“Keine Bevölkerung eines Bundeslandes ist immun gegen Rechtsextremismus”

Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler PD Dr. Steffen Kailitz über das von ihm herausgegebene Buch "Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Sachsen". 

Herr Dr. Kailitz, hat Sachsen ein Problem mit dem Rechtsextremismus?

Wenn wir uns die Entwicklungen seit 1990 anschauen, müssen wir sagen: Ja, Sachsen hat ganz klar ein Problem mit Rechtsextremismus. Ich nenne hier beispielhaft das Stichwort der Ausschreitungen in Hoyerswerda, die mit den Auftakt bildeten zu einer ganzen Welle fremdenfeindlicher Gewalt in den 1990er Jahren. Wir haben später den zweimaligen Einzug der NPD in den sächsischen Landtag, einer Partei mit nationalsozialistischer Ideologie und wir haben die Pegida-Demonstration und die AfD-Erfolge. Sachsen hat nicht nur mit Blick auf den engen Bereich des Rechtsextremismus ein Problem, sondern darüber hinaus auch mit dem radikalen Rechtspopulismus, der in der Verortung schwieriger, weniger eindeutig ist. Aber Sachsen steht natürlich nicht allein mit diesen Problemen. 

Inwiefern ordnen Sie Pegida in dieses Spektrum ein?

Bei den Pegida-Demonstranten haben wir eine ungewöhnlich starke Mobilisierungskraft extrem rechter Parolen in die bürgerliche Gesellschaft hinein in Sachsen beobachten müssen, die in vieler Hinsicht als Dammbruch interpretiert wurde. Die fremdenfeindliche und insbesondere atimuslimische Stoßrichtung war dabei von Anfang an klar. Sie zeigte sich schon im Titel: Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes. Von diesen Protesten mit stark antimuslimischer Ausrichtung konnte dann auch die AfD in Sachsen und darüber hinaus sehr stark profitieren.

Wenn Sie sagen, Sachsen ist nicht das einzige Bundesland, dass ein Problem mit radikal rechtem Populismus und Rechtsextremismus hat, beziehen sie sich dann auf alle ostdeutschen Länder oder gibt es andere Unterscheidungen?

Wenn wir uns bundesweit die Entwicklung anschauen, gibt es tatsächlich ein sehr deutliches Ost-West-Gefälle. Rechtsextreme Inhalte mobilisieren im Osten eine deutlich größere Gefolgschaft, insbesondere auf der Straße, aber seit etwa 1998 auch bei Wahlen. Das umfasst auch den sehr problematischen Bereich der Gewalttaten. Die ostdeutschen Bundesländer nehmen bei den rechtsextremistischen Gewalttaten je 100.000 Einwohnern regelmäßig unrühmliche Spitzenpositionen ein. Was ich hier sage, bedeutet aber eben nicht im Umkehrschluss, dass die westdeutschen Bundesländer kein Problem mit Rechtsextremismus und dem radikalen Rechtspopulismus haben. Die Problematik hat in den letzten 20 Jahren überall in Deutschland zugenommen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland liegen auch nicht in den Einstellungen zum historischen Nationalsozialismus oder im Bereich des Antisemitismus, sondern sie sind relativ klar zu verorten bei den antimuslimischen Einstellungen. Diese sind in Ostdeutschland deutlich ausgeprägter als in Westdeutschland. Insofern ist es kein Zufall, dass Pegida im Osten Deutschlands und auch gerade in Sachsen entstanden ist.

Was macht Sachsen zu einem fruchtbaren Boden für den Rechtsextremismus?

Der Hintergrund für eine größere Verbreitung antimuslimischer Einstellungen scheint mir unter anderem auf eine unterschiedliche Zuwanderungsgeschichte zurückzuführen zu sein. Wir haben im Westen Deutschlands über sehr lange Zeit eine langsame Gewöhnung an muslimische Zuwanderung gehabt. Die  Zuwanderung aus der Türkei wurde lange nicht primär als muslimische Zuwanderung angesehen. Es waren wie etwa Italiener auch Gastarbeiter, deren Religion nicht im Vordergrund stand. Innerhalb der DDR hatten wir im Grunde sehr wenig Zuwanderung. Die Gruppen, die zugewandert waren, lebten sehr isoliert mit wenig Kontakt zur Bevölkerung. Die Unterschiede Sachsen zu Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sind deswegen auch gradueller Natur. Es trifft allerdings zu, dass es ein Problem darstellte, dass unter Ministerpräsident Biedenkopf die Problematik des Rechtsextremismus geleugnet wurde mit der Aussage, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus. Nicht nur in Sachsen ist das eine völlig unsinnige Behauptung. Keine Bevölkerung eines Bundeslandes ist immun gegen Rechtsextremismus. Insofern wurde das Problem nur weg definiert unter dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Probleme müssen aber angegangen und nicht ausgeblendet werden. Diese Aussage dürfte dazu beigetragen haben, dass in Sachsen die Abgrenzung gegenüber rechtsextremistischem Gedankengut schwächer ausgeprägt ist als in anderen Bundesländern.

Hat diese erschwerte Abgrenzung dazu geführt, dass es auch immer den Reflex gibt, zu sagen, ja aber es gibt ja auch Linksextremismus?

Es ist immer falsch, wenn über ein Problem geredet wird, zu sagen, es gibt auch noch andere Probleme. Das heißt auf keinen Fall, dass wir nicht über Linksextremismus diskutieren müssen. Nur müssen wir nicht gleichzeitig über Linksextremismus diskutieren, wenn Rechtsextremismus das Thema ist. Es sind zwei getrennt voneinander zu betrachtende Probleme. Das Problem des Rechtsextremismus ist in Sachsen dabei derzeit dringlicher. Der Verweis auf Linksextremismus wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Ablenkung, die zu einer vermeidbaren Polarisierung in der Diskussion führt, die nur vom eigentlichen Problem ablenkt.

An wen wendet sich das Buch? 

Das Buch wendet sich an alle, die sich mit dem Problem des Rechtsextremismus und des radikalen Rechtspopulismus in Sachsen auseinandersetzen wollen. Es ist dabei deutlich über den engeren Bereich der Forschungsgemeinschaft hinaus gerichtet und soll in die Bevölkerung hinein wirken und Ergebnisse der Forschung auf allgemeinverständliche Weise zugänglich machen.

Titelgebendes Thema ist der Rechtsextremismus - ist nicht Rassismus das zugrunde liegende Problem? Damit gemeint ist nicht nur laut skandierte Fremdenfeindlichkeit, sondern Alltagsrassismus, tradierte und nie hinterfragte Vorurteile, die sich in der breiten Bevölkerung halten.

Der Begriff des politischen Extremismus meint übergreifend die Ablehnung der liberalen Demokratie. Man kann Rechtsextremismus aber durchaus im Sinne Ihrer Frage interpretieren. Nativismus ist jedenfalls eine Gemeinsamkeit von radikalem Rechtspopulismus und Rechtsextremismus: Zuwanderung wird abgelehnt vor dem Hintergrund, dass man die deutsche Gesellschaft als kulturelle oder sogar ethnische Einheit interpretiert, zu der Menschen mit Zuwanderungshintergrund nicht gehören. Entsprechend führt Zuwanderung aus dieser Perspektive zum Untergang des eigenen Volkes, zum sogenannten Volkstod. Das ist der ideologische Kern des Rechtsextremismus. Wenn eine Partei eine rassistische Programmatik vertritt, dann ist sie rechtsextremistisch. Das Bundesverfassungsgericht hat dies 2017 in seinem Urteil zur NPD sehr deutlich gemacht. Wenn Rechtsextremisten vom Volk sprechen, dann schließen sie eben gedanklich alle aus, die einen Migrationshintergrund haben und das ist mit der Demokratie nicht vereinbar. Bei der NPD und anderen rechtsextremistischen Parteien richtet sich die Ideologie daher klar gegen die Menschenrechte, gegen die Gleichheit aller. Die NPD ist dabei eine rechtsextreme Partei mit nationalsozialistischer Ausrichtung in den historischen Fußstapfen des Nationalsozialismus. Sie wurde nur nicht verboten, weil sie zu unbedeutend ist.  

Wo liegen die Unterschiede zwischen Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus?

In der Diskussion um die Phänomene gehen diese Begriffe zum Teil sehr durcheinander. Sie müssen aber ins Verhältnis zueinander gesetzt werden und klar voneinander abgegrenzt. Gerade der Begriff Rechtspopulismus wird inflationär und häufig sehr unpräzise benutzt. Er dient in den Medien häufig dazu, den Graubereich zwischen demokratischen und extremistischen Organisationen oder Bewegungen zu benennen. Im wissenschaftlichen Bereich gibt es zum Thema Rechtspopulismus unterschiedliche Zugänge. Wenn wir dort von Rechtspopulismus als „dünner Ideologie“ sprechen, geht es darum, dass ein starker Unterschied aufgebaut wird zwischen Volk und Eliten, dem Fremden und dem Eigenen. Er ist Kommunikationsmittel, politischer Stil. Die Adressierung des Graubereichs zwischen Demokratie und Extremismus, was wir häufig in der Diskussion um Pegida und AfD finden, ist in der wissenschaftlichen Diskussion enger gefasst. Populismus kann man als eine Art Rechtsextremismus light interpretieren. Er geht in die gleiche Richtung, die Merkmale sind jedoch nicht so stark ausgeprägt.

Sie skizzieren in dem Buch eine Extremismus-Skala...

Die unteren Stufen dieser Skala können wir auch als radikal rechtspopulistisch definieren. Die höheren lassen sich nicht mehr unter Radikalismus fassen. Die sind weit außerhalb eines Graubereichs. Wenn es beispielsweise um Gewalttaten geht oder wenn eine nationalsozialistische Ideologie vertreten wird, dann liegt das eindeutig im Bereich des Rechtsextremismus und kann nicht mehr mit radikal rechtspopulistisch umschrieben werden.

Können Sie Beispiele nennen? 

Beispiele für einen radikalen Rechtspopulismus wären etwa Pegida und der Mainstream der AfD, während der Flügel um Björn Höcke und um Alexander Gauland als rechtsextremistisch einzustufen ist. Aus diesem Grund wurde der Flügel vom Bundesverfassungsschutz entsprechend eingestuft. Formal hat er sich aufgelöst, die Personen und Netzwerke sind aber weiterhin aktiv. Es ist entscheidend, inwiefern dieses Geflecht die gesamte Partei inzwischen so durchdrungen hat, dass die komplette Partei als rechtsextremistisch einzustufen ist. Ich und auch der Bundesverfassungsschutz und viele andere Forscher gehen inzwischen davon aus, dass die AfD als klar rechtsextremistisch einzustufen ist.

Ob Zuwanderung oder Corona-Pandemie – in Sachsen scheinen rechtsradikale Bewegungen sehr schnell Zulauf zu finden. Woran liegt das?

Die Frage ist, ob ob hier nicht einfach eine gewisse Kontinuität besteht und nur die Mobilisierungsthemen wechseln. Meine durch Beobachtungen gestützte These ist, dass wir etwa bei den Corona-Demonstrationen Personen begegnen, die wir zuvor schon bei Pegida oder beim von von AfD, Pegida und Pro Chemnitz organisierten "Trauermarsch" in Chemnitz gesehen haben. Hinzu kommen dann wechselnde andere Personengruppen. Dabei besteht ein hohes Mobilisierungspotenzial in die Teile der  bürgerlichen Mitte hinein, die mit rechtsextremen Gedankengut sympathisieren, sich aber in den westlichen Bundesländern von solchen Demonstrationen fern halten.

Wie groß ist die Gefahr in Sachsen, dass der Einfluss derjenigen, die identitäre Politik propagieren, zunimmt?

Mit Blick auf Sachsen ist die Gefahr enorm groß. Auf den ersten Plätze der Wahlliste der sächsischen AfD für die Bundestagswahl stehen durchweg nur Rechtsextremisten. Und es hat in den Wahlumfragen keinen negativen Effekt auf die Umfrageergebnisse. Wir haben in Sachsen Wähleranteile von fast 30 Prozent, die einer Partei folgen, die in weiten  Teilen gar keinen Hehl mehr daraus macht, dass sie rechtsextremistisch ausgerichtet ist. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Jens Maier hat bei der Nominierung sogar unterstellt, dass es geradezu ein Abzeichen ist, wenn man in diesen Staat als Rechtsextremist bezeichnet wird. Diese Einstellung hat leider in Sachsen eine ungewöhnlich hohe und bedenkliche Verbreitung. Und hier hat die demokratische Mehrheit viel zu tun, um das wieder einzufangen.

Was kann ich denn tun, wenn das schon so weit in der Gesellschaft verbreitet ist, dass Rechtsextremismus eine akzeptierte Einstellung ist?

Fremdenfeindliche, rassistische Haltungen können keine Normalität in einer demokratischen Gesellschaft sein. Wir müssen auch im privaten Bereich widersprechen, selbst wenn es bequemer ist, den Mund zu halten und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Die Corona-Proteste beispielsweise sind eine sehr lautstarke Minderheit und auch 30 Prozent für die AfD in Sachsen sind immer noch eine Minderheit. Das bedeutet, wir haben in Sachsen vor allem eine polarisierte Gesellschaft. Grundsätzlich gibt es noch immer deutlich mehr Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus und radikalen Rechtspopulismus positionieren. Trotzdem gelingt es dieser Minderheit immer wieder, die Agenda zu bestimmen und Diskussionen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Gegenpositionen müssen mindestens ebenso deutlich artikuliert werden, insbesondere dass etwa Menschenrechte niemals diskutabel ist. Es gibt zahllose Dinge, über die wir diskutieren können, die GEZ zum Beispiel. Aber der Kernbestand der Demokratie ist nicht verhandelbar. Menschen mit Migrationshintergrund sind genauso Staatsbürger und Teil des deutschen Volkes wie diejenigen, die keinen Migrationshintergrund haben oder auch das Recht auf Asyl.

Nazis rein oder Nazis raus? Was ist die richtige Strategie im Umgang mit Rechtsextremen?

Wir müssen hier unterscheiden. Ideologisch gefestigte Rechtsextremisten wie Björn Höcke werden wir nicht davon überzeugen, dass Menschenrechte toll sind und für alle gelten müssen. Ihnen sollten wir als Belohnung für ihre Provokationen nicht ohne Not ständig die große Bühne bieten. Ignoranz trifft sie am meisten. Wir sollten es Rechtsextremisten und radikalen Rechtspopulisten zudem auch nicht zu einfach machen, sich in eine Märtyrerrolle zu begeben. Das heißt, wir sollten keine Sonderregeln für Rechtsextremisten und radikale Rechtspopulisten einführen. Trotzdem sollten wir Regelwerke an manchen Stellen nachbessern, weil wir merken, dass Lücken ausgenutzt werden. Beispielsweise das Besuchsrecht im Bundestag, das ausgenutzt wurde von AfD-Abgeordneten, um Leute dort reinzubringen, die Abgeordnete auf den Fluren anpöbelten und beleidigten. Das reflexhafte Verweigern eines Handschlages wirkt eher peinlich. Pöbeleien gegenüber Rechtsextremisten oder Schlimmeres sind in einer Demokratie grundsätzlich zu unterbinden. Die Grundgepflogenheiten des zwischenmenschlichen Umgangs sind auch im Umgang mit Rechtsextremisten auf allen Ebenen zu wahren.

Steffen Kailitz ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Demokratieforschung, Extremismus- und Totalitarismusforschung, politische Kulturforschung, Wahlsystemforschung sowie Parteienforschung.

Das Buch "Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Sachsen" ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern im Netzwerk für Integrations-, Fremdenfeindlichkeits- und Rechtsextremismusforschung in Sachsen. Es entstand aus einem vom SMWK geförderten Forschungsprojekt zum demokratischen Zusammenhalt in Sachsen. Ab Juni 2021 können Sie das Buch entweder online in unserem Webshop bestellen oder persönlich abholen in unserer Publikationsausgabe.