser Schwerpunkt bei Seniorinnen und Senioren. Wir betreuen mehr als einhundert ältere Menschen mit Hauswirtschaft, in der Alltagsbegleitung, über eine Agentur bieten wir niedrigschwellige Betreuung und Entlassungsangebote nach Paragraph 45 an. Außerdem bieten wir internationale Küche an. Wir haben eine Änderungsschneiderei, die sehr gut gefragt ist, auch von älteren Menschen hier im Ort. Beides haben wir als Gewerbe angemeldet. Wir wollen nicht immer betteln und von Fördergeld abhängig sein. Wir haben Ferienangebote und nach Corona wollen wir uns mit den Kindern ein bisschen bewegen und den Coronaspeck abbauen. Leider mussten wir 2020 unser größtes interkulturelles Fest „Hallo Nachbar“ wegen der Pandemie absagen, weil wir dort mit zwei- bis dreitausend Besuchern rechnen. Aber wir holen das nach.

Das klingt alles sehr harmonisch, aber gibt es auch Konflikte untereinander?

Konflikte untereinander gibt es nicht. Aber die Gründung des Dachverbands war ein langjähriger und schwieriger Prozess. Zur Gründung des Integrationsnetzwerkes Sachsen e.V. habe ich damals alle Vereine eingeladen, weil ich wollte, dass alle unter einem Dach sind. Gekommen sind nur russischsprechende. Aber das Integrationsnetzwerk Sachsen hat bereits sechs Jahre lang funktioniert und wir wollten den nächsten Schritt mit dem Dachverband gehen. Ich dachte, die kommen schon, die sehen unsere Entwicklung, sie sehen unsere Erfolge. Das war nicht so. Stattdessen dauerte der Prozess viele Jahre und es brauchte viel Überzeugungsarbeit und Kompromisse. Inzwischen ist sogar die muslimische Community dabei. Deren Vereine wollten auf keinen Fall Mitglied werden, weil bis dato mit mir eine Frau an der Spitze stand. Wir haben dann eine Lösung gefunden: Im Vorsitz sind jetzt ein Mann und eine Frau, ein Mosambikaner und ich, eine russischsprechende Frau.

Warum war Ihnen der Dachverband so wichtig?

Von Anfang an wollte ich, dass die Migrantinnen und Migranten zusammen stehen, egal welcher Herkunft sie sind, egal welchen Status sie haben. Manchmal höre ich von der Landsmannschaft, dass Russlanddeutsche keine Migranten sind. Das seien Deutsche. Ich bin selbst Spätaussiedlerin oder Russlanddeutsche. Ich bin Deutsche aber ich bin auch Migrantin. Mich betreffen viele der Probleme, die auch Vietnamesen oder aktuell die neuen Zuwanderer haben. Wir mussten im Wohnheim wohnen, wir mussten Kontakte aufbauen, wir wurden entwurzelt, wir müssen hier neue Wurzeln schlagen. Unsere Probleme waren ähnlich, unabhängig vom Status. Wir tragen jetzt die Meinungen, Probleme und Wünsche von Migrantinnen und Migranten weiter an die Verwaltung und Politik und deshalb nennen wir uns als Dachverband auch Sprachrohr und Brückenbauer.

Was tun Sie konkret?

Wir haben einen ersten Forderungskatalog entwickelt und im vergangenen Jahr übergeben. Das ist der erste Forderungskatalog eines migrantischen Dachverbandes bundesweit. In diesem Jahr, 2020, wollten wir ursprünglich im Januar damit beginnen, Forderungskataloge für die Kommunen zu entwerfen, haben das aber leider wegen Corona nicht geschafft. Der Integrationsprozess funktioniert von unten. Das bedeutet, wir gehen in Regionen, wir organisieren ein Treffen mit Migrantinnen und Migranten mit Vertreterinnen und Vertretern der Kommune und sprechen dort über Probleme und Bedürfnisse vor Ort. Davon ausgehend erstellen wir kommunale Kataloge. Damit gehen wir wieder zur Verwaltung. Sobald Corona vorbei ist, machen wir damit weiter.

In Ihrem Verein engagieren sich auch Deutsche ehrenamtlich. Wie schaffen Sie das, hier alle Menschen zu integrieren und zusammenzubringen?

Wir haben gezeigt, was wir können, welches Potenzial es gibt, welche tolle Ideen wir haben. Einheimische haben uns oft unterstützt, wenn sie das mitbekommen haben. Zum Beispiel haben wir voriges Jahr ein wundervolles Kochbuch geschrieben, für das 15 Frauen und Männer ein ganzes Jahr lang gemeinsam gekocht und Rezepte zusammengestellt haben. Das Kochbuch haben wir in der Freitaler Bibliothek präsentiert vor vielen Ehrenamtlichen und Bürgerinnen und Bürgern. Einer unserer Kooperationspartner, ein Küchenchef, hatte so viel Spaß an dem Projekt, dass er danach Mitglied geworden ist. Wir haben einheimische Kollegen im Büro. Wir haben einheimische Mitglieder. Wir haben einige Mitglieder mit moldawischem, mit mosambikanischem, mit ungarischem Hintergrund, wir haben deutsche Kollegen. Wir haben eine Fußball- und eine Volleyballmannschaft und richten auch Turniere in der Stadt Freital aus.

Wie viele Mitglieder haben Sie?

Es gibt zur Zeit sechzig Mitglieder, mit zwölf haben wir angefangen.

Nur wenige Menschen, stellt unsere Studie fest, engagieren sich, wie Sie, für Solidarität und internationale Themen. Was denken Sie, woran könnte das liegen?

Dem will ich widersprechen. Eher umgekehrt - ich kenne sehr viele Leute, die sich in diesem Bereich engagieren wollen oder sich bereits dafür engagieren.

An welchem Punkt denken Sie, muss eine Zivilgesellschaft auch mal nicht nur verbinden, vereinen und freudig sein und versuchen zu integrieren, sondern auch mal Grenzen ziehen

Ich betone immer, dass ein Verein nicht alle Menschen einer Gruppe repräsentiert. Zum Beispiel bei dem Fall Lisa. Russlanddeutsche hatten über Medien wie WhatsApp und das Internet den Aufruf erhalten, auf die Straßen zu gehen und zu demonstrieren. Wir haben darauf sehr schnell reagiert und ebenfalls über verschiedene Medien Informationen gegeben, angerufen und mit Jugendlichen gesprochen und ihnen gesagt, sie sollten erst einmal prüfen und abwarten. Man darf nicht jedem Fake glauben und sich instrumentalisieren lassen. Hier habe ich eine Grenze gezogen. Auch im Verein habe ich gesagt, wenn ich jemanden auf der Straße sehe bei dieser Demonstration, dann wird es Konsequenzen geben. Wir sind hier als Verein für Verständigung, für Solidarität. Auch als 2015 viele Flüchtlinge hergekommen sind, waren nicht alle einverstanden. Ich habe im Verein erst einmal versucht, aufzuklären, zu informieren. Auch wir wurden vor einigen Jahren aufgenommen. Ich betone immer, ich bin eine richtige Freitalerin geworden und Deutschland ist meine zweite Heimat. Wenn diese Heimat nun vor solchen Herausforderungen steht, dann helfe ich dabei, diese Leute zu integrieren, so, wie damals uns geholfen wurde.

Was wünschen Sie sich vom Freistaat Sachsen, um Ihre Arbeit noch besser fortführen zu können?

Im Dachverband brauchen wir Unterstützung. Wir müssen irgendwann von der Projektförderung wegkommen. Ich höre immer, es gibt keine institutionelle Förderung, das sei gesetzlich nicht vorgesehen. Ich glaube, das ist Quatsch. Es gibt Jugendverbände, die institutionelle Förderung erhalten, das ist möglich. Zweitens denke ich, der Freistaat und seine Politiker müssen sich noch mehr und offener gegen Rassismus stellen. Das ist ein großes Problem in Sachsen und darüber müssen wir sprechen. Ich bin immer für offenen Dialog. Dialog ist mein Lieblingswort. Doch wir müssen uns auch deutlich positionieren und offen sagen, Rassismus gehört nicht zu uns.