Offensichtliche Ungerechtigkeiten

Seit Wochen streiken Kolumbiens LKW-Fahrer. Das Land ist im Ausnahmezustand. Mittendrin Pauline Voigt, eine junge Frau aus Sachsen, welche seit März in einer kolumbianischen Bergschule Englisch unterrichtet. Sie berichtet über den eskalierenden Streik, welcher viel über Kolumbien, seine Gesellschaft, Politik und Wirtschaft erzählt.

Ich heiße Pauline, komme aus Dresden und unterrichte seit Anfang März als weltwärts-Freiwillige Englisch an einer kleinen Bergschule in Sogamoso, Kolumbien. Vor zwei Wochen bin ich aus meinen Halbjahresferien nach Sogamoso zurückgekehrt, um meinen Schülern noch mehr englische Lieder, Vokabeln und erste ganze Sätze auf Englisch beizubringen.

Ich sitze seit zwei Wochen fest

Stattdessen ist der landesweite Paro Camionero (Lkw-Fahrer-Streik) eskaliert und hat mit der Blockierung der wichtigsten Straßen „meines“ Departements Boyacá jeden gewohnten Alltag zum Erliegen gebracht. Ich sitze also seit bald zwei Wochen zu Hause fest und habe auf einmal sehr viel Zeit, mir über alles Mögliche Gedanken zu machen. Zum Beispiel darüber, was es mit diesem Paro überhaupt auf sich hat und was er über Kolumbiens festgefahrene Lage sagt.

Ich habe also am Abendbrottisch meine Gastfamilie befragt – die durch den Streik sichtlich bedrückt ist, sich aber ausdrücklich zu dessen Anhängern zählt - , auf Facebook verbreitete Nachrichten verfolgt, mir Meinungen von Freunden und Fremden angehört und die Stellungnahmen des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos abends im Fernsehen angeschaut. Dabei habe ich versucht, ein Bild davon zu bekommen, was einen Großteil der Bevölkerung hier in Boyaca gerade in Wut und Sorge versetzt. Das war nicht so einfach, sind die Hintergründe der aktuellen Spannungen doch sehr komplex und reichen noch dazu Jahre zurück. Die Gewissheit, dass die offiziellen Medien durchgehend von der Regierung kontrolliert werden – und die inoffiziell verbreiteten Nachrichten von Wut und Angst der Bevölkerung gefärbt sind -, macht mir das Verstehen der Ereignisse noch schwerer.

Korrupte Politiker und einflussreiche Unternehmer

Tatsächlich läuft der Transportstreik schon seit Anfang Juni. Damals hatte Santos drei Neuerungen in der Transportwirtschaft angekündigt: Ab sofort sollen die Kraftstoffpreise sowie Mautgebühren steigen, außerdem werde man jeden Lkw-Fahrer verpflichten, sein Fahrzeug nach 10 Jahren Nutzung gegen eine (sehr geringe) Entschädigung zu verschrotten – all das, ohne die ebenfalls durch die Regierung festgelegten Tarife für den Transport anzugleichen. Als Hintergründe dieser Maßnahmen werden die Pläne korrupter Politiker und einflussreicher Unternehmer gesehen, ihr ohnehin bestehendes Transportmonopol zu verstärken: Der Großteil der Lkw- Fahrer soll in Zukunft pauschal bei dem schweizerischen Konzern „Impala“ angestellt werden, dessen Konkurrenz kleinere Unternehmen nicht standhalten könnten.

Aus Protest kündigten verschiedene Verbände von Lkw-Fahrern an, ihre Arbeit niederzulegen und die Straßen zu blockieren, falls sich die Regierung nicht auf Verhandlungen einließe. Auf diese Weise verging ein erster „friedlicher“ Monat des Paro Camionero, ohne dass die Regierung auf die Forderungen der Protestierenden einging. Als daraufhin vor zwei Wochen tatsächlich die Straßen durch Lkws, Bäume und Autoreifen blockiert wurden, erklärte die Regierung lediglich, mit dem Streik nicht einverstanden zu sein und zu keinen Verhandlungen bereit zu sein. In der Folge radikalisierten sich die Blockaden, außerdem heizten mit Santos und der korrupten Regierung ebenfalls Unzufriedene die immer aggressivere Stimmung auf: Auf passierende Autos wurden Steine geworfen und bei einer Räumung durch den ESMAD, eine schwer gerüstete Spezialeinheit der Polizei, wurde ein Demonstrant tödlich vom Tränengas verletzt.

Weder Benzin noch Lebensmittel

Sogamoso, die Stadt in der ich lebe, ist von den Folgen dieser Proteste mit am schwersten betroffen, da dessen Departement, Boyacá, die Mehrheit der  kolumbianischen Lkw-Fahrer beheimatet. Hier kommen seit zwei Wochen weder Benzin noch Lebensmittel an, die Schulen bleiben geschlossen, die Menschen kommen gar nicht –wenn es zu gefährlich ist - oder eben zu Fuß oder per Fahrrad zur Arbeit und die Supermärkte sind mittlerweile beinahe leer. Währenddessen hält der Großteil der Bevölkerung zu den Streikenden, in fast allen Schaufenstern im Zentrum verkünden Schilder: „Aqui apoyamos el paro – Hier unterstützen wir den Streik!“ .

Es ist, als ob wir nicht existieren würden

Kurz nach Beginn der Blockierungen kündigte Santos im Fernsehen an, dass die Protestierenden sowohl ihre an den Blockaden beteiligte Fahrzeuge als auch ihre Arbeitslizenz verlieren, da sie an kriminellen Protesten beteiligt waren. Mittlerweile erklären die nationalen Nachrichten, die Situation habe sich normalisiert und schweigt die weiter bestehende Notlage tot. „Es ist, als ob wir nicht existieren würden“, meint meine Gastmutter, die als Krankenschwester arbeitet und auf die nächste Karawane des Roten Kreuzes wartet, weil Medikamente und Sauerstoffvorräte schon lange knapp sind. Viele Boyacensen sind wütend auf Santos, der zwar mit den Guerrillavertretern der FARC verhandelt, Sorgen und Wut der hart arbeitenden Bevölkerung aber ignoriert. Gleichzeitig zeigen einige Menschen Unverständnis gegenüber den radikalen Methoden der Protestierenden: Der Streik sei vielleicht gerechtfertigt; die Blockierungen der Straßen - die entstandenen Produktionsverluste wurden zwischendurch auf 200 Millionen Pesos geschätzt, umgerechnet rund 6,3 Millionen Euro – gingen aber auf Kosten der restlichen Bevölkerung. „Mit einem friedlichen Streik haben sie es ja versucht, außerdem wird ihnen doch nicht einmal jetzt zugehört“, entgegnet mein Gastvater, der Arzt des städtischen Krankenhauses ist.

Eine unverhältnismäßige Verteilung von Macht und Besitz

Ich bin einige Kilometer außerhalb von Sogamoso in einer wohlhabenderen Siedlung untergebracht und fand es unwirklich, die ersten Tage das Haus nicht verlassen zu dürfen und auch bis jetzt nicht in die Stadt zu gelangen – dadurch habe ich statt der Proteste nur die wie ausgestorbene Landstraße gesehen. Abgesehen davon hat es mich vor allem überrascht, als sich der Paro derartig zugespitzt hat. Außerhalb von Südamerika halten sicher viele Menschen Kolumbien für ein gefährliches Land, das durch die Guerrilla, Drogen und Kriminalität geprägt ist. Meinen Alltag hier erlebe ich allerdings mindestens so friedlich wie in Deutschland – und auch den Paro habe ich nicht als bedrohlich empfunden. Er hat mich aber daran erinnert, wie sehr die Bevölkerung in Kolumbien trotz alltäglicher „Normalität“ unter der unverhältnismäßigen Verteilung von Macht und Besitz leidet – denn für diese Tatsache ist die Lage der Camioneros nur ein Beispiel von vielen. Wenn ich meine Gasteltern dann  frage, warum die Kolumbianer diese offensichtlichen Ungerechtigkeiten schon so lange ertragen haben, komme ich mir naiv vor. Denn sofort wird mir erklärt: Es kann sich ja noch nicht einmal eine in Frage kommende Opposition entwickeln, solange die Medien und  sozialen Netzwerke überwacht werden und man weniger gebildete Wähler auf dem Land mit gönnerhaften Taten erkaufen kann: So bleiben Einfluss und Geld seit Jahrzehnten fest in der Hand der gleichen Familien.

Und dann meldet sich der Teil von mir, der sich weigert wütend zu werden, weil er weiß, dass jeder Mensch in dem Glauben handelt, das Richtige zu tun. Wie rechtfertigen Santos und Co. ihren Profit auf Kosten der eigenen Bevölkerung vor sich? Darauf finde ich keine Antwort. Trotzdem hoffe ich, dass Kolumbien durch Ereignisse wie den Paro wachgerüttelt wird und sich die vielfältigen Mentalitäten der unterschiedlichen Regionen und Bevölkerungsschichten zusammen schließen, um gemeinsam die Ungleichheiten in diesem Land abzubauen.

Pauline berichtet über ihre Zeit in Kolumbien in ihrem Blog