„Als Journalist treibt es mich an, selbst Zeuge zu sein von Dingen, die relevant sind“

Der mehrfach ausgezeichnete Journalist Arndt Ginzel berichtet aus der Ukraine. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung zeigt in Kooperation mit dem Mediennetzwerk Lausitz, dem Steinhaus Bautzen und der Kulturfabrik Hoyerswerda seine ZDF-Dokumentation „Die Straße des Todes. Kriegsverbrechen in der Ukraine“. Beim Gespräch geht es auch darum: Wie kommt die Wahrheit ans Licht, auch im Krieg? Doreen Reinhard hat mit ihm gesprochen.

Herr Ginzel, Sie waren als Journalist in der Ukraine, als der russische Angriff begonnen hat. In Ihrem ZDF-Beitrag „Die Straße des Todes“ haben Sie zu Kriegsverbrechen auf einer Schnellstraße in der Nähe von Kiew recherchiert. Was ist dort passiert?

Als die russische Armee die Ukraine im Februar 2022 überfallen hat, als die ersten Raketen einschlugen, sind viele Menschen aus Kiew in die Vororte geflüchtet. In den ersten Kriegstagen haben sie versucht, sich dort in Sicherheit zu bringen, in Datschen, bei Angehörigen. Aber die russische Armee ist schnell vorgestoßen und hat auch diese Vororte besetzt. Dort wurde es immer gefährlicher. Viele Menschen haben versucht, diese Orte wieder zu verlassen. Der einzige Ausweg, den sie gesehen haben, war eine Schnellstraße, die Kiew mit dem Westen des Landes verbindet. Dort waren Zivilisten unterwegs, um zu fliehen. Aber sie sind reihenweise unter Beschuss von der russischen Armee geraten. Mein Team und ich waren gerade in der Ukraine, eigentlich für eine andere Recherche. Dann ging der Krieg los. In den ersten Kriegstagen haben wir Drohnenmaterial bekommen. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie Menschen auf dieser Schnellstraße erschossen wurden. Das war der Ausgangspunkt für diese Recherche. All das ist Anfang März passiert, noch bevor die Massaker in Butscha bekannt wurden.

Wie haben Sie die Aufnahmen, die Sie bekommen haben, überprüft und verifiziert?

Das Material haben wir von Freiwilligen bekommen, die sich der ukrainischen Armee angeschlossen hatten. Sie haben die Frontlinie überwacht und gefilmt. Es war klar, dass wir denjenigen treffen müssen, der die Aufnahmen gemacht hat. Das ist auch passiert. Wir konnten das Originalmaterial sichten und die Meta-Daten auswerten, also prüfen, dass das Material echt ist. Außerdem mussten wir viele andere Details prüfen: die konkreten Orte, den Zeitpunkt, die Wetterdaten. Wir haben natürlich auch Opfer getroffen. Menschen, die das miterlebt und Angehörige verloren haben. Nachdem plausibel war, dass es stimmt, was wir in den Aufnahmen sehen, haben wir uns entschlossen zu berichten - über den Verdacht, dass es auf dieser Straße zu Kriegsverbrechen gekommen ist. Das passiert natürlich alles in enger Absprache mit der Redaktion. Es lief zunächst ein kurzer Bericht im ZDF dazu, dann weitere, schließlich ist „Die Straße des Todes“ als Zusammenfassung dieser Recherche entstanden. Soweit ich weiß, war das damals, im Frühjahr 2022, der erste verifizierbare Fall zu Kriegsverbrechen von russischen Soldaten in der Ukraine.

Wie konnten Sie belegen, dass Soldaten aus russischen Einheiten die Täter waren?

Zu dem Zeitpunkt, als wir das Drohnenvideo bekommen haben, waren diese Schnellstraße und die Kiewer Vororte noch unter russischer Kontrolle. Wenig später ist die russische Armee dort abgezogen. Das Gelände war noch nicht von der ukrainischen Staatsanwaltschaft untersucht worden. Wir konnten die Gelegenheit nutzen, uns vor Ort umzuschauen. Wir haben dort ein recht frisches Bild vorgefunden. All das, was wir zuvor auf den Drohnenaufnahmen gesehen haben, konnten wir mit der Realität abgleichen. Auf der Straße standen noch viele zerstörte zivile Fahrzeuge, teils verbrannt, in einigen waren noch Leichen. Angehörige waren da, die sich um die sterblichen Überreste gekümmert haben. In den Wäldern an der Straße haben wir Unterstände von der russischen Armee gefunden, die gerade erst verlassen worden waren. Es lag unglaublich viel herum: Munition, Essensreste, Flaschen, Uniformen von russischen Soldaten, Formulare, wo der Empfang von Munition registriert war. Auf solchen Dokumenten waren auch die russischen Einheiten vermerkt, Namen und Unterschriften von Soldaten. Es gab also ein dichtes Bild an Spuren, die zur russischen Armee führten. Wir konnten sie bis zu einzelnen Mitgliedern russischer Einheiten verfolgen.

Wie gefährlich ist die Recherche in der Ukraine?

Man ist in der Ukraine in einem Kriegsgebiet. Da ist es erstmal völlig egal, ob man in der Westukraine ist, im Osten oder im Süden. Wir sind im Team unterwegs. Bei vielen Recherchen, auch in der Ukraine, arbeite ich mit meinem Kameramann Gerald Gerber zusammen. Wir werden unterstützt von lokalen Journalisten und Übersetzern. Je näher wir an der Front sind, desto gefährlicher wird es logischerweise. Wir tragen Schutzhelme und -westen. Man muss jeden Tag mit Raketeneinschlägen rechnen, also auch sehr genau abwägen, um das Risiko zu minimieren: Wo drehen wir? Gibt es Schutz, falls Angriffe kommen?

Sie sind konfrontiert mit viel Grauen. Wie viel davon muss man in einem TV-Beitrag zeigen? Wo sind Grenzen?

Es gibt zum einen Kriterien wie den Jugendschutz, mit Regeln für explizite Darstellungen. Ein anderes Kriterium ist die Würde der Opfer, die man vor Augen haben muss. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir in Beiträgen tote oder schwer verwundete Menschen offen gezeigt haben. Man muss nicht jedes Detail zeigen.

Als Journalist können Sie vor Ort nicht wegschauen. Wie gehen Sie damit um, so viel Tod und Zerstörung zu erleben?

Wenn ich vor Ort arbeite, bin ich sehr konzentriert. Ich stehe sehr unter Druck. Ich weiß, dass wir oft nicht viel Zeit haben, um Material zu drehen. Man muss auf vieles achten. Zum Beispiel darauf, ob ein Gebiet sicher ist, ob irgendwo Minen liegen könnten. Man hat nicht viel Zeit, über das Grauen nachzudenken. Das passiert erst, wenn man zurück ist. Man merkt, wenn man nach einer Recherche nach Hause kommt, wie anders das Leben in einem Kriegsgebiet ist. Man realisiert erst zuhause so richtig, dass plötzlich nicht mehr ständig Schüsse zu hören sind.

Stumpft man auf gewisse Weise ab, wenn man im Krieg berichtet?

Ich bin nicht abgestumpft. Mich berührt vieles nach wie vor. Auch, wenn ich Interviews mit Überlebenden führe, geht mir vieles sehr nah. Viele der Menschen sind traumatisiert von dem, was sie erlebt haben. Die Menschen in der Ukraine sind durch den Krieg schlagartig aus ihrer Normalität gerissen worden. Aus Lebensweisen, die uns sehr vertraut sind. Sie waren vielleicht gerade noch im Urlaub, haben gefeiert, plötzlich bricht etwas völlig Monströses in ihr Leben. Als der Krieg losging, hatte ich das Gefühl, viele Menschen mussten überhaupt erst mal realisieren, was Krieg eigentlich bedeutet. Krieg ist nicht irgendeine Demonstration, wo vielleicht mal Steine fliegen. Krieg bedeutet, dass man sterben kann. In der ersten Phase des Kriegs in der Ukraine sind auch viele Journalisten gestorben. Gerade war man noch mit einem Kollegen verabredet, dann hört man, dass derjenige tot ist. Das muss man erst mal verarbeiten.

Sie arbeiten schon lange als Journalist, auch in Kriegsgebieten. Haben die Erlebnisse in der Ukraine Ihre Perspektive verändert?

Ich war auch vorher schon oft in der Ukraine, auch in Russland. Vieles ist mir vertrauter als in anderen Gebieten. Der Krieg in der Ukraine ist sehr nah, das ist ein Unterschied für mich. Man sitzt zehn, zwölf Stunden im Auto, dann ist man im Krieg, an Frontlinien, wo jeden Tag Menschen sterben.

Welche Rolle haben Journalisten im Krieg, auch angesichts von Fake News und Propaganda?

In erster Linie ist es unsere Aufgabe zu berichten: Was findet dort statt? In welchen Zusammenhängen? Welche Quellen gibt es? Berichterstattung muss von Fakten geleitet sein. Das Beste ist, wenn man selbst Zeuge ist als Journalist. Das bedeutet, dass wir auch vor Ort sein müssen, um verifizieren zu können. Das ist im Krieg natürlich nicht so einfach. Man kann nicht beliebig hin und her spazieren, kann nicht überall sein. Das heißt, wir müssen auch offenlegen, wenn wir etwas nicht mit Sicherheit sagen oder Quellen nicht überprüfen können.

Was motiviert Sie, diese Arbeit zu machen?

Als Journalist treibt es mich an, selbst Zeuge zu sein von Dingen, die relevant sind. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, ist ein extrem einschneidendes Ereignis. Das hat so viel verändert. Es wäre für mich unbefriedigend, so etwas aus der Ferne beobachten zu müssen. Journalist zu sein, ist Teil meines Lebens. Ansonsten arbeite ich in der Ukraine auch nicht viel anders als bei Recherchen in Deutschland. Es geht um dasselbe Handwerk, um denselben journalistischen Fokus. Es geht immer darum, Belege und Zeugen zu finden. Zu klären, was passiert ist. Auch um beispielsweise ein mutmaßliches Kriegsverbrechen so zu belegen, dass man von einem Kriegsverbrechen sprechen kann. Die Vereinten Nationen haben auch selbst dazu ermittelt. Im Abschlussbericht der UN wurde die „Straße des Todes“ als klares Kriegsverbrechen deklariert. Als Journalisten konnten wir etwas Relevantes beitragen. Das ist schon mit das Beste, was man erreichen kann.

Hinweis: Die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen und das Mediennetzwerk Lausitz laden am 16. November 19 Uhr in das Steinhaus Bautzen und am 17. November 18.30 Uhr in die Kulturfabrik Hoyerswerda zu einem Gespräch mit dem Journalisten Arndt Ginzel zum Thema: „Auf der Suche nach der Wahrheit. Wie arbeiten Journalisten in Kriegsgebieten?“. Es wird Ginzels ZDF-Dokumentation „Die Straße des Todes. Kriegsverbrechen in der Ukraine“ gezeigt. Danach berichtet der Journalist über seine Arbeit. Daniel Lehmann, Experte für Medienkompetenz, -ethik und -geschichte, ist bei dem Gespräch zugeschaltet.