Wie hält es Nachbar Tschechien mit der Energie?

In Zeiten, in denen sich Deutschland aufgrund des russischen Krieges gegen die Ukraine gezwungen ist, seine Energieversorgung umzustellen, kann es aufschlussreich sein, ins Ausland zu blicken, wie andere Länder mit dem gleichen Problem umzugehen. Aus sächsischer Sicht liegt nahe, sich bei den Nachbarn zu informieren. Unter dem Motto „Ist die Energiepolitik des Nachbarn grüner?“ lud die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) in der zweiten Oktoberhälfte zu einer Studienreise nach Tschechien ein. Das Interesse war hoch und die Erwartungen ebenso.

Die viertägige Reise berührte in einer Kombinationen aus Führungen und Besichtigungen vor Ort und Podiumsdiskussionen in der Landeszentrale sowie dann als Dreh- und Angelpunkt im Sächsischen Verbindungsbüro in Prag fast alle Bereiche der aktuellen tschechischen Energiepolitik. Am Anfang stand eines der wenigen echten Streitthemen - die Erweiterung des polnischen Tagesbaus Turów direkt an der Grenze zu Sachsen und Tschechien. Der Streit verläuft mehr zwischen Tschechien und Polen, wo es bis zu einer Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit einstweiliger Verfügung sowie daraufhin einer zwischenstaatlichen Einigung auf höchster Ebene kam. Inwiefern die Einigung für Frieden zwischen beiden Parteien gesorgt hat, bleibt offen. Thema war auch die tschechische Eigentümerschaft der Braunkohlegruben sowohl in der Lausitz als auch in Mitteldeutschland.

Themen- und Ortswechsel an Tag 2. Es ist kurz nach vier am Nachmittag und Ende der Tagschicht in Dukovany. An den Drehkreuzen bildet sich eine Schlange. Jeder Mitarbeiter des tschechischen Atomkraftwerks muss sich neben einer Chipkarte auch mit seiner eingescannten Handfläche ausweisen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind hoch, aber der Schichtschluss läuft geschmeidig ab. Auch für die Besuchergruppe aus Sachsen gilt: Sicherheit zuerst.

Atomkraft - ja bitte!

Mehrere Tausend Menschen arbeiten in dem Kraftwerk im Süden Mährens, keine 50 Kilometer von der zweitgrößten Stadt Tschechiens Brno (Brünn) entfernt. Zuverlässig deckt das Kraftwerk sowjetischer Bauart seit 35 Jahren fast ein Fünftel des Strombedarfs der Tschechischen Republik ab.

Eine Betriebsverlängerung für weitere 20 Jahre ist fest eingeplant. „Wir rechnen mit einem Betrieb bis in die 2040er Jahre hinein“, bestätigt Dana Drábová, Chefin des tschechischen Amtes für Reaktorsicherheit SÚJB, Stunden zuvor auf einem Podium im Verbindungsbüro des Freistaats Sachsen. Sollten die Pläne der tschechischen Regierung aufgehen, könnte dann in Dukovany bereits ein ganz neuer, fünfter Block Energie ins Netz einspeisen. Dieses Vorhaben biegt gerade jetzt in seine entscheidende Phase ein. „Bis Ende Dezember erwarten wir Angebote“, sagt Jan Prášil vom Wirtschaftsministerium, nächstes Jahr fällt die Entscheidung, wer den Block baut. Die Ausschreibung sieht übrigens die Abgabe eines Angebots vor, das den Bau weiterer Blöcke auch am bisher zweiten tschechischen Standort Temelín in Südböhmen einschließt, betont Prášil. Die Qualität des Gesamtpakets hat entscheidenden Einfluss auf die Auftragsvergabe.

Die Menschen in Třebíč, der Kleinstadt in der Nähe des Werkes, wo viele Kraftwerker leben, hören das gern. Die Stadt lebt vom Atomkraftwerk. „Wir haben hier mehr Bedenken davor, dass das Kraftwerk einmal nicht mehr sein wird, als vor der Atomkraft selbst“, sagt Petr Šmejkal, der seit diesem Jahr die örtliche Wirtschaftskammer leitet. Ob hier überhaupt jemand kritisch gegenüber der Atomkraft eingestellt ist? „Mir ist niemand bekannt“, sagt Šmejkal. Auch in ganz Tschechien gibt es nur wenig nennenswerten Widerstand. Zu den Ausnahmen zählt Edvard Sequens vom Verein Calla, den die Regierungspläne beunruhigen. „Mit dem Bau neuer AKWs zementieren wir die jetzige Energieversorgung für weitere 80 Jahre“, sagt er. Elektrischer Strom kommt heute in Tschechien zu über 40 Prozent aus Kohle, fast genauso viel liefern die zwei Atomkraftwerke und der Rest sind Gas und Erneuerbare.

Die Bremsen bei Erneuerbaren lösen

Die Ursachen für den schleppenden Ausbau Erneuerbarer sind vielfältig und Thema des dritten Tages. Der Bau Erneuerbarer ist mit vielen bürokratischen Hürden konfrontiert. Windräder sucht man fast vergebens. Weit verbreitet ist die Annahme, in Tschechien wehe kein Wind und auch die Sonne scheine nicht so häufig.

Darüber kann Lukáš Minařík, Experte für Energie und Klimaschutz im tschechischen Umweltministerium, auf einem weiteren Podium im Verbindungsbüro nur müde lächeln. Eine Studie der Akademie der Wissenschaften hat ein Windpotenzial ergeben, das mit den südlichen Bundesländern Deutschlands vergleichbar ist. Bis 2040 könnte Tschechien seinen Energiebedarf zu fast einem Drittel allein aus Windkraft decken. Nötig wäre dazu eine starke gesellschaftliche Unterstützung, die es aber bisher nicht gibt. Neben fehlender staatlicher Unterstützung werden Neubauten durch die Ablehnung der Gemeinden blockiert. Doch die Energiekrise und der Krieg in der Ukraine führen zu einem Umdenken. Drei erste Windräder könnten in einer Gemeinde entstehen, die ein ähnliches Vorhaben noch vor vier Jahren abgelehnt hat.

Ähnlich, wenn auch etwas besser, ist die Situation bei der Photovoltaik. „Bis 2009 waren wir auf einem guten Weg, hatten in ganz Tschechien eine installierte Kapazität von 2 Gigawatt“, sagt Jan Krčmář von der Solar-Allianz. Doch dann kürzte der Staat massiv die Unterstützung. Dazu kommen ein veraltetes Verteilnetz und lang andauernde Genehmigungsverfahren.

Seit Beginn der Energiekrise entwickelte sich aber ein regelrechter Solarboom. Installationsfirmen melden einen Auftragsanstieg um das 26-fache. Der Boom könnte noch größer sein, meint Krčmář: „Aber es fehlt ein stabiles unternehmerisches Umfeld.“ Der Staat baue Barrieren nicht schnell genug ab. Dazu halten sich ähnlich wie beim Wind Narrative, die falsch sind und den Ausbau unnötig behindern. „Solar gehört aufs Dach“, ist so eine feste Überzeugung, die nur schwer zu brechen ist, sagt Krčmář, und erwähnt neue Trends wie Agriphotovoltaik, also die doppelte Flächennutzung von Landwirtschaft und Energieerzeugung durch Solaranlagen.

Was kommt nach der Kohle?

Die aktuelle Regierung bereitet Erleichterungen vor. Dazu wird sie auch von der sich verändernden Energieerzeugung gezwungen. Denn Anfang der 2030er Jahre könnte es mit der tschechischen Energieautarkie vorbei sein. Bis 2033 möchte Tschechien aus der Kohle aussteigen. Doch bis dahin wird weder der neue Reaktorblock in Dukovany fertig sein, noch wird er ausreichen. Trotzdem strebt die Regierung wenig ambitioniert nur 20 Prozent Energie aus Erneuerbaren bis 2030 an. Stattdessen setzt sie auf kleine modulare Atomkraftwerke, deren Bau weniger aufwändig, schneller und günstiger zu machen sein soll als ein herkömmliches Atomkraftwerk. Doch diese Technologie steckt noch in den Kinderschuhen.

Sieht es bei der Versorgung mit Elektroenergie noch gut aus, hat Tschechien beim Erdgas ein echtes Problem. Das wird neben der Kohle zum Heizen und vor allem in der Industrie als Prozessenergie eingesetzt. Tschechien ist viel stärker von russischem Gas abhängig als Deutschland. Immerhin kann Tschechien in seiner EU-Ratspräsidentschaft führend europäische Lösungen voranbringen. Allerdings konnte sich Tschechien mit seinem Wunsch, Gas gemeinsam einzukaufen, nicht durchsetzen. Vorbild ist hier die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen in der Zeit der Covid-Pandemie. Dagegen forciert Tschechien den Bau der Gasleitung Stork nach Polen und hat sich ein Flüssiggasterminal in den Niederlanden gesichert. Auch die Gaslager sind gut gefüllt. Ein weiterer Pfeiler ist das Energiesparen. Bis Mitte Oktober sank der Gasverbrauch um die nötigen 15 Prozent. Die hohen Preise zwingen die Verbraucher zum Sparen.

Kontrastreiche Aufbruchstimmung am Ende des dritten Tages und am vierten Tag in Nordböhmen. Hier stand die Besichtigung des Kohlekraftwerks Počerady auf dem Programm. Es ist eines der größten und zugleich schmutzigsten Kraftwerke Tschechiens. Während hier eine private Kohlefirma noch einmal Millionen investiert, um den strengen europäischen Umweltnormen gerecht zu werden, treibt man andernorts bereits die Zeit nach der Kohle voran. So in der Kleinstadt Horní Jiřetín, das sich erfolgreich gegen das schon beschlossene Schicksal der Abbaggerung gewehrt hat und auch dank ihres grünen Bürgermeisters Vladimír Buřt auf dem Weg zur Energieautarkie ist. Der benachbarte Tagebau, der das Städtchen einst schlucken sollte, wird 2024 stillgelegt und soll künftig auch Standort für erneuerbare Energieerzeuger wie Solarkraftwerke werden.

Eine Wasserstoffregion meldet sich zu Wort

Nordböhmen als Energieregion halten – das ist das Stichwort, das auch in Ústí nad Labem bewegt. Hier wurde ein Wasserstoffcluster gegründet. Doch bevor die Windräder und Photovoltaikanlagen auf ehemaligen Abraumhalden und Tagebauen stehen, möchte Tschechien gern anderen Wasserstoff nutzen. In den Chemiewerken in Ústí und Litvínov entsteht Wasserstoff schon heute als Nebenprodukt. Damit könnten die Städte ihren Nahverkehr auf Wasserstoffantrieb umstellen. Die Projektanträge im Rahmen des EU-finanzierten Fonds „Gerechte Transformation“ liegen fertig in der Schublade. Aber es ist kein grüner, sondern grauer Wasserstoff, produziert auf der Basis von Atomstrom. Damit ist nach den Regeln der Europäischen Kommission die Anschaffung der Wasserstoffbusflotte nicht förderwürdig.

Und, ist die Energiepolitik des Nachbarn nun grüner? Die Antwort der Teilnehmer war eher negativ. Aber der Erkenntnisgewinn war immens. Oder wie Petr Mervart, der Wasserstoffbeaufragte des Industrie- und Handelsministeriums, angesichts des Programms der Studienreise mit sichtlicher Bewunderung zu den Teilnehmern sagte: „Sie wissen jetzt mehr über unser Energiesystem als die tschechische Bevölkerung selbst.“