Russland ist deutlich schwächer als erwartet und die Ukraine deutlich widerstandsfähiger

Der Journalist Christoph von Marschall beschäftigt sich in Veranstaltungen der Reihe „Kontrovers vor Ort“ mit dem Angriffskrieg in der Ukraine, der Rolle Russlands und den globalen Auswirkungen des Kriegs.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert inzwischen über ein halbes Jahr. Die Ukraine konnte zuletzt eigenes Territorium zurückerobern, dort musste sich die russische Armee zurückziehen. Was bedeutet so eine Etappe? Ist das schon eine Wende oder müssen wir uns noch auf einen langen Krieg einstellen?

Ich glaube, wir müssen uns auf einen langen Krieg einstellen, weil keine der beiden Seiten nachgeben wird. Aber es ist interessant, dass wir in unseren Erwartungen doch auch überrascht worden sind. Zu Beginn des Krieges hatten, glaube ich, die meisten angenommen, dass Russland so überlegen ist, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann die Ukraine unterliegt. Dann kam die erfolgreiche Verteidigung von Kiew, die Verlagerung des Kriegs in die Ostukraine und in den Süden. Und jetzt erleben wir auch wieder überraschende militärische Erfolge der Ukraine. Aber es ist viel zu früh zu sagen, dass Russland schon den Krieg verloren oder die Ukraine gewonnen hätte. Man kann nur sagen, Russland ist deutlich schwächer als erwartet und die Ukraine deutlich widerstandsfähiger.

Die russische Regierung hat gerade die Teilmobilmachung verkündet. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Das wird keine rasche Wende des Kriegs bringen. Russland ist schlecht organisiert, und der Krieg ist nicht populär. Wer geht gerne zu einer Armee, die gerade dabei ist, zu verlieren?

Der Krieg und die darauffolgenden Sanktionen haben enorme wirtschaftliche Unruhen erzeugt. Inwiefern hat das die Stimmungen in Europa in Bezug auf die Ukraine und auf Russland verändert?

Wir erleben auf der einen Seite eine Solidarisierung mit der Ukraine. Die meisten Menschen in Europa sagen, dass es ein ungerechtfertigter Angriffskrieg ist, und sie sind besorgt, auch wegen der brutalen Kriegsführung durch Russland. Auf der anderen Seite bemerken viele in ihren Portemonnaies, dass der Krieg Folgen für sie hat. Nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Menschen in Deutschland, in Frankreich, Spanien, überall, wo wir hinschauen. Da entstehen Fragen: Machen wir mit den Sanktionen das Richtige? Können wir das durchhalten?

Beim Blick auf die deutschen Umfragen bin ich überrascht über die hohe Zustimmungsrate, weiter diesen Kurs zu fahren. In meinen Veranstaltungen in Sachsen, in denen ich über den Krieg und die Auswirkungen spreche, erlebe ich hingegen, dass viele Menschen Zweifel haben, ob das richtig ist. Ob man sich nicht mit Russland arrangieren müsste. Es gibt dabei wahrscheinlich gewisse Unterschiede in der Wahrnehmung in Sachsen und in westlichen Bundesländern. Aber auch im Vergleich mit den Nachbarn in Polen oder Tschechien, dort ist man in Bezug auf Russland wesentlich kritischer als ich das in Sachsen erlebe.

Hat der Krieg Europa stärker zusammengeschweißt oder ist das Gefüge brüchig?

Prioritäten haben sich verändert. Es verschwinden Fragen, die früher wichtiger schienen. Etwa diese: Sind Polen und Ungarn noch solide Demokratien? Wie soll sich die EU mit ihnen auseinandersetzen? Das ist stark in den Hintergrund gerückt, weil es das Gefühl gibt, dass Europa geschlossen auftreten muss. Aber unter der Oberfläche ist es nicht ganz so geschlossen, wie es nach außen den Anschein erwecken könnte. Es gibt lange Debatten und auch ein bisschen faule Kompromisse, wenn es um Sanktionen geht. Zum Beispiel das Ölembargo, bei dem Ungarn nicht mitmachen will. Die Lage ist durchaus gespalten. Man kann auch so etwas wie einen Ost-West-Konflikt in der EU erkennen. Staaten wie Polen, Tschechien, die baltischen Staaten wollen einen härteren Kurs gegenüber Russland als etwa Frankreich, Deutschland und Italien.

Wie stark sind die Allianzen zwischen Russland und China? Und wie gefährlich können sie werden?

Ich beobachte das mit großer Neugier, weil ich auch für mich selbst mehr Klarheit suche, ob sich da etwas verändert. Bisher ist dieses Bündnis nicht stark. Es gibt natürlich ein gemeinsames Interesse von China und Russland. Beide Staaten wollen nicht, dass der Westen dominierenden Einfluss auf die Weltpolitik hat. Insofern ist China sicher nicht daran interessiert, dass Russland den Krieg in der Ukraine eindeutig verliert. Auf der anderen Seite sind China und Russland keine gleichwertigen Partner. Russland hat nur ein Siebtel der Wirtschaftskraft von China. Aus chinesischer Sicht ist Putin kein Partner auf Augenhöhe, sondern ein Juniorpartner. Bisher ist daraus keine enge wirtschaftliche und politische Kooperation geworden. Es ist keine geeinte Front gegen den Westen. Wir müssen es im Blick behalten, aber für den Augenblick würde ich sagen, das hat nicht viel Substanz.

Der Konflikt zwischen China und Taiwan verschärft sich. Was könnte das für Auswirkungen haben?

Falls es wirklich zu einem harten Konflikt kommt, hätte das große Auswirkungen, weil es sicher wieder Wirtschaftssanktionen zur Folge hätte, die auch unsere Märkte betreffen könnten. Aus China und Taiwan kommen zum Beispiel Chips, die wir in Autos und Handys verbauen. China spielt eine zentrale Rolle bei der Lieferung von Batterien für die Elektromobilität. Auf der anderen Seite ist auch China abhängig vom Austausch mit dem Westen. Hier gibt es wichtige Exportmärkte für China, das Land bekommt aus dem Westen wichtige technische Neuerungen. Bisher hat sich der chinesische Präsident Xi als ein viel vorsichtiger kalkulierender Akteur in der Weltpolitik erwiesen als Wladimir Putin, der hohe Risiken eingeht und auch die Erfahrung macht, dass er seine Ziele nicht erreicht.

Es geht bei dem all dem auch um einen Kampf von autoritär geführten Staaten gegen Demokratien. Welche Stärken haben Demokratien? Wo sind sie verletzbar?

Die Stärken von Demokratien sind gleichzeitig ihre Schwächen. Natürlich kalkuliert Wladimir Putin, dass eine offene, demokratische Gesellschaft viel schneller aufbegehren wird als die Gesellschaft unter einer autokratischen Regierung, wenn es im Alltag nicht mehr gut läuft, wenn auf einmal die Inflation steigt, die Energie wegbleibt, man sich weniger leisten kann. Putin denkt, damit hätte er ein Druckmittel. Das ist auch nicht ganz falsch kalkuliert. Es gibt bei uns mehr Protest gegen die Folgen dieser Auseinandersetzung als innerhalb Russlands.

Auf der anderen Seite sind Demokratien, gerade weil es diesen Widerspruchsgeist gibt und, weil man offen diskutieren darf, auch viel besser in der Lage, Fehler zu korrigieren. Man kann als Beispiel die Pandemie heranziehen. Anfangs war man bei uns ein bisschen der Auffassung: Oh, das wird schwierig, in Demokratien Einschränkungen der Freiheit durchzusetzen. Die Chinesen können das viel einfacher durchdrücken. Aber wenn man jetzt, nach zweieinhalb Jahren, schaut: China steht viel schlechter da, auch wirtschaftlich, wegen rigider Lockdowns. Man hofft immer, dass Demokratien, auch wegen des Widerspruchsgeists und der Pluralität, sich am Ende als effektiver erweisen als Diktaturen. Es gibt Gegenbeispiele, aber auch genug Fälle, wo sich beweist, dass Demokratien agiler sein können.

Info: Dr. Christoph von Marschall ist Historiker, Journalist und Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion der Zeitung „Tagesspiegel“. In seinem Vortrag „Revision, Status Quo oder etwas Neues? Putin, die Ukraine und die Sicherheit in Europa und der Welt“ spricht er über die Lage in der Ukraine und die historischen Ursachen und mutmaßlichen globalen Auswirkungen des Krieges am 12.10. in Ostritz, 13.10. in Hoyerswerda und 19.10. in Stollberg. Mehr Informationen zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Die Veranstaltung läuft im Rahmen der Reihe „Kontrovers vor Ort“, einer Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Sächsischen Volkshochschulverband und dem Landesverbandes Soziokultur Sachsen.