Kleinstädte als Orte der Demokratiebildung

Vortrag „Kleinstädte als Orte der Demokratiebildung“ von Dr. Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Gehalten am 21. Januar 2022 auf dem Bundestagung „Kleinstädte in Deutschland“.

Bundestagung „Kleinstädte in Deutschland“, 21. Januar 2022

Vortrag „Kleinstädte als Orte der Demokratiebildung“

Von Dr. Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden

 

„In der Hierarchie von Bund, Land und Gemeinde steht, so sagt man gerne, die Gemeinde unten. In der Tat steht sie unten; aber so wie das Fundament unten steht, auf dem die Pfosten errichtet werden. Sie ist das Fundament des Staates. Und wenn dieses Fundament morsch wird, dann kann man oben versuchen, was man will – das Gebäude wird nicht halten. Die Gemeinde ist eben nicht nur eine Gebietskörperschaft, die ein bisschen kleiner ist als das Land oder gar der Bund – die Gemeinde hat eine besondere, humane Funktion. Sie ist der Ort, in dem wir das besorgen, was wir ‚Leben’ nennen, wo wir all dem begegnen, was das persönliche Leben möglich macht und ausmacht. Sie lässt uns zunächst auf den Mitmenschen zugehen. Mitmenschlichkeit bezeichnet ein Verhalten, das in keinem eine so unmittelbare Bedeutung hat wie im Raum der Gemeinde. Wenn ich mir selber vereinfachend vorstellen will, was Demokratie eigentlich ist, so finde ich darin in erster Linie ein Ja zur Mitmenschlichkeit, zu einer Mitmenschlichkeit, die sich des eigenen Wertes bewusst ist und die deswegen auch dem anderen den Wert einräumt […].“[1] Die Gemeinde sei deshalb „der Ort des Miteinander-Gehens und nicht des In-Reih-und-Glied-Stehens.“ So beschrieb der große Rechtsgelehrte, sozialdemokratische Politiker und einer der Väter des Grundgesetzes Carlo Schmid 1970 „Die Demokratie als Lebensform“.

Auch wenn Schmids Ausführungen mehr als 51 Jahre alt sind und in ihrem Duktus vielleicht nicht mehr ganz der Begrifflichkeit unserer Tage entsprechen, sind seine Inhalte aktueller denn je: „Das Miteinandergehen“, die besondere Nähe des Menschen zur Gemeinde, die Potenziale der Mitmenschlichkeit – das alles spricht dafür, kommunen einen höheren Platz auf der politischen Agenda einzuräumen. Und es spricht auch dafür, dass eine besondere Form der Kommunen, nämlich die Kleinstädte, gute Orte des Demokratielernen bzw. der Demokratiebildung sind.

Warum ist das so? Was ist eigentlich mit Demokratiebildung gemeint – und warum ist Demokratie ein Bildungsgegenstand?

Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass Demokratie gelernt werden muss, um gelebt werden zu können, wie es der Gießener Politikdidaktiker Kurt Gerhard Fischer einmal gesagt hat.

Jede Generation aufs Neue, auch jeder Mensch und jede Gruppe im Verlauf ihrer je eigenen Geschichte kommen in einer offenen Gesellschaft nicht darum herum, sich mit den Grundwerten, dem System, den Mechanismen und den Herausforderungen des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens auseinanderzusetzen. Demokratie scheint zwar intuitiv verstehbar und umsetzbar zu sein. Sie muss trotzdem immer wieder eingeübt werden – und sei es durch „trial and error“, also durch ein Ausprobieren, Testen, ein Verwerfen und ein Behalten.

Unter demokratischer oder politischer Bildung versteh ich einen lebenslangen Lernprozess – oder man könnte auch sagen einen lebensbegleitenden Lernprozess.

Dieser Prozess vermittelt Wissen und das Verstehen politischer Sachverhalte vermittelt, er will ein demokratisches Bewusstsein bzw. eine freiheitlich-demokratische, rechtsstaatliche Werteorientierung bestärken, handlungsorientiert die politische Urteils- und Artikulationsfähigkeit auszubilden verhelfen, die in der sachlich-kritischen Einschätzung und Auseinandersetzung mit mal einfachen, mal komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen besteht, und schließlich in politische Kompetenzen münden soll, die vom sicheren Umgang mit Behörden und Rechtsnormen, über Konfliktfähigkeit und Ambiguitätstoleranz, soziale Verantwortungsübernahme bis hin zu politischem Engagement oder gesellschaftlich-aktiver Intervention reichen.

Dies alles geschieht, um die Mitglieder unseres Gemeinwesens, seien es deutsche Bürger oder zugezogene Einwohner, zu einer aktiven Teilnahme an unserer Gesellschaft, also zur Partizipation zu motivieren und zu befähigen.

Damit sind die Aufgaben der politischen Bildung bzw. der Demokratiebildung klar umrissen.

Als nächstes stellt sich nun die Frage, was mit Demokratie gemeint ist. Die Antwort erscheint einfach zu sein, doch die Debatten der letzten Jahre über Defizite der Demokratie, gespaltene, unter Druck geratene, gefährdete oder beschädigte Demokratien, postdemokratische Entscheidungsfindungen bis hin zu zweifelhaften Modellen einer autoritären oder gelenkten Demokratie zeigen, dass auch hier die Sachlage keineswegs einfach ist.

Für unsere Fragestellung erscheint es ratsam, auf ein Modell des Demokratiepädagogen Gerhard Himmelmann Bezug zu nehmen, dass sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat.[2] Er rät dazu, drei Dimensionen von Demokratie zu unterscheiden, in denen Bürgerinnen und Bürger ihr begegnen und sie sich aneignen.

Die Rede ist von:

Der Demokratie als Herrschaftsform,

der Demokratie als Gesellschaftsform und

der Demokratie als Lebensform.

Die Demokratie als Herrschaftsform bezieht sich auf Rechtsstaat und Volkssouveränität, auf die Gewaltenteilung, Föderalismus etc. Demokratiebildung heißt hier, das politische System in allen seinen Facetten genauer zu verstehen.

Wenn Sie mir den aktuellen Exkurs erlauben: In der pandemischen Situation unserer Tage mit erheblichen Eingriffen des Staates in die persönlichen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zeiget sich Demokratie vor allem als Herrschaftsform. Es ist deshalb gegenwärtig auch eine Aufgabe der politischen Bildung, von Politik und Verwaltung, der Medien auf diese konstitutive Dimension von Demokratie hinzuweisen und immer wieder zu betonen, dass exekutives Handeln in einem demokratischen Rechtsstaat gerichtlich überprüft werden kann und gerichtlich überprüft wird. Das schließt keineswegs den kritischen Umgang mit den pandemiebedingten politischen Maßnahmen aus, unterscheidet aber zwischen Einzelfragen und den Funktionsweisen des demokratischen Systems per se.

Demokratie als Herrschaftsform wird ergänzt, aber eben auch nicht ersetzt, durch Demokratie als Gesellschaftsform. Unter diesem Stichwort verlaufen seit mehr als fünf Jahrzehnten all die Debatten, die auf eine Demokratisierung und Pluralisierung der Gesellschaft abzielen. Die Demokratie lebt von ethischen, gesellschaftlich verhandelten Voraussetzungen und Konsensbildungen, die voraussetzungsvoll sind und immer wieder definiert, errungen, begründet, gelebt werden müssen. Demokratie als Gesellschaftsform behandelt das weite Feld des religiösen, kulturellen, ethnischen Pluralismus, funktionierende Mechanismen der Konfliktregelung, die freien Medien und die öffentliche Meinungsbildung, aber auch die Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft mitsamt des in Deutschland bewährten und geradezu demokratietheoretisch paradigmatischen Systems der Sozialpartnerschaft, der betrieblichen Mitbestimmung, der Kampfparität in Arbeitskämpfen bis zur paritätischen Besetzung von Arbeits- und Sozialgerichten.

Wenn Sie mir erneut einen Exkurs zur pandemischen Situation gestatten: Auch wenn die Corona-Schutzverordnungen etwa mit Blick auf das Demonstrationsrecht, die Einschränkungen für Kultur und für die Erwachsenbildung, für Freizeitaktivitäten etc. auch die Demokratie als Gesellschaftsform einschränkten, so zeigen die Sonderregeln für die Religionsgemeinschaften, das Aufblühen von Online-Debatten, die im gerade ersten Pandemiejahr anwachsenden Klickzahlen der Newsportals von Zeitungen und öffentlichen Rundfunkanstalten, die gelebte Praxis der betrieblichen Mitbestimmung, dass im Kern die Demokratie als Gesellschaftsform intakt ist. Dass sie leidet, steht auf einem anderen Blatt – und soll nicht kleingeredet werden.

Bliebe die letzte, dritte Dimension: Die Demokratie als Lebensform, ein Begriff, den wir dem großen amerikanischen Pädagogen John Dewey[3] verdanken und der für die Re-Education in Deutschland nach 1945 von grundlegender Bedeutung war. Demokratie als Lebensform ist das bunte Feld all dessen, was wir leichthin auch Bürgertugenden nennen können, all das, was unsere Demokratie im Großen und im Kleinen lebenswert macht – und was deshalb als Aufgabe eines lebenslangen Lernens innerhalb und außerhalb von Bildungseinrichtungen uns allen aufgegeben ist: Die Rede ist von Zivilität, Fairness, Toleranz, Respekt vor dem Mitmenschen und vor der Vielfalt der Lebensstile, dem Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität.

Hier ist der Blick auf unsere Erfahrungen in Corona-Zeiten zumindest gespalten: Während viele Menschen sich für ältere und schwächere Mitglieder unserer Gesellschaft einsetzen, sich an die staatlichen Regeln und die ungeschriebenen Codes des Zusammenlebens halten, um in Solidarität eine große gesellschaftliche Krise zu überwinden, verlieren andere den guten Ton und den Gemeinsinn, scheinen Zivilität und Solidarität auf der Strecke zu bleiben. Und das in allen Teilen des Landes und quer durch die gesellschaftlichen Schichten. Dazu später mehr.

Was bedeuten diese dreifache Definition von Demokratie für das gemeinsame Nachdenken über Kleinstädte als Orte der Demokratiebildung?

Auf den ersten Blick zunächst nicht viel mehr als das, was sie auch für Großstädte und Mittelzentren bedeuten würde. Denn in einer rechtsstaatlichen Demokratie funktioniert das Gemeinwesen im Kern überall identisch. In jeder Kommune sollten die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform erleben und selber praktizieren.

Allerdings besitzen Kleinstädte für die Demokratiebildung eine besondere Chance – und dies aus zwei Gründen:

Erstens sind sie die 2100 deutschen Kleinstädte rein formal quantitativ betrachtet die Heimat von etwas weniger als einem Drittel der deutschen Bevölkerung. Sie sind also rein faktisch eine echte Größenordnung für die Praxis der Demokratie und das Lernfeld der Demokratiebildung. Würde Demokratie dort nicht gelernt werden, hätte unsere Gesellschaft ein großes Problem.

Zweitens sind Kleinstädte Kommunen eigener Art, die nicht durch Vergleiche mit Großstädten defizitär zu klassifizieren sind. Wir alle wissen, dass es auch nicht den einen Kleinstadttypus gibt, sondern solche im ländlichen Raum, solche am Rande von Metropolen. Es gibt wachsende und schrumpfende, lebendige und träge, überalterte und sich verjüngende Kommunen. Und doch ist ihnen eins gemeinsam: Sie sind eben kleine Städte mit 5.000 bis 20.000 Einwohner, übernehmen soziale und infrastrukturelle Dienstleistungen. Sie ermöglichen mehr Nähe, mehr soziale Interaktion, die in Sozialkontrolle ausarten, aber auch unkompliziertes, gemeinschaftliches Anpacken ermöglicht. Insofern sind Kleinstädte, um Carlo Schmid nochmals zu zitieren, paradigmatisch: Orte des Miteinandergehens und nicht des in Reihe-und-Glied-Stehens. Kleinstädte leben in der Regel von der höheren Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen. Man kennt sich, man schätzt sich – oder auch nicht. Konflikt und Nähe sind direkter spürbar als in anonymeren Großstädten, die mehr Ausweichmöglichkeiten bieten. Sozialer Zusammenhalt ist aber auch in Kleinstädten kein Selbstläufer, sondern muss gepflegt werden.

Kleinstädte haben drittens die Chance, die für die Demokratie und ebenso für die Demokratiebildung notwendigen Aushandelsprozesse über gesellschaftliche Veränderungen sehr bürgernah, sehr transparent und dialogisch zu gestalten. Das bedeutet aber auch, dass Kommunalpolitik, Verwaltung und auch die Stadtgesellschaft das wollen und können.

Ich kenne Kleinstädte, die diesen Weg bewusst gehen, also die Bürgerinnen und Bürger bei schwierigen Entscheidungen integrieren, mitnehmen, auf die Ideen der Bürgerschaft rekurrieren, das Ehrenamt ernst nehmen. Ich kenne aber auch Kleinstädte, in denen der Bürgermeister die Spitzen der Stadtverwaltung zielgerichtet in allen großen Vereinen platziert, um diese nach seiner Vorstellung steuern oder zumindest mitsteuern zu können, was im Zweifel Kreativität und Veränderungsbereitschaft behindert. Ich kenne Kleinstädte, die auf eine neue Kooperationskultur zwischen Politik, Verwaltung, Bürger setzen – und gerade im demographischen Wandel und bei Schrumpfung die Kräfte und Ideen bündeln wollen – und ich kenne Kleinstädte, die resigniert haben.

Jede Stadt muß ihren eigenen Weg finden mit den Menschen, die vorhanden sind. Eine neue Kooperationskultur ist in Kleinstädten aber deshalb von Nöten, weil Kleinstädte oftmals begrenztere Finanz- und Personalressourcen haben – sowohl in der Verwaltung als auch in der Bürgerschaft. Zwar kann die öffentliche Verwaltung in Kleinstädten ihre Steuerungsverantwortung für komplexere Prozesse in der Regel schlechter abgeben als in anderen kommunalen Zusammenhängen, weil sie sonst die zahlenmäßig überschaubare Bürgerschaft zu schnell überfordert. Stellen sich Verwaltungen modern auf, ist es aber auch in Kleinstädten möglich, schneller Entscheidungen auf den Weg zu bringen und innovativ mit der Bürgerschaft zu agieren.

Lassen Sie mich diese Ausführungen zu den Kleinstädten nun nochmal mit den drei Dimensionen der Demokratie in Verbindung bringen:

Kleinstädte bieten die Chance, Demokratie als Herrschaftsform zu erlernen am Beispiel einer gut funktionierenden und diskussionsoffenen Kommunalpolitik, die ihre Entscheidungen bürgernah diskutiert und transparent kommuniziert. Stadtratssitzungen, Bürgerversammlungen, Bürgerhaushalte, aber auch Amtsgerichte und in Corona-Zeiten gut funktionierende Gesundheitsämter und Krankenhäuser, dass die Demokratie vor Ort funktioniert, die Verwaltung handlungsfähig ist. Werden Amtsgerichte und Krankenhäuser geschlossen oder verlegt, gehen diese Einrichtungen auch als Lernorte der Demokratie verloren.

Gerade die Demokratie als Gesellschaftsform ist in Kleinstädten gut erlebbar. Ich denke an eine Lokalpresse, die bei aller Nähe zu lokalen Entscheidungsträgern, tunlichst ihre kritische Distanz und Unabhängigkeit zu wahren hat. Guter Lokaljournalismus gehört zu den Fundamenten der Demokratie als Gesellschaftsform. Dies gilt ebenso für ein aktives Vereinswesen, die lokale Parteienlandschaft samt Vorfeldorganisationen, die Wohlfahrtsverbände und gesellschaftspolitisch sensible Religionsgemeinschaften. Kleinstädte besitzen zudem – gerade auf dem Felde des bürgerschaftlichen Engagements – die große Chance, marginalisierten Gruppen schneller als in anderen Kommunen eine Stimme zu geben, sie gut zu integrieren, wenn es gesellschaftlich anerkannte Persönlichkeiten gibt, die einen solchen Prozess befördern. Gelingt dies nicht, kann Ausgrenzung in Kleinstädten aber auch direkter spürbar sein als anderswo.

Demokratie als Gesellschaftsform braucht aber auch Orte des Dialogs und des Austauschs. Lassen Sie mich deshalb auch einen kritischen Punkt an dieser Stelle deutlich ansprechen: Ich beobachte mit Sorge, dass soziale und kulturelle Orte in Kleinstädten, aber auch in Mittelstädten, mitunter geschlossen oder deren Budgets gekürzt werden. Damit meine ich nicht die Kneipe, die auch ein sozialer Ort ist, die schließt, weil das Feierabendbier beim Fussball-Verein billiger zu haben ist. Ich denke vielmehr an Bildungsstätten, Volkshochschulen, Jugend- und Kulturzentren, sozio-kulturelle Einrichtungen, deren mittelfristige Ausstattung oft prekär ist. In manchen kleineren und mittleren Städten sind die Stadtbibliotheken die letzten „kulturelle Ort“. In manchen Städten sind die Bibliotheken schöne, zentral gelegene Orte der Begegnung, in anderen Städten fristen sie ein Schattendasein. Ich beobachte aus der Kooperationserfahrung unserer Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung heraus, wie schwer sich Volkshochschulen und Stadtbibliotheken mit politischen Kontroversen tun, wie lang der Weg ist, sie als „sogenannte dritte Orte“ der gesellschaftlichen Begegnung zu etablieren. Diese Orte der Begegnung sind aber von existentieller Bedeutung für die Aushandelsprozesse unserer Gesellschaft, für Dialog, Kritik, für neue Ideen, für kontroversen. Sie sind Orte, in den politische Urteilsfähigkeit und politische Handlungskompetenzen eingeübt werden. Sie sind notwendig für unsere Gesellschaft, die zunehmend durch Individualisierung, durch das Ende der großen Erzählungen, die abnehmende Prägekraft der Großinstitutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, Parteien gekennzeichnet ist.

Was die Demokratie als Lebensform angeht, so kann ich mir keinen besseren demokratischen Lernort als eine Kleinstadt vorstellen, die allerdings durch Weltoffenheit und Toleranz geprägt ist. Beginnend in den Familien, weiterführend in den Schulen, im bereits beschriebenen Geflecht an Vereinen, Kirchen, Verbänden haben Jung und Alt die große Chance die demokratischen Tugenden der Zivilität, der Solidarität und der Kompromissfähigkeit einzuüben. Zeigt sich allerdings eine Kleinstadt auf diesem Gebiet als verbohrt und verschlossen hat, wird der Lerneffekt auf dem Gebiet der Demokratie als Lebensform dazu führen, dass sich junge Leute spätestens mit Studium und Ausbildung umorientieren und wegziehen. Für viele ist eine Umorientierung in einer bestimmten Lebensphase normal. Weltoffenheit kann jedoch ein Standortvorteil für Kleinstädte sein.

Gestatten Sie mir zum Schluss einen Ausblick auf die aktuelle politische Situation. Die Unterscheidung von Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform ist zunächst formaler Natur und kann in einer offenen Gesellschaft folglich ergebnisoffenen ausgelegt werden. Dies zeigt sich augenblicklich an den bundesweit zu beobachtenden Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen. Demonstrationen und Protest gehören zur öffentlichen Meinungsbildung, also in den Bereich der Demokratie als Gesellschaftsform. Die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit gehört zu den demokratischen Grundrechten.

Zweifelsfrei sind eine Reihe von demokratischen Grundrechten seit Pandemiebeginn stark eingeschränkt, etwa das Demonstrationsrecht durch die Begrenzung der Kopfzahl der Demonstrationsteilnehmer. Über all diese Fragen kann man trefflich streiten. Es ist allerdings hochgradig problematisch, wenn das eingeschränkte Demonstrationsrecht, das sich ja mit der formalen Anmeldung von Demonstrationen verbindet und damit rechtsstaatlichen Verfahren unterworden ist, durch die Gattung der unangemeldeten Spaziergänge umgangen wird. Denn: Demokratie lebt von der Beachtung der „Spielregeln“.

Leider ist der „politische Spaziergang“ ein sächsisches Exportprodukt, das Pegida in Anlehnung und Pervertierung der die Montagsdemonstrationen 1989/90 zunächst entwickelt hat – und das sich nun als erneuter Protest gegen die staatliche Pandemiebekämpfung richtet. Ich will nicht vorschnell über die Teilnehmenden der Anti-Corona-Demonstrationen urteilen, die sich aus unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung zusammensetzen und mit unterschiedlichen Motiven auf die Straße gehen. Allerdings ist, zumindest in den neuen Bundesländern, zu beobachten, dass Rechtsextremisten mittlerweile diese Demonstrationen zu instrumentalisieren versuchen.

Zivilität, Diskursbereitschaft, Solidaritätsbewusstsein und Kompromissfähigkeit im Sinne der Demokratie als Lebensform scheinen gegenwärtig etwas unter die Räder zu kommen. Das gilt nicht nur für die Groß- und Mittelstädte, in denen das Protestgeschehen zunächst begann, sondern mittlerweile auch für kleinere Kommunen. Die Organisatoren maßnahmenkritischer Proteste wählen nämlich seit einigen Wochen eine neue Strategie und zielen auf Kleinstädte ab. Sie wollen damit zeigen, dass sie regional breit aufgestellt sind, erproben neue Mobilisierungsformen, fordern Kleinstädte heraus, deren Bürgerschaft möglicherweise auf diesen Protest noch nicht vorbereitet ist. Auch Ordnungsbehörden und Polizei werden in den kommenden Wochen großen Belastungen ausgesetzt sein.

Licht am Horizont ist eine mündige Bürgergesellschaft, ich denke an mittelgroße Städte in Sachsen wie Freiberg und Bautzen, wo sich regelkonform Gegenprotest gegen die Anti-Maßnahmen-Demos formiert – und beispielsweise Internetpetitionen für Solidarität und Vernunft fünf- bis sechsstellige Klickzahlen erzielen. Es geht also.

Die Kleinstädte werden in nächsten Wochen und Monaten sehr stark herausgefordert werden, die Demokratie als kultvierte, zivilisierende Gesellschafts- und als Lebensform zu leben, zu pflegen, zu schützen. Kleinstädte können nicht die politischen Kommunikations- und Entscheidungsprobleme der Bundes- und Landesebene beheben.

Sie besitzen aber auch bei dem emotional mittlerweile sehr aufgeladenen Corona-Thema die Chance, den Dialog nicht abreißen zu lassen, sondern ihn bürgernah zu führen, miteinander trotz unterschiedlicher Meinungen im Gespräch zu bleiben – und hoffentlich pragmatische Lösungen zu finden.

Ich wünsche den deutschen Kleinstädten, dass sie trotz der stürmischen pandemischen Zeiten auf Kurs bleiben: als Orte der lebendigen Demokratie, der Demokratiebildung und des Dialogs über schwierige gesellschaftliche Fragen.

 

[1] Vgl. Schmid, Die Demokratie als Lebensform, Mannheimer Hefte 1/1970, S. 8 ff. (12).

[2] Vgl. Gerhard Himmelmann, Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch, 4. Auflage, Schwalbach 2016.

[3] Vgl. John Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Breslau 1930; Neudruck: Weinheim 2000 sowie ders. Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim 2001 sowie zu Re-Education: Walter Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989, Opladen 1994.