70 Jahre Israel, 120 Jahre Zionismus

70 Jahre Israel, 120 Jahre Zionismus, und das Land kommt nicht zu Ruhe. Wieso? Liegt es an Israel, an seinen Nachbarn, an äußeren Kräften, an allem zusammen? Fragen, die mehr Fragen aufwerfen. Antworten gab Ofer Waldman, Journalist, Musiker und gebürtiger Jerusalemer beim Donnerstagsgespräch in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung am 3. Mai 2018.

Wann entstand der Zionismus?

Wie viele nationale Bewegungen entstand auch der Wunsch vieler Juden nach nationaler Selbstbestimmung am Ende des 19. Jahrhunderts. Er entstand, was nicht überraschend ist, im Mitteleuropa: Wie die Tschechen, die Ungarn, die Deutschböhmen, die Polen, wollten auch die zionistischen Juden die sich um Theodor Herzl im Kongress von Basel versammelten einen Nationalstaat, freilich mit dem prinzipiellen Unterschied: Dieser sollte nicht in Europa, sondern im Nahen Osten entstehen, in Palästina. Zionismus, eine typische europäische Nationalbewegung?

Fast. Denn im Herzen des Begriffs lauert das Wort Zion, der biblische Name Jerusalems, synonym für das ganze Land Israel. Das Wort Zion lädt den Begriff Zionismus mit sakraler Spannung auf. Und so ist auch die Geschichte des Zionismus von einer konstanten Spannung gezeichnet, zwischen dem europäisch geprägten Wunsch nach einem Nationalstaat liberal-demokratischer Prägung auf der einen Seite, und der Erfüllung religiöser Verheißungen auf der anderen.

Die Bewegung wuchs nach dem Baseler Kongress rasant. 1917, kurz vor dem Ende des ersten Weltkrieges, als das britische Empire das historische Land Palästina/Israel vom osmanischen Reiche eroberte, überredeten die Zionisten die Staatslenker in London, die jüdische Ansprüche in der Region anzuerkennen. Entstanden ist die Belfur-Erklärung, in dem der damalige britische Außenminister Lord James Balfur den Juden eine „nationale Heimstätte“ in Palästina zusicherte.

Suche und Verlust von Heimat

Die arabische Mehrheit des Landes war von diesem Schritt alarmiert: Tatsächlich nahmen die Auseinandersetzungen zwischen der arabischen, sich bald als palästinensisch bezeichnenden Bevölkerung und dem immer größer werdenden jüdischen „Jischuw“, Gemeinwesen, zu. Tatsächlich entwickelte sich die palästinensische Nationalbewegung vis-á-vis der jüdischen, zionistischen Bewegung. Einige Versuche, eine gemeinsame, ortsgebundene Identität herzustellen, wie die Bewegung „Brit-Shalom“, von Professoren der neuen Hebräischen Universität in Jerusalem wie Martin Buber und Felix Hugo Bergmann gegründet, fanden keine breite Unterstützung.

Der zweite Weltkrieg und die Shoa, der Holocaust, setzten dem Jüdischen Volk und der zionistischen Bewegung einen schweren Schlag zu. Unter den Opfern des deutschen Vernichtungswahns gegen das jüdische Volk waren junge jüdische Pioniere, die auf ihre Aliya, Migration nach Palästina, warteten. So kam die zionistische Bewegung aus dem Krieg geschwächt. Doch als die Welt von den Gräueltaten der Deutschen gegen das jüdische Volk lernte, wuchsen die Sympathien für den Wunsch, einen jüdischen Nationalstaat im historischen Lande Israels, also Palästina, zu errichten. Am 29. November 1947 beschlossen die neugegründeten Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern erreichte damit einen Höhepunkt; mit der Ausrufung des Staates Israel in Mai 1948 brach der Krieg aus, der in Israel als „Unabhängigkeitskrieg“, unter den Palästinensern als „Nakba“, die Katastrophe, bekannt ist.

Obwohl die Palästinenser die Unterstützung vieler benachbarter Staaten wie Ägypten und Syrien erhielten, hat Israel den Krieg für sich entscheiden können, wenn auch mit einem sehr hohen Blutzoll: 1% der jüdischen Bevölkerung ließ im Krieg sein Leben. Und: Wie alle in jener Zeit entstandenen Staaten, ob die Tschechoslowakei, Polen, Pakistan oder Indien, wurde im Laufe des Krieges die gegnerische Zivilbevölkerung gescheucht, vertrieben, zur Flucht bewegt. 750,000 Palästinenser haben ihre Häuser verlassen; damit entstand die Realität palästinensischer Flüchtlinge, die heutzutage in der ganzen Welt verstreut sind.

Zionismus ohne Zion?

Und der Zionismus? Er hat sein Ziel erreicht – die Errichtung eines jüdischen Nationalstaates im historischen Land Israel/Palästina. Doch die heiligen Stätten – das Grab von Josef in Nablus, das Grab Rahels in Betlehem, die Gräber der biblischen Mütter und Väter in Hebron, vor allem aber die Jerusalemer Altstadt mit dem Tempelberg und der Klagemauer sind außerhalb der Grenzen des jungen Staates geblieben. Die Trennung zwischen dem Zionismus in seiner europäisch-säkularen Prägung und seiner messianischen Verheißung bekam quasi eine handfeste, geopolitische Entsprechung. Kann es Zionismus ohne Zion geben? Diese Frage sollte auch damals ungelöst bleiben.

In den 1950ern folgten die Vertreibung fast aller Juden aus den arabischen Staaten, womit der junge Staat in finanzielle Not kam. Aus dieser half die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland, freilich auch um dem Wunsch, nationale Anerkennung durch Versöhnungsgeste an die Juden nach der Shoa, nachzukommen.

Das Land Israel jener Jahre war eine wahre Demokratie, wenn auch freilich mit einigen Defiziten. So lebte die im Land gebliebene palästinensische Minderheit zeitweilig unter einem Sonderregime, doch auch dieses wurde alsbald aufgehoben, auch wenn ihre strukturelle Diskriminierung fortbestand. Alle Anwohner Israels besaßen die israelische Staatsbürgerschaft, konnten wählen und gewählt werden. Der Weg zu einer funktionierenden Demokratie westlicher Prägung schien zwar lang, aber gangbar.

Besatzung vs. Demokratie

Und dann kam der Krieg in Juni 1967, genannt auch „Sechstagekrieg“. Innerhalb weniger Tage schloss die israelische Armee die Kluft im Begriff des Zionismus: Nablus, Hebron, Betlehem, vor allem aber Jerusalem waren zum ersten Mal seit 2000 Jahren unter jüdischer Kontrolle. An sich sollte damit die anfangs erwähnte innere Spannung gelöst sein, der Zionismus zur Ruhe kommen, ja fast – nach Erreichen seiner Ziele – für beendet erklärt werden. Doch mit der Eroberung des Westjordanlandes und des Gazastreifens besetzte Israel Millionen Palästinenser. Diese bekamen, im Gegensatz zum 1948-Krieg, keine Staatsbürgerschaft. Die Idee einer westlichen Demokratie ist mit der Existenz Millionen Untertanen ohne Bürgerschaft und Bürgerrechte nicht vereinbar. Mit der Rückkehr nach Zion an all seiner heiligen Stätten verlor der säkulare Zionismus den Anschluss an seinen Ursprung.

Die Spannung zwischen beiden Zionismusbegriffen verkörperten zwei, im Jahrzehnt nach dem Krieg entstandene Organisationen. Auf der einen Seite entstand „Gush Emunim“, Block der Gläubiger, der die Besiedelung der besetzten Gebiete als Ziel erklärte und diese auch sofort aufnahm. Für Gush Emunim war der 1967-Krieg „Paame Maschiach“, die ersten Schritte des Messias. Das Sakrale übernahm damit das Säkulare, das Land Israel „eroberte“ den Staat Israel. Kurz danach entstand die Bewegung „Shalom Achshav“, Frieden Jetzt, die eine friedliche Lösung des Konflikts mit den Palästinensern durch die Rückgabe der eroberten Gebiete und den Abbau der Siedlungen propagierte.

Während der 1990er Jahre schien das Pendel wieder in Richtung des säkularen Zionismus zu schwingen. Der erste, 1987 begonnene palästinensische Aufstand, die „Intifada“, offenbarte den Israelis die Unvereinbarkeit der Besatzung mit ihrem Selbstbild einer funktionierenden Demokratie. Daraufhin wurde mit Ytshak Rabin und Yassir Arafat der Friedenprozess aufgenommen: Die Osloabkommen I und II, der Frieden mit Jordanien, erste Gespräche mit Syrien schienen einen Kompromiss zwischen Palästinensern und Juden möglich zu machen. Eine messianische Zeit des Friedens? Nicht für alle. In ihren Siedlungen im Westjordanland sahen die Siedler, wie ihr Projekt bedroht wird, wie Zion wieder an Gewicht im Zionismus verliert. Es kam zum kürzesten Bürgerkrieg der Geschichte: Am 4. November 1995 schoss der nationalreligiöse Jude Ygal Amir 3 Kugel auf den israelischen Ministerpräsidenten Rabin, der einige Stunden später seinen Verletzungen erlag.

Der Zionismus braucht eine neue Vision

Zion und Zionismus: Seit 120 zerreißt die innere Spannung zwischen einer religiösen Verheißung und dem westlich-demokratischen Ideal die zionistische Bewegung und ihr Subjekt, den Staat Israel. Auf die Ermordung Rabins folgten gescheiterte Friedensinitiativen, Terrorattacken, militärische Kampagnen, Krieg und verlorene Menschenleben, Mauerbau und Siedlungsbau, Raketen und Selbstmordattentate.

Hat das säkulare Projekt der nationalen Befreiung gegen den messianischen Wunsch nach Erlösung verloren? Gerät der Wunsch nach sicherem Hafen für Juden, unter dem Deckmantel der militärischen Sicherung, zum ewigen Eroberungs- und Kolonialismusprojekt?

Theodor Herzt hatte einst eine Vision, wie der Zionismus die Juden aus jahrtausendalter Realität der Verfolgung und Heimatlosigkeit befreit. Diese entstand jedoch im Wien der Kaiserzeit: Heute braucht Israel, braucht der Zionismus eine neue Vision. Eine Vision, die mit den Menschen des Landes, Juden wie Arabern, redet. Sowohl Israelis als auch Palästinenser haben mehrmals bewiesen, welche revolutionäre Energie in ihnen steckt. Der Zionismus, der Staat Israel ist allemal ein Wunder. Seine Errungenschaften auf den Gebieten der Kultur, der Wirtschaft und der Wissenschaft sind das Resultat visionärer Arbeit aller, Juden wie Araber. Ob wir bald eine neue Vision erleben, die die Spannung zwischen Zion und Zionismus ersetzt, auflöst, bleibt eine Hoffnung, von der man sich nicht absagen darf. Die von vielen zivilgesellschaftlichen Kräften in der Region auf beiden Seiten getragen werden. Dass diese Kräfte die kontinuierliche Unterstützung der deutschen Zivilgesellschaft und des deutschen Staates bekommen, gehört zu jenem Zeichen, die weiterhin den Glauben an eine neue Vision aufrechterhalten.

Ofer Waldman ist Journalist und Musiker. Er ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Heute lebt Waldman mit seiner Familie in Berlin und ist Doktorand an der FU Berlin. Er ist Vorstandsvorsitzender des New Israel Fund Deutschland.