Web3 und der Traum einer dezentralen Gesellschaft (1/3)

Eine Gesellschaft dezentral organisieren - ohne Machtzentren, ohne Verwaltungsapparat, ohne Korruption und nur in Absprache zwischen den Menschen selbst. Für einige Menschen ist solch ein Zustand ein Traum, eine Alternative zu dem, was wir als Staaten kennen. Dieser Traum stammt aus der Ideenströmung des Anarchismus, denn anders als die landläufige Verwendung des Wortes vermuten lässt, geht es in der Anarchie nicht um Chaos und Unordnung, sondern um Menschen, die sich selbst organisieren.

Seit einiger Zeit lassen Millionen Menschen weltweit diesen Traum neu aufleben, nachdem sich die anarchistische Idee mit der Familie des liberalen Denkens verbunden hat. Das vor allem in den USA geprägte libertäre Denken (engl. „libertarian“) verbindet Wirtschaftsliberalismus und Freiheit von sämtlichen staatlichen Instanzen. In dieser Blogartikel-Serie geht es darum, diesem Traum näher auf den Grund zu gehen, herauszufinden, was das alles mit Blockchain, Cryptowährung und NFTs zu tun hat (und was das überhaupt ist), auch die Schattenseiten dieser Ideenwelt zu beleuchten, um sich schließlich dem Begriff zu nähern, an den sich so viele Hoffnungen und Enttäuschungen heften: Web3 - das „Dritte Web“.

Web 1-2-3?

Das Internet wurde erstmals in den 1990er-Jahren so beschrieben, wie wir es auch heute noch wahrnehmen: Als „World Wide Web“, als ein Netz also, welches sich weltweit von Rechner zu Rechner spannt und einen Austausch von Daten, Informationen, Bildern, Videos, Erfahrungen, Meinungen, Nachrichten, Falschmeldungen, Tipps, Tricks, und allen weiteren denkbaren Dingen ermöglicht, die sich digitalisieren lassen.

Dieses „Web 1.0“, welches sich technologisch auch heute noch in der Adressleiste des Browsers als „www.“ findet, stand aber zunächst nicht allen Menschen offen. Einerseits weil die Zugangshürden höher waren, da selbst die heute fast schon wieder veralteten PCs noch ein Nischenprodukt waren und von Laptops kaum jemand träumte, von Smartphones bis hin zu smarten Kühlschränken ganz zu schweigen. Andererseits, und das ist die entscheidendere Seite der Medaille, weil der angezeigte Inhalt nahezu ausschließlich von Technikprofis und sehr Interessierten erstellt werden konnte. Für alle Menschen erschwingliches Webhosting setzte sich erst später und allmählich durch, weswegen die meisten Websites zunächst dem professionellen, vor allem universitären und militärischen Austausch dienten, oft noch unter komplettem Verzicht auf Webbrowser, sondern in schwarz-weiß-Terminals und Texteditoren.

Gleichzeitig etablierten sich unter anderen mit E-Mail, Online-Foren und Online-Shops Angebote, die die Nutzer:innenzahlen und damit den Einstieg der Menschheit in das weltweite Netz rasant vorantrieben. Immer mehr Menschen entwickelten auch ein Interesse, selbst Inhalte hervorzubringen und sie anderen zu präsentieren – sei es in Form von Meinungen, Informationen, Veranstaltungseinladungen, persönlichem Lebensstil oder Kochrezepten. Dieses Bedürfnis brachte schließlich auch kommerzielle Anbieter:innen auf die Idee, Orte zu bauen, an denen Menschen sich mitteilen können, ohne technische Expertise zu haben oder großen Aufwand betreiben zu müssen. Nach Myspace folgte spätestens mit Facebook der Durchbruch und die „sozialen Medien“ waren geboren. Ein immer stärker anwachsender Teil der Inhalte des Internets wird nun von allen Menschen erstellt, von Wikipedia bis 4Chan, von Facebook bis YouTube. Dieses „Web 2.0“ ist nicht nur von vielen Menschen geprägt, es liegt auch fast überall an. Die Frage des Internetzugangs ist immer noch eine soziale wie auch Altersfrage, der Anteil der Menschen, die es nicht nutzen, sinkt aber rapide ab: Im Jahr 2022 nutzten laut Statista rund 93% aller Menschen in Deutschland das Internet. Als Maßstab für Teilhabe lässt sich dies mit dem Anstieg der Alphabetisierungsrate im 19. Jahrhundert vergleichen. Im Grunde ist das heutige Internet also immer noch ein „Web 2.0“ – trotzdem kann es im Prinzip alles. Wozu also ein weiteres Update?

Ein wichtiges Problem an Web 2.0 – zumindest aus Sicht der Verfechter:innen eines Updates – ist die Zentralisierung: Das Mitmach-Web wird inzwischen von einigen wenigen Plattformen gehostet, die über die Sammlung, Speicherung und Verwendung von Daten bestimmen. Wer Informationen und Medien teilen möchte, muss diesen Anbieter:innen seine oder ihre Besitzrechte in der Regel weitestgehend abtreten sowie ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbringen, dass der Zugriff auf die „eigenen“ Daten erhalten bleibt und dass damit kein Missbrauch betrieben wird. Dieses Problem sollte durch das Web 3.0 behoben werden: Web3 soll Vertrauen neu organisieren, indem es zentrale Entscheider abschafft und in Streitfragen alle Menschen gemeinsam befragt, wer im Recht ist – worauf der Code dann eine eindeutige Antwort gibt – so zumindest die Vorstellung seiner Schöpfer. Aber wie funktioniert das genau?

Mehr zur Entstehung des World Wide Web beim TÜV Nord.

Mehr zum Thema Web 2.0 bei der BpB.

Eine Kette von Blöcken, die sich flüchtig kennen

Im Zentrum der Architektur von Web3 steht die Technologie der sogenannten „Blockchain“ („Block- Kette“). Im Prinzip ist eine Blockchain eine komplexere Variante einer Datenbank, also eines Ortes, an dem Daten gespeichert werden, die später wieder abgerufen werden können (nicht unähnlich zu beispielsweise einer Excel-Tabelle). Wie der Name vermuten lässt, werden Daten in diesem System in Blöcken gespeichert, die in Form einer Kette aneinandergereiht sind. Damit diese Daten nicht gefälscht werden können, ohne, dass eine zentrale Instanz die Echtheit garantiert (das wäre die Logik des „alten Webs“), müssen also die einzelnen Blöcke, welche die Kettenglieder darstellen, untereinander dafür sorgen, dass sie fälschungssicher sind.

Dafür kommt das sogenannte „Hashing“ zum Einsatz, eine Technologie, die auch unabhängig von Web3 in vielen Fällen Verwendung findet. In eine Hashfunktion werden Daten eingeführt – zum Beispiel eine Telefonnummer. Heraus kommt eine lange Reihe von Nonsens: Zahlen und Buchstaben, scheinbar willkürlich aneinandergereiht. Aus diesem generierten Hash-Wert lässt sich nicht auf die ursprüngliche Telefonnummer zurückschließen, die ursprüngliche Telefonnummer wird aber immer denselben Hash-Wert hervorbringen. Der Hashwert kann also die Identität von Daten sicherstellen – ohne sie zu kennen. Würde man also das Hashing auf das Spiel „Stille Post“ übertragen, könnte jede Person, auch Außenstehende, überprüfen, ob am Ziel dasselbe herauskam, womit am Anfang gestartet wurde – genialerweise aber ohne, dass sie den Inhalt der Nachricht kennt.

Die Blockchain setzt letztlich ein solches Stille-Post-Spiel um. Ein Beispiel: Der erste Block einer Kette enthält eine Telefonnummer. Der zweite Block enthält ein Besitzzertifikat– sowie den Hashwert der Telefonnummer aus dem vorigen Block. Der dritte Block enthält ein Kochrezept – sowie den Hashwert des Besitzzertifikats aus dem zweiten Block. Diese Kette kann sich je nach Programmierung unendlich weit fortsetzen, je nach den festgelegten Regeln können verschiedene Menschen darin verschiedene Daten ablegen. Angenommen, es entstünde nun ein Streit über das beispielhafte Besitzzertifikat im zweiten Block, dann ließe sich diese Frage eindeutig klären, da die zwei rivalisierenden Zertifikate verschiedene Hashwerte erzeugen würden, aber nur einer davon in der Blockchain (nämlich im dritten Block, beim Kochrezept) als echt registriert ist. Alle Beobachter:innen, auch Außenstehende, könnten mit Klarheit sagen, wer das echte Zertifikat hält – ohne die streitenden Personen, den Inhalt des Zertifikats zu kennen oder überhaupt zu wissen, dass es sich um ein Zertifikat handelt. In der Theorie entsteht so eine Datenbank, welche die Integrität aller Daten bei gleichzeitiger Anonymität garantieren kann.

Eine ausführlichere Erläuterung von Hashwerten und Hashfunktionen bei Medium.

Ein ausführliches Dossier der Bundesnetzagentur zur Blockchain-Technologie.

Cryptowährung und NFT: Unabhängiges Geld – eindeutiger Besitz 

Besitzzertifikate sind es schließlich auch, die den relevantesten Einsatzzweck der Blockchain- Technologie darstellen, insbesondere im Austausch von Geld und Waren – also klassischen Markttransaktionen. In der „alten Logik“ braucht es für diese Transaktionen eine zentrale Instanz, die im Konfliktfall zuordnen kann, welcher Gegenstand gerade welcher Person gehört. Wenn beispielsweise zwei Personen in einen Streit darüber geraten, ob eine Banküberweisung getätigt wurde oder nicht, entscheidet letztlich die Bank darüber, wer von beiden recht hat. Beide Parteien sind dem Urteil zunächst ausgeliefert, die nächste Option wäre erst der Prozessweg vor Gericht.

Aus diesem Grund wird Besitz letztlich meistens staatlich abgesichert – vor Gerichten lässt sich erstreiten, wem etwas gehört, durch Zentralbanken wird abgesichert, dass das Geld, was beispielsweise als Lohn ausgezahlt wird, auch in einem Supermarkt zum Kauf von Lebensmitteln verwendet werden kann. Vertrauen in Markttransaktionen entsteht also durch zentrale, oft staatliche, Instanzen. Wenn dieses notwendige Vertrauen aber anders erzeugt werden könnte, nämlich durch eine Eindeutigkeit in der Programmierung und die beschriebene Blockchain-Technologie, wären diese Instanzen – aus Sicht ihrer Verfechter:innen – nicht mehr notwendig, da sich Waren und Geld beliebig dezentral und sicher austauschen lassen würden.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich die Anwendung der Blockchain-Technologie zunächst der Schaffung eines fälschungssicheren Währungssystems zuwandte. Jede Transaktion in einer solchen Währung würde dann in jeweils einem Block der Kette abgespeichert. Niemand wüsste, wer wem Geld überwiesen hat, aber alle könnten die Echtheit der Transaktion bestätigen. Ähnlich verhält es sich mit sogenannten „NFTs“ („Non Fungible Tokens“, „nicht austauschbare Marken“). Dabei handelt es sich um die oben bereits als Beispiel verwendeten Besitzzertifikate. Ein NFT gibt – zumindest in der Theorie – eindeutig Auskunft darüber, wem etwas gehört. Nachdem er in einem Block abgespeichert wurde, verweist er auf ein Objekt und benennt gleichzeitig den oder die Besitzer:in. Ähnlich wie beim Konflikt über eine Transaktion könnten auch hier im Streitfall alle Beobachter:innen eindeutig bestätigen, wer das echte Zertifikat hält.

Die Blockchain-Technologie ist also theoretisch dazu in der Lage, Daten so zu speichern, dass ein dezentrales Netzwerk ohne zentrale Vertrauensinstanz deren Echtheit garantiert, ohne dass die die Daten dabei für alle offen einsehbar wären. Warum also ist die Blockchain-Technologie nicht schon längst zum weltweiten Standard für den Austausch von Waren und Geld herangewachsen? Was könnte an dieser simplen Eindeutigkeit auszusetzen sein?

Um dies näher zu beleuchten, nimmt der nächste Artikel dieser Reihe eine kritische Perspektive gegenüber Blockchains, Cryptowährungen und NFTs ein und wendet sich der Frage zu, welche Probleme ein solches System in der Praxis hervorruft.

Mehr zum Thema NFTs beim NDR.

Mehr zur Funktion von Kryptowährungen, insbesondere Bitcoin vom CRE Podcast