„Die Fußball-WM in Katar ist das umstrittenste Sportereignis der Geschichte“

Aus Sportverbänden heißt es immer wieder, Sport sei unpolitisch. Doch kann das stimmen? Der Journalist Ronny Blaschke beschäftigt sich schon lange mit den Verbindungen von Sport und Politik, dazu berichtet er bei Veranstaltungen der Reihe „Kontrovers vor Ort“. Hier im Gespräch mit unserer Autorin Doreen Reinhard.

Im November beginnt die Fußball-WM in Katar. Es gibt schon lange Kritik. Ist sie in diesem Fall lauter, die WM politischer oder täuscht das?

Ich würde sagen, die Fußball-WM in Katar ist das umstrittenste Sportereignis der Geschichte. Wir müssen aber aufpassen, dass wir die WM in Katar aus den richtigen Gründen kritisieren. Wir sollten es nicht tun, weil die WM im Winter stattfindet, zumindest aus unserer Sicht. Es finden auch in anderen Ländern Sportereignisse statt, weil zu diesem Zeitpunkt dort eben Sommer ist. Auch nicht, weil man in Katar, einem islamischen Land, weniger Bier trinken kann. Richtig ist, zu kritisieren, dass in Katar viele Gastarbeiter unter schlimmen Bedingungen gearbeitet haben und gestorben sind. Dass Homosexuelle im Land mit Verfolgung rechnen müssen. Dass Frauen noch immer für viele Dinge die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen müssen. Das sind Dinge, die gehen einfach nicht als Ausrichter eines globalen Sportereignisses. Aber diese WM stößt auch wichtige Diskussionen an, so kann man es zumindest langfristig sehen.

Stattfinden wird die WM trotz aller Kritik. Haben Sie in den vergangenen Jahren damit gerechnet, dass es doch noch einen Rückzieher geben könnte?

Das war eine Phantomdebatte. Die WM wurde 2010 vergeben. Man hätte vielleicht in den ersten zwei, drei Jahren danach so einen Boykott durchdrücken müssen. Es war aber nie realistisch, dass die WM entzogen wird, weil die wirtschaftlichen Verflechtungen stark sind. Es ist auch eine naive Diskussion, weil wir Länder wie Katar und China, die weit von uns entfernt sind, benutzen, um Dinge zu kritisieren, mit dem auch wir etwas zu tun haben. Wir haben spätestens beim Besuch vom Wirtschaftsminister Robert Habeck in Doha gesehen, dass wir auf katarisches Flüssiggas angewiesen sind. Auch weit vor der WM haben deutsche Unternehmen in Katar beim Bau der Infrastruktur sehr gutes Geld verdient. Wir kritisieren die Winterolympiade in China, gleichzeitig ist China einer unserer größten Märkte, etwa für deutsche Autobauer. Und wir müssen auch im Kleinen auf uns schauen. Wir sind die Hauptabnehmer für das Produkt Sport, wir hängen mit drin. Wir kaufen Trikots, die in Pakistan oder Bangladesch für wenig Geld genäht werden. Der Blick muss verbreitert werden. Im Vereinsheim, in der Kneipe müssen auch solche Themen diskutiert werden.

Kann ein Boykott solcher Events eine Lösung sein?

Dass es Bewegungen gibt, die Boykotte fordern, finde ich gut, weil das Thema damit auf die Agenda rückt. Es ist eine kritische, laute Minderheit. Aber wir werden sehen, die Fernsehquoten werden auch bei dieser Weltmeisterschaft hoch sein. Ein konstruktiver Weg wäre ein Boykott nicht. Aber man kann Zwischenlösungen finden. Es gibt Sponsoren, die sich während der WM in Katar mit Botschaften zurückhalten werden, aber gleichzeitig das Team unterstützen. Es gibt viele Veranstaltungen, viele Informationen, auch zu kritischen Themen. Diese WM führt dazu, dass wir uns noch breiter über Fußball und Politik unterhalten, jedenfalls in Deutschland.

Verbände wie die FIFA oder das Internationale Olympische Komitee sagen, Sport sei unpolitisch. Kann das stimmen?

Das hat noch nie gestimmt. Katar ist ein Beispiel dafür. Katar nutzt die WM auch, um sich mithilfe des Fußballs auf die politische Weltkarte zu rücken. Dieses kleine Land auf der arabischen Halbinsel hat immer ein bisschen Sorge, dass es mal vom großen Nachbarn Saudi-Arabien eingenommen werden könnte. Wenn es nun durch so ein Ereignis die Aufmerksamkeit des Westens bekommt, wird so eine Einnahme vielleicht unwahrscheinlicher. Auf den ersten Blick ist Sport unverdächtig, alle machen mit, aber man kann es natürlich wunderbar als Plattform nutzen, für Handelsbeziehungen, für Diplomatie, für Werbung um Touristen.

Gibt es nicht viele historische Beispiele dafür, wie politisch Sport ist? An welche denken Sie zuerst?

Oft denkt man als Erstes an die Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin, die Propagandaspiele von Hitler. Oder um die Boykotte bei den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles, als sich die USA und die Sowjetunion mithilfe des Sports gegenseitig provoziert haben. Oder schauen Sie auf den Sport in der DDR. Die „Diplomaten m Trainingsanzug“ haben dafür gesorgt, dass die wirtschaftlich schwache DDR zumindest im Sport mit den westlichen Industriestaaten mithalten konnte. Mehr noch: Bei vielen Olympischen Disziplinen lag die DDR sogar vorn. Für Ostberlin war das eine der wichtigsten Quellen für politische Propaganda. Es gibt aber auch positive Aspekte. Schauen wir zum Beispiel auf die palästinensischen Gebiete, die kein Staat sind, nicht anerkannt von der UN, aber ein eigenes Fußballnationalteam haben und bei den Olympischen Spielen starten, also über den Sport ein bisschen Staatlichkeit haben. Das gilt auch für Taiwan, für Hongkong, generell für kleinere, marginalisierte Staaten, die über den Sport auch ihr Selbstvertrauen, ihre Identität formen können.

Die WM ist auch ein Medien-Spektakel und wird groß im Fernsehen laufen. Finden Sie, es gibt ausreichend kritische Sport-Berichterstattung in Deutschland?

Früher war es so, dass der Öffentlich-rechtliche Rundfunk bei Sportereignissen ein, zwei kritische Dokumentationen gebracht hat, wenn es um ein Land mit heiklen Aspekten ging. Aber sobald der Ball gerollt ist, hat man sich zurückgehalten. Das wird dieses Mal nicht möglich sein. Wir werden bei der WM sicher kritische Bemerkungen von Kommentatoren hören. Mir ist auch aufgefallen, dass private Medienanstalten, Sky, Magenta und kleinere Anbieter, die eigentlich immer nur auf das Sportliche geschaut haben, inzwischen auch kritische Rechercheformate und Dokumentationen senden.

Sollten Sportlerinnen und Sportler politischer werden?

Viele Sportler haben politische Meinungen, duften das aber oft nicht zeigen, weil die Regeln der Sportverbände so sind, unpolitisch. Es gab immer mal politische Botschaften, die gingen aber meist nicht über das Symbolische hinaus. Erst in den vergangenen zwei, drei Jahren nimmt es zu, dass Sportler selbstbewusster auftreten, sich äußern, politisch Stellung beziehen.

Ronny Blaschke hat Sport- und Politikwissenschaften studiert und arbeitet als freier Journalist hauptsächlich im Bereich Sport und Sportpolitik mit den Schwerpunkten Gewalt, Diskriminierung und Geopolitik. In seinem neuesten Buch „Machtspieler“ beleuchtet er den Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution. Im Rahmen der Reihe „Kontrovers für Ort“, einer Kooperation mit dem Sächsischen Volkshochschulverband und dem Landesverband Soziokultur Sachsen, referieren Ronny Blaschke und Dietrich Schulze-Marmeling zum Thema: „Ist Sport politisch?“. Es tritt immer nur einer der beiden Referenten pro Veranstaltung auf.