Buchbesprechung „3 Grad mehr“

Verheerende Waldbrände in Griechenland, lebensbedrohliche Hitze im Süden der USA mit Temperaturen um die 45 Grad: Der Juli 2023 gilt nach Angaben der UN als der heißeste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Unsere freie Autorin hat dies zum Anlass genommen, sich den Sammelband „3 Grad mehr“ genauer anzusehen. Der Band geht vom Szenario einer durchschnittlichen globalen Temperatursteigerung um drei Grad bis zum Jahr 2100 aus. Interessierte können die Publikation über den Webshop der SLpB bestellen.

Alle Lebensbereiche werden betroffen sein

Eine Drei-Grad-Erwärmung wird den menschlichen Gesellschaften eine unerbittliche Anpassungsleistung abverlangen. Alle Lebensbereiche werden betroffen sein. Unsere Gesellschaften benötigten auch eine Umsetzung naturbasierter Auswege, die mindestens so stark wie die technischen seien. Technische Lösungen allein würden nicht ausreichen und seien tendenziell kostenintensiver. Das sind die im Buch vertretenen Thesen. Der Herausgeber hält die Bewältigung der Herausforderung für machbar, jedoch nur, wenn die Breite der Gesellschaft sich zum Handeln entscheidet.

Herausgeber ist Klaus Wiegandt, Stifter und Vorstand von Forum für Verantwortung. Ihm geht es darum, dieses Szenario konkret fassbar zu machen und darzustellen, welche Lösungsansätze aus seiner Sicht nicht realisierbar sind - und welche anderen Wege es gibt, die bisher nicht ausreichend bekannt gemacht wurden. Zuletzt geht es um einen Aufruf an die Bevölkerung, sich das Thema praktisch zu eigen zu machen. Die Autorenschaft besteht zum einen aus bekannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern - wie den Klimaforschern Stefan Rahmsdorf und Hans J. Schellnhuber sowie der Bildungssoziologin Jutta Allmendinger - und zum anderen aus Autorinnen und Autoren mit enger Fachtätigkeit zum jeweiligen Buchkapitel, etwa einer Mitarbeiterin der Europäischen Zentralbank Kuik.

Folgen für Menschen, Tiere und Vegetation

Das dreihundert Seiten umfassende Buch unterteilt sich in drei Abschnitte: Teil I behandelt die Konse­quenzen der Erwärmung für Menschen, Tiere und Vegetation. Zu den Themen gehören hier etwa extremes Wettergeschehen, Biodiversität, Migration, Landwirtschaft und Wirtschaftsleistung. Teil II beschäftigt sich mit naturbasierten Lösungen zur Verhinderung weiterer Temperaturanstiege; Teil III nennt sich „Call to action – über die Macht informierter Bürger*innen in der Demokratie” und beschreibt unter anderem soziale Konsequenzen der Drei-Grad-Erwärmung.

Inhaltlich reicht die Bandbreite von der Erklärung biologischer Zusammenhänge und sozialer Faktoren bis zu einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive. Folgenden Fragen wird zum Beispiel nachgegangen: Was bedeutet eine Drei-Grad-Erwärmung für uns lokal wie global? Wieso bedeutet Klimawandel, dass Wetterextreme zunehmen? Wieso ist es relevant zu wissen, dass sich Vegetationsphasen verschieben? Ist Migration eine angemessene Anpassungsstrategie? Wie misst man die Kosten des Klimawandels? Können Klimaschäden Finanzkrisen auslösen? Wie sieht Klima-Waldmanagement aus? Welchen Beitrag können klimafreundliche Baustoffe leisten und wie kann klimafreundliches Bauen umgesetzt werden?

Sich auf das Thema einlassen

Sprachstil und Darbietungsform richten sich an eine breite Leserschaft. Wer bereit ist, sich offen einzulassen auf die große Betroffenheit fast aller Lebensbereiche der Tiere und der Menschen sowie in der Pflanzenwelt, wird das Buch mit Interesse lesen. Die - teilweise sehr streitbaren Lösungsvorschläge - sind am besten als Denkanstöße zu verstehen, die gemeinsam noch weiterentwickelt werden können. Durch eine gute Strukturierung, angemessene Sprache und zumeist sinnvolle Thementiefe ist das Buch auch für lesestarke Schülerinnen und Schüler der Oberstufe geeignet. Die Buchkapitel beginnen niedrig­schwellig: „Aber wie teuer genau wird uns eine 3 Grad wärmere Welt zu stehen kommen? Kann man das überhaupt glaubhaft abschätzen und wozu braucht man solche genauen Kostenvorstellungen? Darum soll es in diesem Abschnitt gehen.“, S. 97.

Eigene Interessenschwerpunkte können bewusst angesteuert werden: über klare Kapitelüberschriften - wie zum Beispiel „Landwirtschaft in einer heißen Welt“ - oder über Kästchen mit thematischen Exkursen. Zahlreiche Abbildungen veranschaulichen die Zusammenhänge. Die Autorinnen und Autoren gewähren außerdem spannende Einblicke, welche Faktoren und Argumentationslinien für ihr Fach Relevanz haben: „Ökonominnen und Ökonomen haben eine Reihe von Techniken entwickelt, um nichtmarktwirtschaftlichen Schäden einen Geldwert zuzuordnen. Zahlungsbereitschafts-Ansätze zielen darauf, zu messen, was wir bereit sind für die Vermeidung gewisser Schäden zu zahlen. Einige bewerten ein statistisches Menschenleben mit 7,4 Millionen US-Dollar. Es gibt Stimmen, die argumentieren, dass stärker differenziert werden sollte, um etwa zu reflektieren, dass ältere Menschen weniger zur Wirtschaftskraft beitragen.“, S. 109.

Engagement der Gesellschaft

Die Stärke des Buches liegt darin zu vermitteln, dass das Stichwort „Drei-Grad-Erwärmung“ sprachlich nicht exakt abbildet, worum es geht – weder was den tatsächlichen Wärmegrad, noch was das Sprachbild einer Erwärmung betrifft: Globale gemittelte drei Grad bedeuten de facto sechs Grad mehr zu Land mit einer einhergehenden „Radikalisierung des Wettergeschehens“ sowie dem Verlust von sozialen Gewissheiten und neuen Härten. Der Herausgeber möchte aufklären, damit Zeit gewonnen werden kann, um sozialangepasste Änderungen zu erwirken, einen Teil des Klimawandels zu verhindern und damit Reorganisationsprozesse im Bereich Energie und Rohstoffe vollzogen werden können. Insbesondere die Erfahrungen der letzten Jahre lassen vermuten, dass die Menschheit das 1,5-Grad-Ziel weit verfehlen könnte. Eine aktive Auseinandersetzung mit den Klimafolgen ermöglicht dieses Buch.

Das Buch gibt Lösungswegen eine Plattform, die auch mit der Umwelt arbeiten. Fortschritt und Innovation wird allzu oft als rein technisch wahrgenommen. Die naturbasierten Lösungen können das Bewusstsein stärken, dass die Bekämpfung des Klimawandels nicht einzig Aufgabe von Ingenieuren und Ingenieurinnen ist.

Eingriff ins Private: Gefahr für die Demokratie?

Ein nicht unwesentlicher Reiz des Buches besteht in seiner umfassenderen Perspektive mit sowohl naturwissenschaftlichen als auch sozialwissenschaftlichen Blickwinkeln. Allerdings: Die enorme Herausforderung, die der Klimawandel für unsere Demokratie darstellt, wird nicht klar ausbuchstabiert bzw. nur thematisch angerissen. So heißt es im Fazit: „Klimapolitik kann die gesellschaftliche Kohärenz starken, wenn eine solidarische Kraftanstrengung aller glücken würde und die Überforderung schwächerer Gruppen zu vermeiden wäre. Hierzu braucht es eine breite Einbeziehung aller, neue Partizipationsformate, Verfahrensweisen und Reformen der bestehenden Arenen“, S. 288.

Ich hätte gern konkret über diese in Aussicht gestellten „Partizipationsformate, Verfahrensweisen und Reformen“ gelesen. Wie wird Demokratie konkret ausgestaltet bzw. wie verändert sich das Zusammenleben, wenn tiefe Eingriffe in die Privatsphäre, zum Beispiel von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, empfohlen werden? Beispielsweise wenn es im Kampf gegen die Tigermücke um die Ausbringung von Insektiziden von Staats wegen im eigenen Garten ginge. Allein in solchen - und anderen, vergleichbaren - kollektiven freiheitseinschränkenden Maßnahmen liegt eine enorme rechtstaatliche und demokratische Sprengkraft.

Globale Dimension: Was ist machbar?

Dem Anschlusskapitel „Die Menschen müssen wissen, was auf sie zukommt. Lösungsansätze, Finanzier­barkeit, Macht der Zivilgesellschaft“ mangelt es zwar nicht an konkreten politischen Vorschlägen zur Finanzierung von Klimamaßnahmen. Dennoch ist für mich fraglich, ob die großen Hoffnungen des Herausgebers in globale Übereinkünfte wie einen Abholzungsstopp von Regenwäldern sich erfüllen werden. Die derzeitige Realisierbarkeit einer globalen Klimapolitik ist in Anbetracht einer ins Stocken geratenen Globalisierungund regionaler Allianzen, die um die Vorherrschaft im 21. Jahrhundert konkurrieren, leider stark geschwächt. Naturbasierte Lösungen vor der eigenen Haustür gewinnen dadurch an Relevanz, auch wenn sie viel weniger klimawirksam sind. Dass darüber hinaus „die“ Politik als wenig vertrauenswürdig abgeurteilt wird, scheint mir ein Bärendienst an unserem Gemeinwesen zu sein. Politik bleibt immer auch ein Abbild der Gesellschaft und ist dessen Transmissionsriemen.

Alles in allem ist das Buch „3 Grad mehr“ sehr lesenswert: Es informiert über eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, beleuchtet dabei vielfältige relevante Aspekte und wird auch interessierten Leserinnen und Lesern ohne thematische Vorkenntnisse eine gewinnbringende Lektüre bieten.

 

Wiegandt, Klaus (Hrsg.),3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern. Sonderausgabe für die Landeszentralen für politische Bildung, München 2022, 352 Seiten.

Alle mit Wohnsitz oder Adresse in Sachsen können das Buch mit Bestellnummer: 716* kostenlos beziehen. Hier geht es direkt zum Webshop. Zum Thema empfehlen wir auch unseren neu erschienen „Atlas eines bedrohten Planeten - 155 geniale Grafiken für alle, die die Welt retten wollen“.