Warum Sachsen eine Europäische Akademie braucht

Dr. Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB), stellt am 7. Dezember 2023 auf dem Theodor-Litt-Symposium in Leipzig erstmals öffentlich das Konzept für eine Europäische Akademie in Sachsen vor. „Sie soll ein Ort sein, der Menschen zusammenbringt, vor allem aus dem Dreiländereck Sachsen/Deutschland-Tschechien-Polen.“ Hier stellen wir das komplette Manuskript seines Vortrags online, damit alle Interessierten die Rede nachlesen können.

 

Ach, Europa! Ach, Europa

Mit unserem Kontinent und seinen Befindlichkeiten ist es so eine Sache. Die einen suchen seine Identität, die andere lehnen sie ab, ohne sie bereits gefunden zu haben. Am Ende der 1980er Jahre betitelte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger seinen Reportageband mit dem Seufzer „Ach, Europa“. Er versuchte darin, unseren Kontinent nicht aus einer Zentralperspektive eines dominanten Landes wie Frankreich oder Deutschland zu beschreiben, sondern von seinen Rändern her. Enzensbergers Buch warf einen mondänen Blick auf unseren Kontinent und kam zu einem überaus facettenreichen – mal leichtfüßigen, mal melancholischen Bild – der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände Europas. Die Vielfalt, die wie Chaos erschien, sei die wichtigste Ressource Europas, lebe es doch gerade von der Differenz, so der Tenor des Buches. Das ließ sich 1989 noch fast naiv und zugleich herausfordernd sagen.

Entwicklungen seit 1989

Dreißig Jahre nach der deutschen und europäischen Wiedervereinigung, 20 Jahre nach der EU-Osterweiterung, 15 Jahre nach der Euro-Schuldenkrise, knapp zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise und zwei Jahre nach Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, erscheinen uns heute vermutlich Chaos und Differenz als Belastung, mehr als trennendes Element denn als wichtige Ressource. Gerade die Flüchtlingskrise 2015/2016 hat verdeutlicht, dass die Staaten West- und Mittel-Osteuropas kein gemeinsam geteiltes Verständnis davon haben, was die Bedeutung des Nationalstaates und der europäischen Integration angeht, wie mit Einheimischen und Fremden umzugehen sei, welche Vorprägungen Religionen und Kulturen für die Deutung der Gegenwart spielen.

Europa war dem Zerreißen nahe, der Rechtspopulismus floriert seither in vielen Ländern. Der bulgarische Politologe und Publizist Ivan Krastev sprach deshalb sorgenvoll von einer „Europadämmerung“. Er verwies auf sehr unterschiedliche historische Erfahrungen: etwa, dass 1968 für Westeuropa den Durchbruch kosmopolitischer Werte symbolisiert, während in Osteuropa 1968 für die Wiedergeburt nationaler Gefühle steht – in Abgrenzung zur dominanten Sowjetunion.

Während nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Politiker wie Václav Havel die europäische Integration vorantrieben oder die europäische Integration für Deutschland der gewollte und auch international eingeforderte Preis der Deutschen Einheit war, werden heute in Ost-Mittel-Europa eine verstärkte europäische Normierung oder Druck aus Brüssel eher als nationale Kränkung oder Demütigung verstanden.

Vor dem Hintergrund dieser Mentalitätsunterschiede konnte die Erwartung an eine großzügige Aufnahme von Migranten und Migrantinnen aus einem anderen Kulturkreis nur scheitern. Nicht weniger strittig, wenn auch mit anderen Konfliktlinien, ist seit Februar 2022 die Auseinandersetzung um die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor. 70 Prozent der Ostdeutschen lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine ab, Ungarn torpediert eine einheitliche europäische Linie gegen Moskau, während die bis dato migrationsfeindlichen Polen Millionen an ukrainischen Flüchtlingen beheimaten ebenso in großem Umfang Waffen liefern wie das sehr viel kleineren Estland.

Europäische Einheit: in Vielfalt?

Nun ist die Betonung von Differenzen und Vielfalt in unseren Tagen – aus guten Gründen – durchaus en vogue. Gleichzeitig sehen wir mit Blick sowohl auf die EU als auch auf Europa als Ganzes, das ja weit über die EU hinausgeht, dass Differenz nicht nur zur inter- oder transkultureller Bereicherung führen kann, sondern auch zu handfesten Konflikten. Mehr als drei Jahrzehnte nach Enzensbergers Buch, gut zwanzig Jahre nach der EU-Osterweiterung und fast zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise stehen wir an einem Punkt, den der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastew als „Europadämmerung“ bezeichnet hat.

„Ach, Europa“, könnte man einmal mehr sagen, warum haben wir es miteinander so schwer? Gerade im Miteinander zwischen West- und Osteuropa, gerade was die großen Fragen unserer Zeit – wie Flucht und Migration, Klima und Energiepolitik, Nationalstaat und europäische Integration – angeht. Wir erinnern uns sicherlich alle noch deutlich daran, dass die bereitwillige Aufnahme von Millionen geflüchteten Syrerinnen und Syrern in Deutschland, Schweden und Österreich auf sehr wenig Gegenliebe bis blanke Ablehnung in Ost-Mittel-Europa stieß. Damit verbanden sich bestimmte Bilder von Europa, der EU, europäischer Identität, nationalstaatlicher Eigenständigkeit, der Rolle der Religion im öffentlichen Leben.

Keine Solidarität?

Während „der Westen“ und die EU „dem Osten“ mangelnde Solidarität vorwarf und -wirft, fühlten sich Länder des Ostens von Berlin und Brüssel durch weitreichende Migrationsentscheidungen überwältigt. Die unterschiedlichen Sichtweisen beschreibt Krastev so:

„Was wir heute in Europa erleben, ist kein Mangel an Solidarität, wie es Brüssel gerne darstellt, sondern ein Solidaritätskonflikt, bei dem nationale, ethnische und religiöse Solidaritätspflichten mit unseren Pflichten als Menschen in Konflikt geraten. Und dieser Solidaritätskonflikt findet sich nicht nur innerhalb der Gesellschaften, sondern auch im Verhältnis zwischen Nationalstaaten. Die Flüchtlingskrise hat deutlich gemacht, dass Osteuropa gerade jene kosmopolitischen Werte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union basiert, während für viele in Westeuropa ebendiese kosmopolitischen Werte den Kern der neuen europäischen Identität ausmachen.“

Welche Rolle spielt der Nationalstaat?

Zudem verbergen sich hinter den benannten Konflikten unterschiedliche Konzepte des Nationalstaats. In Westeuropa – insbesondere in Deutschland – wurde nationalstaatliche Souveränität als Preis für die Deutsche Einheit zurückgefahren und die europäische Integration gestärkt. Dieser Schritt galt als Zeichen des Vertrauens, der Sicherheit, des Friedens und der Freiheit. In Osteuropa war das nationalstaatliche Prinzip dagegen ein Widerstandsmotiv gegen die Dominanz der Sowjetunion.

Nicht erst, aber verstärkt seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt sich deutlicher denn je, dass politische Bildung heute für eine demokratische Resilienz nach innen, aber auch nach außen gebraucht wird. Europapolitische, internationale, sicherheits- wie friedenspolitische Bildung standen im Freistaat Sachsen lange nicht mehr auf den obersten Plätzen der Agenda. Das sollte sich gerade in einer Phase der außenpolitischen „Zeitenwende“ ändern.

Wo aber sind langfristig arbeitende Bildungsorte, die in einer gewissen Breite und Tiefe und dank nachhaltiger Finanzierung auch mit einem langen Atem all diese schwierigen Themen zur Debatte stellen? Wo ist der Ort in Sachsen, an dem auch die mentalen Dispositionen Ost-Mittel-Europas zur Sprache kommen, wo sich Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien „begegnen“ und in den Austausch treten?

Die Europäische Akademie Sachsen

Ein solcher Ort soll die Europäische Akademie Sachsen werden, die sich genau diesen Fragen widmet und zum Nukleus einer bildungspolitischen Internationalisierung werden soll. Eine derartige Einrichtung gibt es in Sachsen bisher nicht. Sie hätte das Potenzial, Europa zu dem „Megathema“ in Sachsen zu machen, das es bisher noch nicht ist.

● Die Europäische Akademie Sachsen soll ein Ort sein, an dem die Fragen nach einer europäischen Friedensordnung und einer internationalen Sicherheitsarchitektur gestellt, die Fragen zur Zukunft der Ukraine, die Sicherheitsbedürfnisse des Baltikums, der Protest gegen das diktatorische Regime in Belarus reflektiert und der langfristige Dialog mit Russland in den Blick genommen werden.

● Sie soll ein Ort sein, der eine Brücke zwischen West- und Osteuropa schlägt, ein Ort, der Verständnis vermittelt für die unterschiedlichen Befindlichkeiten und Zugänge in Ost- und Westeuropa, was die Interpretationen eines „europäischen Hauses“ oder eines gemeinsamen Marktes angeht.

● Der Blick der Europäischen Akademie Sachsen geht dezidiert nach Osteuropa und in den Ostseeraum, umschließt den Westbalkan, ohne dabei die Wurzeln der europäischen Einigung in West- und Südeuropa und die transatlantische Partnerschaft aus den Augen zu verlieren.

● Die Europäische Akademie Sachsen soll eine Plattform der Begegnung der europäischen Zivilgesellschaften werden, besonders zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. Sie soll zu einem besseren, wechselseitigen Verständnis zwischen Sachsen und seinen Nachbarn beitragen. Dies gilt auch für die Reflexion des historischen Erbes zweier Diktaturen.

2025 in Chemnitz

Die Europäische Akademie Sachsen soll am Ende der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 gegründet werden. Sie soll die Impulse des Kulturhauptstadtprozesses nachhaltig in der Region verankern und über die Region hinaustragen. Sie kann zum bleibenden und markanten Schlussstein der Kulturhauptstadtinitiative werden. Bewährte Träger der politischen Bildungsarbeit wie die politischen Stiftungen oder die kirchlichen Akademien sind internationalen Fragen regelmäßig nachgegangen. Ihr internationales Engagement hängt aber sehr stark von Einzelpersonen und Projektförderungen ab. Die Zahl der Träger der europapolitischen Träger ist in Sachsen überschaubar, die Finanzierung begrenzt, wie das Gutachten von Prof. Dr. Birgit Stöber, gezeigt hat. Von den verschiedenen Europahäusern in Sachsen ist nur noch eins in Leipzig aktiv.

Das Modell der Europäischen Akademien wäre für Sachsen neu, hat aber Vorbilder in anderen Teilen der Bundesrepublik. Die größte und traditionsreichste Europäische Akademie befindet sich in Otzenhausen im Saarland, deren Geschäftsführerin Stéphanie Bruel heute bei uns ist und aus ihrer Arbeit gleich berichten wird. Unter dem Motto „Europa entsteht durch Begegnung“ leistet die Europäische Akademie Otzenhausen seit 1954 einen wichtigen Beitrag zur non-formalen europapolitischen Bildung. Ihre Wurzeln hat sie in den Diskussionen um die Volksabstimmung über das Saarstatut. Seit Jahrzehnten ist sie tief verwurzelt und zugleich ein wichtiger Akteur in der Großregion „SaarLorLux“ in Reichweite von Brüssel, Straßburg und Luxemburg.

Vorbilder 

Weitere Europäische Akademien gibt es beispielsweise in München, Berlin oder Waren/Müritz. In Mitteldeutschland gibt es zwar in Weimar die Stiftung Europäische Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar, die 1999, also im Jahr der legendären Europäischen Kulturhauptstadtszeit in der Stadt Goethes und Schillers gegründet wurde. Was also fehlt ist ein Pendant zu Otzenhausen, das weniger auf das alte EWG-Kerneuropa, sondern am anderen Ende der Republik nach Mittel-Osteuropa blickt. Was fehlt, ist also eine Europäische Akademie Sachsen mit Ausstrahlung auf ganz Mitteldeutschland und die mittelosteuropäische Nachbarschaft, die die besondere Rolle Sachsens im Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen als Chance betrachtet, lebt und zum Knotenpunkt, Treffpunkt und Plattform des Gesprächs wird.

Was 1999 in Thüringen gelang, könnte 2025 auch in Sachsen gelingen. Deshalb soll die Europäische Akademie Sachsen Ende 2025 in Chemnitz aus der Taufe gehoben werden als nachhaltiger Schlussstein und zugleich zukunftsträchtige Einrichtung der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz. 2025 wird ein ereignisreiches, spannendes Jahr für die westsächsische Großstadt, wird viele internationale Impulse in die Stadt bringen, die nach dem Ende des intensiven Festprogramms nicht abebben sollen. Die bereits heute sich entwickelnden kommunalen oder wirtschaftlichen Netzwerke in der Region brauche weitere europäische und europapolitische Impulse über 2025 hinaus.

Kein Elfenbeinturm!

Der Begriff der Europäischen Akademie soll nicht akademisch missverstanden werden. Eine Europäische Akademie ist kein ausgelagertes universitäres Institut, wird nicht im Elfenbeinturm forschen, um Doktorarbeiten und Habilitationen vorzulegen. Es wird auch kein professioneller oder gar kommerzieller Think Tank werden. Das alles wären Aufgaben, die besser an den Hochschulen und dem in den nächsten zehn Jahren entstehenden Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Transformation in Halle angesiedelt werden.

Die Europäische Akademie sieht sich – ganz im Sinne des Chemnitzer Kulturhauptstadtkonzepts „C see the Unseen“ - als „makers space“, will handlungs- und lösungsorientierte Akteure aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft, aus Bildung und Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Religionsgemeinschaften und Kultur zur Stärkung des europäischen Austauschs und zur Entwicklung neuer, grenzübergreifender Modelle der Zusammenarbeit zusammenbringen. Die Europäische Akademie setzt auf den Transfer von Forschung in Praxis, bildet eine lebendige Schnittstelle zwischen Politik, Diplomatie, Forschung, Bundeswehr, Zivilgesellschaft, Schule und dezidiert auch Wirtschaft und Gewerkschaften. Damit würde in Sachsen eine Einrichtung geschaffen, die weit über die Grenzen des Freistaates ausstrahlt.

Vernetzung, Expertise, Bildungsverständnis

Die Europäische Akademie Sachsen sollte vernetzt mit etablierten Partnern der europapolitischen und internationalen Bildungsarbeit zusammenarbeiten, wie etwa dem Europa-Haus Leipzig, den Universitäten und ihren europapolitischen Lehrstühlen, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig, der Stiftung Internationales Begegnungszentrum St. Marienthal in Ostritz, der Europa-Union, der Europäischen Bewegung, den bilateralen Freundschaftsgesellschaften den Euroregionen in Sachsen sowie den Europe-Direct-Zentren und in den Nachbarländern etwa den Universitäten Breslau, Ústí nad Labem oder der Karls-Universität Prag.

Ihre Expertise liegt in den Themenbereichen Europapolitische Bildung, Mittel- und Osteuropa, Sicherheits- und Friedensbildung, interkulturelle Kompetenz, sowie globale und nachhaltige Wirtschaftsbeziehungen. Die Europäische Akademie Sachsen bedient sich der gesamten Methodik der politischen Erwachsenenbildung. Sie versteht europäische, internationale und interkulturelle Bildung als Schlüsselqualifikation für die Zukunft. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Beziehungsaufbau und Begegnungsmöglichkeiten im internationalen Kontext.

„Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine“

Die Europäische Akademie Sachsen soll eine gemeinnützige Rechtsstruktur erhalten, die es ermöglicht, für staatliche und private Fördermittel zuwendungsfähig zu sein. Anzustreben ist eine Mischfinanzierung, also eine Art private-public-partnership. Auch dies wäre für Sachsen ein neues Terrain, das zu erkunden und zu erproben gilt. Das im Januar 2024 zu eröffnende Projektbüro Chemnitz der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung wird nicht nur ein dezidiert europapolitisches Programm im Kontext der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 entwickeln, sondern auch an der Aufbauarbeit für die Europäische Akademie Sachsen beteiligt sein.

„Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine“, hat der große deutsche Außenpolitiker, der Hallenser Liberale Hans-Dietrich Genscher einmal gesagt. Und wenn dem so ist, tun wir gut daran, allen Unkenrufen und Fehlentwicklungen, allen Rückschritten und aller Kritik zum Trotz, an diesem Europa weiter zu bauen. Eine Europäische Akademie in Sachsen wäre also ein Beitrag zur Zukunft Europas, die unser aller Zukunft ist.