„Waren wir naiv?“ Bericht von der diesjährigen Partnerkonferenz der SLpB

Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat auch die politische Bildung erschüttert. Denn die Themen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik spielten hier in den vergangenen Jahren eine sehr nachgeordnete Rolle. „Wo stehen wir da eigentlich?“ So formulierte der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dr. Roland Löffler, in seiner Begrüßung zur Partnerkonferenz eine der Leitfragen des Tages. Er fragte auch: „Waren wir naiv?“

Die Veranstaltung trug den vielsagenden Titel: „Zeitenwende? Deutsche Verteidigungspolitik als Leerstelle der politischen Bildung“. Jährlich lädt die Sächsische Landeszentrale zur Partnerkonferenz, um über die politische Bildung selbst zu diskutieren und deren Weiterentwicklung voranzutreiben. Rund 90 Gäste hatten sich am 8. November 2022 in der Messe Dresden eingefunden: Darunter Mittlerinnen und Mittler politischer Bildung aus den Bereichen Schule und Erwachsenenbildung, aus Stiftungen, Vereinen und Trägerinstitutionen. Angesichts des Tagungsthemas waren in diesem Jahr nicht wenige Gäste in Uniform dabei, genauso wie  friedensbewegte Privatpersonen: Um angesichts des grausamen Krieges in der Ukraine auszuloten, wie politische Bildung mit der veränderten Weltsituation umgehen könnte. 

Vermittlerrolle zwischen Ost und West

Direktor Löffler nutzte seine Begrüßung, um die Defizite der vergangenen Jahre im Themengebiet internationale Beziehungen aufzuzeigen. Er schlug einen historischen Bogen und sprach zunächst über die Rede von Bundespräsident Roman Herzog beim Staatsbesuch in der russischen Föderation 1997. Zu Deutschlands erlernter Rolle als europäische Zivilmacht passte damals die Strategie, sich durch Handel und Kooperation anzunähern, so Löffler: „Anscheinend sah sich Deutschland in den späten 1990er Jahren als besonders privilegiert an, eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West einzunehmen.“

Dann ging er auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vom 27. Februar 2022 ein. Drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte Scholz hatte in dieser Rede den Begriff „Zeitenwende“ eingeführt und die fünf Handlungsmaximen der Bundesregierung vorgestellt. „Konträrer könnten die Reden von zwei deutschen Staatsorganen innerhalb von 25 Jahren kaum sein“, so Löffler. Um dann die eingangs genannte Frage zu vertiefen: Gab es vorher überhaupt eine Strategie, sich mit Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu befassen – in der Tagespolitik wie auch in der politischen Bildung?

Löfflers Begrüßung mündete in der Forderung nach einer europäischen Akademie für Außen- und Sicherheitspolitik im Freistaat Sachsen: „Als Anrainer zu Polen und Tschechien sollten wir in Zukunft stärker als bisher verteidigungs- und außenpolitische Debatten führen. Unsere heutige Partnerkonferenz stellt sich dieser Diskussion und will neue Netzwerke und Ressourcen erschließen“, schloss Löffler den ersten Beitrag des Tages. Die ganze Rede ist hier dokumentiert.

„Ausgerüstet, nicht aufgerüstet“

Mit der anschließenden Podiumsdiskussion ging es aber erst einmal darum, alle Teilnehmenden auf den gleichen Wissensstand zu bringen. „Russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine: Wo steht Deutschlands Verteidigungspolitik im November 2022?“ lautete der Titel.

Darüber diskutierten Hans-Peter Bartels, ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V., der Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour, der Linken-Bundestagsabgeordnete André Hahn, der Journalist Reinhard Müller, Leitender Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und Marko Mihkelson, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des estnischen Parlaments.

Die wichtigsten Diskussionsstränge seien hier nur kurz wiedergegeben: Die Bundeswehr ist offenkundig in einem besorgniserregenden Zustand. „Wir sind wirklich blank“, bestätigte Hans-Peter Bartels die öffentliche Aussage des Heeresinspekteurs Alfons Mais zu Beginn des Ukraine-Krieges. Die Bundeswehr sei mit der Reform 2011 für Auslandseinsätze optimiert worden, so Bartels: „Wir haben nicht die Struktur und Ausrüstung für den Bündnisfall.“ Die 100 Milliarden Euro der Bundesregierung zum Ausbau der Bundeswehr bezeichnete er als Befreiungsschlag, die Bundeswehr werde gerade aus dem Schlaf geweckt und ausgestattet.

Wie sieht die Diplomatie der Zukunft aus?

„Ausgerüstet, nicht aufgerüstet“, reagierte das Podium auf Publikumsnachfragen, ob immer weitere Waffenlieferungen wirklich die einzige Option seien. Den Einwand des Linken-Bundestagsabgeordneten André Hahn, es werde nicht genug für die Diplomatie getan, wiesen die übrigen Podiumsteilnehmer deutlich zurück.

Der estnische Außenpolitiker Mihkelson berichtete, wie er noch kurz vor dem Ausbruch des Krieges in Moskau gewesen sei. Es habe sehr viel Diplomatie auch von deutscher Seite gegeben, um den Krieg zu verhindern. Aber wie wolle man mit jemanden verhandeln, der diese Entscheidung zum Krieg so getroffen und damit internationales Recht gebrochen habe, fragte er mit Blick auf Putin.

Deutsche Führungsrolle: Ja oder nein?

Diskutiert wurde auch die Frage, wie die Diplomatie der Zukunft aussehe: Verhandelt man mit jemanden, der Kriegsverbrecher-Tribunale verweigere? Mihkelson, der in der Diskussion auch immer wieder klar die Rolle des kleinen Bündnispartners einnahm, der auf die deutsche Unterstützung hofft, stellte mehrfach die Frage nach der Zukunft. Für ihn stehe eine neue Weltordnung an, der Konflikt sei einer zwischen zwei Systemen, Demokratie und Autokratie. Deutschland könne da eine Führungsrolle einnehmen, mindestens in Europa, so der estnische Parlamentarier.

Diese Frage wurde heftig diskutiert: Deutsche Führungsrolle - ja oder nein? Und wenn ja: Wie?  Mit welchen Konsequenzen? Zu dieser Frage gibt es offenkundig noch Klärungsbedarf, nicht nur, was das Agieren des Bundeskanzlers betrifft. Mit Blick auf die folgende Diskussion zur Aufgabe der politischen Bildung gab das Panel der Veranstaltung noch mit auf den Weg: Wissen und Kenntnisse über Geschichte und internationale Zusammenhänge seien elementar, um über das Thema zu diskutieren.

Bleiben andere Themen auf der Strecke?  

So eine Partnerkonferenz dient ja immer auch der Vernetzung, woraus sich die längere Kaffeepause nach dem ersten, wirklich spannenden Panel erklärt. An Ständen und im Gespräch bei Gebäck und Kuchen konnten die Teilnehmenden das Gehörte auswerten und diskutieren.

Das zweite Podium mit dem Titel: „Verteidigungspolitik als Leerstelle der politischen Bildung - wo stehen wir und wohin wollen wir?“ begann dann mit zwei kurzen Impulsen von – auf den ersten Blick – sehr unterschiedlichen Positionen. „Mehr Verteidigungspolitik in der politischen Bildung?“ fragte die Professorin Ursula Münch, die für ihren Posten als Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing derzeit von ihrer Politikprofessur an der Universität der Bundeswehr in München freigestellt ist.

Sie bezeichnete die Tagung der SLpB als wichtigen Schritt, die Diskussion zu führen. Denn tatsächlich habe die politische Bildung über Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den vergangenen Jahren ein ausgesprochenes Schattendasein geführt. Der Versuch, das jetzt nachzuholen, führe für sie zu der Sorge, dass andere wichtige Themen wie die Nachhaltigkeit auf der Strecke blieben. Gleichwohl befürwortete sie ein Mehr an politischer Bildung in diesem Bereich, allerdings unter der Prämisse, dass die Debatte kontrovers gemäß dem Beutelsbacher Konsens geführt werde.

Lehrkräfte nicht allein lassen

Sie plädierte dafür, diese Aufgabe nicht allein den Lehrerinnen und Lehrern zu überlassen, sondern auch externe Kräfte heranzuziehen. Denn politische Bildung über Verteidigungs- und Sicherheitspolitik setze auch „Informiertheit und Urteilsfähigkeit bei den Lehrkräften voraus.“ 

Für einen emotionalen Moment sorgte Professor Uli Jäger zu Beginn seines Impulses mit dem Titel: „Mehr Friedensethik in der politischen Bildung?“ Er trug seine Dankbarkeit dafür vor, dass die Sächsische Landeszentrale zu dem Thema geladen hatte: „Ich glaube, in Zeiten, in denen wir alle Antworten suchen, ist ein Netzwerktreffen wir das hier heute das Wichtigste, was wir tun können“, so Jäger. „Es wird Nachhaltigkeit von diesem Treffen heute ausgehen!“

Er ist aktuell Abteilungsleiter Global Learning for Conflict Transformation der Berghof-Foundation. Zuvor war er lange Jahre Leiter des Instituts für Friedensforschung. Die mögliche Erwartung, dass auf dem Podium die aktive Beteiligung der Bundeswehr an der politischen Bildung in der Schule strikt ablehnen würde, erfüllte er nicht.

Er finde es richtig, wenn die Bundeswehr in die Schule gehe, so Jäger – aber nicht ohne Einordnung und entsprechendes Rahmenprogramm.

Kriegsangst und Informationsbedürfnis

Er beobachte ein großes Informationsbedürfnis bei den einzelnen Zielgruppen, etwa bei Kindern oder Jugendlichen: „Kriegsangst“, so Jäger. „Wir sind in der Pflicht, die Bedürfnisse nach Information zu bedienen!“ Gerade Kindern helfe es aufzuzeigen, dass sie die Welt vielleicht nicht ändern können, aber die eigene Umwelt. Wichtig sei stets Authentizität – auch bei dem eigenen Dilemma, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Jäger stellte ein eigenes Curriculum zur Friedensbildung vor, dass er gern als (Kern-)Bestandteil politischer Bildung in diesem Themenfeld etablieren würde.

In der folgenden Fragerunde an das Podium mit dem Moderator und Journalisten Meinhard Schmidt-Degenhard folgten noch eine Reihe sehr spannender Aussagen: Nein, es drohe keine Militarisierung der Bildungsarbeit. Aber die Friedensbildung wie auch die politische Bildung seien gefordert, die Ambiguitätstoleranz zu fördern. Münch plädierte dafür, dass Thema jetzt nicht zur Mode zu machen und viel zu publizieren und Veranstaltungen zu machen und dann dafür andere Themen fallen zu lassen. „Politische Bildung ist keine Feuerwehr, sondern eine mittel- und langfristige Angelegenheit, die durchdacht werden muss“, so Münch weiter.

Und: „Was ich nicht gut finden würde: Wenn man jetzt die Diskussion führen würde, die ‚guten‘ Friedensbewegten und die ‚bösen‘ Verteidigungspolitiker - auf dieses Spiel sollten wir uns nicht einlassen“, so die Politikprofessorin.

Workshops für mehr Vernetzung

In den folgenden Workshops wurde dann zu den Fragen debattiert, ob und wie die Bundeswehr in der Schule eingebunden werden könnten, wo die Grenzen der Friedensbildung liegen, welche Netzwerke, Fördermöglichkeiten und Kooperationen es gibt und was sich noch entwickeln könnte.

Aus den vielen Nachfragen und Diskussionsbeiträgen, den Workshop-Präsentationen und auch vielen Einzelgesprächen im Laufe des Tages wurde deutlich: Die politische Bildung sieht sich in der Pflicht, das lang vernachlässigte und durch den Krieg schmerzlich auf die Tagesordnung gesetzte Thema anzugehen. Viele Beiträge zeugten auch von Ängsten, wie sich die Weltlage wohl weiterentwickeln wird. Wann der Krieg wohl endet und in welcher Konstellation.

Einer der Workshop-Moderatoren fasste den Tag mit einem positiven Ausblick zusammen. „Ich blicke mit Optimismus und Freude auf die Ideen, die wir entwickelt haben und die es gilt, umzusetzen: nämlich größere Netzwerke zu bauen, auch grenzübergreifend! Und mit dem guten Angebot wird die Resonanz kommen“, so sein Fazit. Einige Teilnehmende vermissten eine stärkere Debatte jenseits militärischer Lösungen des Krieges in der Ukraine. Sie setzten eher auf diplomatische und friedensbildende Maßnahmen denn auf Abschreckung und Konfrontation - und sahen auf diesem Gebiet die politische Bildung gefordert. Die Vertiefung der verteidigungspolitischen Diskussion betrachteten sie kritisch.     

„Wenn wir die einzelnen Sektoren aufbrechen und Bundeswehr und Menschen aus der Friedensbewegung und anderen Richtungen zusammenbringen, werden wir weiterkommen“, fasste SLpB-Direktor Roland Löffler den Tag zusammen. „Ich hoffe auf Fortsetzung“, so sein Schluss.

Aufzeichnung

Der Vormittagsteil der Konferenz wurde live auf unserem Youtube-Kanal übertragen.

Die Aufzeichnung des ersten und zweiten Panels kann in voller Länge angesehen werden: