„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen

Viele Menschen aus Sachsen waren schon mal in Tschechien, mögen Prag und die tschechische Küche. Aber was wissen wir über die politische und gesellschaftliche Lage im Nachbarland? 2022 stand Tschechien Dank der EU-Ratspräsidentschaft international im Rampenlicht. Sonst wird - außer bei Wahlen - in den deutschen Medien eher selten über den östlichen Nachbarn berichtet. Wer regiert aktuell in Tschechien, wie sieht die tschechische Medienlandschaft aus, wie ist es um die Rechtsstaatlichkeit bestellt? Wie diskutiert die Gesellschaft Themen wie Ehe für Alle, Klimawandel und Gleichstellung? Welchen Bezug zu Europa haben die Bürgerinnen und Bürger? Diese und weitere Fragen beantworten wir in unserer Podcastsreihe „Sechsmal Tschechien“. Hören Sie gern rein!

Ab dem 5. Oktober erscheinen die Folgen nacheinander überall da, wo es Podcasts gibt.

Der Podcast „Sechsmal Tschechien“ ist ein Kooperationsprojekt mit Radio Prague International.

Folge 1: Klima und Umwelt

„Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Gehören zur Bevölkerung Tschechiens wirklich die größten Klimaskeptikerinnen und -skeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren in Tschechien verändert? Zu Gast in unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050.

Die Wurzeln der tschechischen Umweltbewegung reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Im Jahre 1974 wurde die Brontosaurus-Bewegung gegründet, die bis heute aktiv ist. Die Mitgliederzahlen sind schnell gewachsen. Viele sahen darin nach langer Zeit die erste Möglichkeit, dem totalitären Regime die Stirn zu bieten. Der Bewegung ging es dabei vor allem um die ökologische Bildung und den regionalen Umweltschutz, der die Natur auf lokaler Ebene schützt und eher die Auswirkungen als die Ursachen von Umweltproblemen bekämpft (z. B. Beseitigung von Müll, Anpflanzen von Bäumen usw.) ohne jedoch systemische Veränderungen anzustreben. In den Jahren 1988-1989 war die Luftverschmutzung ein zentrales Thema der Umweltbewegung. Die Gruppe Prager Mütter wurde gegründet, um für saubere Luft zu demonstrieren. Von 11. bis 13. November 1989, nur wenige Tage vor dem Beginn der Samtenen Revolution, fand in Teplice in Nordböhmen eine große Demonstration für saubere Luft statt. Zeitgleich mit der Samtenen Revolution gründeten der damals 16-jährige Jakub Patočka und der 19-jährige Jan Beránek die Duha-Bewegung und die Kinder der Erde, Nichtregierungsorganisationen, die bis heute aktiv sind. In den 1990er Jahren herrschte der Glaube, dass in dem neuen demokratischen System ausreichen würde, die Aufmerksamkeit auf ein Umweltproblem zu lenken, und dass die Regierung diese anpacken würde.

Die Partei der Grünen war die erste politische Partei, die nach der Samtenen Revolution entstanden ist. Der neue Präsident, Václav Havel, der dieser Partei nahestand, ließ das Umweltministerium schaffen. In den frühen Neunzigern wurde eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen gegründet, die sich dem Natur- und Umweltschutz widmeten, darunter Calla (1991), der tschechische Zweig von Greenpeace (1992), die Gesellschaft für nachhaltiges Leben (September 1992), der Ökologische Rechtsdienst (1995), Nesehnutí (Oktober 1997) und Arnika (September 2001).

Mit der Wende verschwanden die Umweltprobleme nicht. Die dominierenden Themen waren die Erweiterung des Kernkraftwerks Temelín, der Abriss des Dorfes Libkovice für den Braunkohleabbau, der Bau von Autobahnen durch geschützte Landschaften, der Holzeinschlag im Nationalpark Böhmerwald und der Tierschutz. Mit der Betonung des Wirtschaftswachstums nach der Revolution, die von der Umweltbewegung kritisiert wurde, begann eine Ära der Marginalisierung ökologischer Themen. Forderungen der Umweltschützer bezeichneten die führenden Politiker, insbesondere der damalige Premierminister Václav Klaus, als Extremismus („Ökoterrorismus“). Trotz der guten Ausgangslage ist die Partei der Grünen in Tschechien heute nicht mehr im Parlament vertreten, und manche NRO mit dem Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz werden weiterhin oft als Ökoterroristen beschimpft und diffamiert. Der Großteil der Medien ist im Besitz von Unternehmern, die von fossilen Brennstoffen profitieren. Dies beeinflusst auch stark die öffentliche Meinung. Zum EU Green Deal haben viele Politiker:innen und Medien ablehnende Haltung.

Erst mit der aktuellen Energiekrise, ausgelöst durch den Angriff auf die Ukraine, rückten die erneuerbaren Energiequellen stärker in den Fokus des öffentlichen Diskurses. Wichtiger als emissionsarme Energie ist dabei jedoch die Energiesicherheit und die energetische Unabhängigkeit von Russland.

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Sind die Tschechen wirklich die größten Klimaskeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die (dortige) Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren verändert? Die Gäste unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050. Mein Name ist Filip Rambousek, ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.

Obwohl die Tschechen mitunter als die größten Klimaskeptiker in der Europäischen Union gelten, ist die Realität weitaus komplexer, meint der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl. Die öffentliche Meinung habe sich in den letzten Jahren stark verändert."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
"In der Mehrheit hält die tschechische Öffentlichkeit den Klimawandel bereits heute für ein ernstes Problem. Verschiedenen Umfragen zufolge sind es etwa 70 bis 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig wünschen sich rund 70 Prozent der Menschen in Tschechien, dass der Staat im Klimaschutz aktiv ist. Auch wenn uns diese Zahlen relativ hoch erscheinen, sind wir im europäischen Vergleich immer noch Schlusslicht. Wer also sagt, dass es in Europa nur wenige Nationen gibt, die so zurückhaltend sind wie die Tschechen, hat recht. So hat es ja auch Frans Timmermans einmal gesagt: Wenn wir die Tschechen von der Dekarbonisierung überzeugen können, können wir alle überzeugen. Aber auch wenn wir in Europa hintenan sind, ist es gleichzeitig auch so, dass bereits 70 bis 75 Prozent der Menschen hier der Meinung sind, dass wir grundlegende Schritte unternehmen sollten und in einem viel größeren Umfang aktiv werden sollten als bisher."

Filip Rambousek:
"Die Sicht der Tschechen auf den Klimawandel enthält eine Reihe von inneren Widersprüchen – obwohl der Anteil der Menschen, die im Klimawandel ein ernstes Problem sehen,  allmählich steigt, ergänzt die Analytikerin Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„86 Prozent der Menschen wissen, dass der Klimawandel große Auswirkungen auf die Welt hat, das können wir Umfragen entnehmen. Aber nur 40 Prozent davon glauben, dass diese Auswirkungen in ihrem persönlichen Leben zu spüren sein werden. Es ist interessant, diesen Widerspruch zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass die Tschechische Republik eine Art Welt für sich ist, von den Nachbarländern durch Gebirgsketten getrennt, die sich praktisch über die gesamte Grenze erstrecken. Es ist, als ob wir auf einer eigenen Insel leben.“

Filip Rambousek:
"Mit anderen Worten: Die meisten Tschechen verstehen, dass der Klimawandel ein drängendes globales Problem ist, aber viele von ihnen glauben immer noch, dass er das Leben der Menschen in der Tschechischen Republik nicht gravierend beeinflussen wird ..."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, es ist so ein Gefühl von der eigenen Großartigkeit und Unantastbarkeit, eine Art Stolz auf die Tatsache, dass wir Teil der Welt sind, aber alles von unserem eigenen Universum aus betrachten können. Aber das führt dann dazu, dass wir nicht bereit sind, zur Lösung des Problems beizutragen, weil wir denken, dass es uns nicht betreffen wird, und wenn doch, dann erst in weiter Zukunft.“

Filip Rambousek:
"Wie ist die tschechische Klimaschutzdebatte an diesen Punkt gekommen? Sehen wir uns zunächst einmal an, wie sich das Verhältnis der Tschechen zur Umwelt seit ungefähr 1989 verändert hat. Nach vierzig Jahren Staatssozialismus war die Umwelt in der Tschechoslowakei stark belastet, erinnert sich Bedřich Moldan."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss sagen, es war wirklich sehr schlimm. Vor allem die Luftverschmutzung war katastrophal. Aber auch die Wasserverschmutzung zum Beispiel war sehr gravierend. Die große Mehrheit der überprüften Wasserläufe war in höchstem Maße verschmutzt. Und natürlich haben die Menschen das mitbekommen. Am schlimmsten betroffen waren die Kohleregionen in Nordböhmen und Ostrava, aber auch alle großen Ballungsgebiete. In Prag beispielsweise wurden einst unglaublich hohe Konzentrationen von Schwefeldioxid gemessen.”

Filip Rambousek:
"Der schlechte Zustand der Umwelt war eines der wichtigen Themen, die die Menschen auf die Straße brachten – schon vor dem 17. November 1989, wie Moldan betont."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Etwa vierzehn Tage vor der großen Prager Demonstration im November 1989 fand auch in Teplice eine große Demonstration statt, bei der die Menschen Parolen über saubere Luft skandierten und dass sie die enorme Belastung durch die Umweltverschmutzung nicht länger hinnehmen wollten. Der Zustand der Umwelt, der so stark empfunden wurde, war zweifelsohne einer der wichtigsten Faktoren im Gesamtkomplex der Samtenen Revolution.“

Filip Rambousek:
"Auch dank des großen öffentlichen Interesses blieb das Thema Umweltschutz in den ersten Jahren nach der Revolution eine der wichtigsten Prioritäten – also zu der Zeit, als Bedřich Moldan Umweltminister war."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
"Diese starke Aktivität des Ministeriums in der Anfangszeit wurde von der Öffentlichkeit außerordentlich gut mitgetragen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation, als ich als Minister eine Gesetzesvorlage ins Abgeordnetenhaus einbrachte. Das begrüßten die Abgeordneten und sie beglückwünschten mich, dass wir ein weiteres grünes Gesetz bekommen würden. So etwas kann ich mir heute nicht mehr vorstellen. Dieser Enthusiasmus hat sich nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in anderen Lebensbereichen niedergeschlagen. Die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Industrie und der Unternehmen, hat sich daran beteiligt."

Filip Rambousek:
"In den 1990er Jahren führte dies zu einer deutlichen Verringerung der Luftverschmutzung durch die Industrie und zu einem sprunghaften Anstieg der Luftqualität. Auch im Hinblick auf die Gesetzgebung stellen die frühen 1990er Jahre eine Schlüsselperiode dar, sagt Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Zu Beginn der 1990er Jahre wurden grundlegende Gesetze erlassen, die bis heute den Umweltschutz in der Tschechischen Republik bestimmen. Aber mit dem allmählichen Rückzug der Dissidenten von der Macht und der Übernahme der Technokraten, mit Václav Klaus an der Spitze, kam es auch in der Umweltagenda zu einer Kehrtwende.“

Filip Rambousek:
"Dieser Kurswechsel zeigte sich auch in einer veränderten Haltung des Staates gegenüber den Umweltbewegungen, erinnert sich Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Fertigstellung des Kernkraftwerks Temelín wurden mehrere bekannte, etablierte Umweltverbände als extremistische Organisationen eingestuft und vom Geheimdienst überwacht. Der Staat hat also unter der Federführung von Václav Klaus sein Verhältnis zu Umweltinitiativen um hundertachtzig Grad gedreht.“

Filip Rambousek:
"Es ist kein Zufall, dass der Name von Václav Klaus, der in den 1990er Jahren Ministerpräsident und von 2003 bis 2013 Präsident Tschechiens war, schon zweimal gefallen ist. Analysten zufolge hatten seine klimaskeptischen Ansichten einen großen Einfluss auf die Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit zum Klimaschutz."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Im Laufe der Amtszeit von Václav Klaus als Präsident Tschechiens hat die Wahrnehmung und das Bewusstsein, dass der Klimawandel ein ernstes Problem darstellt, allmählich abgenommen. Und umgekehrt hat sie wieder zugenommen, als er 2013 aus dem Amt schied. Ich sage nicht, dass es da einen kausalen Zusammenhang gibt, aber eine gewisse Korrelation besteht eindeutig. Mit dem Abgang von Václav Klaus aus der aktiven Politik wurden die Stimmen der Klimaskeptiker also schwächer. Heute sind es nur noch ein Prozent der Tschechen, die Klaus‘ Meinung reproduzieren – also, dass es niemals einen Klimawandel gab und niemals einen geben wird.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
“Es ist der 15. September 2023: Eine Gruppe junger Menschen von Fridays for Future hat sich vor dem Umweltministerium in Prag versammelt. Mitte September ist die Zeit, zu der sich viele Menschen auf der ganzen Welt am weltweiten Klimastreik beteiligen. Die tschechische Bewegung Fridays for Future hat sich entschieden, einen Protest in Form eines kleinen Theater-Happenings mit sehr konkreten Forderungen an den Umweltminister und die gesamte tschechische Regierung zu organisieren. Die Demonstranten wollen, dass die Regierung ihre eigene Verpflichtung einhält, bis 2033 aus der Kohle auszusteigen. Im Moment besteht nämlich die Gefahr, dass dieses Limit um zwei Jahre überschritten wird.

Ich freue mich, dass nach Abschluss des Happenings eine der Sprecherinnen von Fridays for Future Zeit für mich hat. Magdalena Středová, Guten Tag!”

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Guten Tag.”

Filip Rambousek:
“War das Happening aus Ihrer Sicht erfolgreich? Es waren relativ wenig Menschen hier, aber viele Medienvertreter …"

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Ich sehe das Happening als Erfolg, denn es war unser erklärtes Ziel, das Thema in die Medien zu bekommen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass der Abbau im Tagebau Bílina vor kurzem bis ins Jahr 2035 verlängert wurde. Das ist ein Verstoß gegen das Regierungsprogramm, in dem die Beendigung des Abbaus und der Verbrennung von Kohle bis 2033 vorgesehen war.“

Filip Rambousek:
“Dieser Protest betraf also hauptsächlich den Tagebau Bílina. Warum ist er so ein großes Problem? Man könnte doch sagen, zwei Jahre hin oder her ...”

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Wir haben schon in der Vergangenheit mit verschiedenen Klima-Aktionen und Streiks auf den Kohleabbau im Tagebau Bílina aufmerksam gemacht. Manch einer wird vielleicht sagen, dass zwei Jahre nichts ausmachen, aber die Klimakrise ist allgegenwärtig. Wir haben den heißesten Sommer aller Zeiten erlebt, Brände und Überschwemmungen, und diese Extreme werden wahrscheinlich noch zunehmen. Es gibt keinen Grund, die Bekämpfung der Klimakrise aufzuschieben. Sie sollte unsere Priorität sein. Die Regierung hat in ihrer Programmerklärung das Jahr 2033 als Ausstiegsdatum für den Kohlebergbau versprochen, und wir sehen keinen Grund, warum man davon abweichen sollte. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen, erneuerbare Energien zu entwickeln und einen ausgewogenen Übergang einzuleiten.”

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die Reportage vom Happening von Fridays for Future zeigt, dass sich auch in Tschechien die junge Generation zu Wort meldet. In den letzten fünf bis zehn Jahren haben sich in Tschechien eine Reihe neuer Klimabündnisse etabliert, erläutert Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“ Es wächst eine neue Generation heran, die sich viel häufiger für Methoden der direkten Aktion und des zivilen Ungehorsams entscheidet. Inspiriert sind sie zum Beispiel von der deutschen Initiative Ende Gelände, die tschechische Aktivisten besucht haben. Diese Aktivisten lernen nach und nach, wie sie die fossile Infrastruktur der wichtigsten tschechischen Kohlebarone blockieren können. Regelmäßig finden verschiedene Sommer-Klimacamps und andere Aktionen statt. Wie in Westeuropa sind auch in der Tschechischen Republik die Bewegungen Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation entstanden. Man kann also sagen, dass die Entwicklung der Klimabewegung in der Tschechischen Republik bis zu einem gewissen Grad westlichen Trends folgt. Nur die Reaktionen sind hier etwas anders als in Großbritannien oder Deutschland.“

Filip Rambousek:
"Warum aber findet die Klimabewegung in Tschechien keine so große gesellschaftliche Resonanz wie anderswo in Europa? Auch dazu Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sind immer noch eher ein Volk von Landschaftsliebhabern und Bachlaufputzern. Dagegen werden öffentliche Aktionen wie Blockaden des Individualverkehrs von der tschechischen Öffentlichkeit eher negativ wahrgenommen. Selbst wenn sie mit Klimaschutz sympathisieren, sind selbst die größten Klimaschutz-Befürworter nicht mit diesen Klimaschützerinnen und Klimaschützern einverstanden. In diesen Fällen ist die Ablehnung sehr groß.“

Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl gibt es in der tschechischen Klimaschutzdebatte eine Reihe von Besonderheiten. Eine davon ist ein gewisses Misstrauen gegenüber großen Visionen, das aus den historischen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime herrührt. Deshalb ist die tschechische Öffentlichkeit auch misstrauisch gegenüber den großen Visionen von heute – wie dem Green Deal für Europa oder der deutschen Energiewende, die auch noch die Abschaltung funktionierender Atomreaktoren mit einschloss. Dazu Bedřich Moldan:"

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Als die Deutschen die Kernkraftwerke durch fossile Brennstoffe ersetzten, spotteten die Tschechen und sagten über sie: ‚Seht nur, und das Ergebnis der ganzen Energiewende ist, dass sie ihre Kohlendioxidemissionen erhöht haben, bzw. sie nicht schnell genug reduzieren, weil sie unsinnigerweise die Atomkraftwerke abgeschaltet haben.‘”

Filip Rambousek:
"Die tschechische Diskussion über die Energiewende zeige, so Moldan, wie kurzsichtig die Tschechen manchmal bei der Beurteilung von derart komplexen Strategien seien. Ein ähnlicher Ansatz ist beim Green Deal zu beobachten, der oft auf das Verbot von Verbrennungsmotoren reduziert wird. Der Green Deal werde in der Tschechischen Republik eher als Bedrohung denn als Chance dargestellt, erklärt Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„In unserem Land ist die gesamte Diskussion über den Green Deal damit verbunden, dass er eine große wirtschaftliche Belastung darstelle, dass er schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Industrie nach sich ziehe, dass er uns verarmen ließe und dass er ein ideologisch motiviertes Projekt sei. Die Befürchtung der Menschen, dass sie Verlierer sein werden, dass die Bedingungen des Green Deal nicht fair gestaltet werden und dass sie niemand für etwaige Verluste entschädigen wird, ist sehr präsent – denn genau das sagen die politischen Eliten immer wieder.“

Filip Rambousek:
"Einen sehr pragmatischen Blick auf den Green Deal hat zum Beispiel der tschechische Europaabgeordnete Alexandr Vondra von den Bürgerdemokraten. Seine Partei ODS gehört im Europäischen Parlament zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer."

Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Beim Green Deal geht es auch um die Umverteilung von Profit und Einfluss in Europa. Die Niederländer und Skandinavier bekommen die Windenergie in der Nordsee umsonst, die Spanier und Griechen bekommen die Solarenergie umsonst. Aber dann sind da noch Polen, die Tschechische Republik und Deutschland, alles Industrieländer, deren Wirtschaft auf billigem russischen Gas und billiger Kohle aufgebaut wurde. Diese Länder stehen plötzlich vor einer großen Herausforderung. Wir werden damit nichts verdienen, das müssen wir ehrlich zugeben. Wichtig ist aber jetzt, dass wir zumindest überleben, ohne dass es zu einer totalen Destabilisierung kommt. Deutschland ist bekanntlich eine etwas reichere Gesellschaft als Tschechien, so dass sie die Auswirkungen auf ihren Geldbeutel erst jetzt zu spüren bekommen. Die Tschechen haben sie schon früher zu spüren bekommen.“

Filip Rambousek:
"Etwa ein Drittel der tschechischen Bevölkerung unterstützt den Green Deal für Europa. Ein weiteres Drittel lehnt ihn eher ab und das verbliebene Drittel ist strikt dagegen. Wie der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl sagt, hängt dieses blamable Bild auch mit der Haltung der Tschechen gegenüber der Europäischen Union im Allgemeinen zusammen."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Für uns ist das nicht nur ein Umweltthema, sondern auch ein Symptom für eine gewisse Euroskepsis, die hier sehr stark ausgeprägt ist. Ich weiß noch, wie nervös ich war, als ich 2014, 2015 das Eurobarometer studierte und sah, dass die Tschechen damals noch euroskeptischer waren als die britische Öffentlichkeit. Und wir sprechen von der Zeit kurz vor der Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union. Wenn damals jemand einen Czexit vorgeschlagen hätte, hätte ich sicher nicht darauf gewettet, dass wir in der Europäischen Union bleiben. So gesehen ist der Euroskeptizismus hier ziemlich tief verwurzelt, was sich nicht nur auf die Haltung gegenüber Brüssel selbst auswirkt, sondern auch auf die Politik, die mehr oder weniger mit Brüssel verbunden ist.“

Filip Rambousek:
"Neben einem gewissen Euroskeptizismus sei die tschechische Debatte über den Klimaschutz auch durch die tschechische Tendenz zum Technokratismus beeinflusst, glaubt Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Das hängt auch mit unserer Geschichte und mit unserer industriellen Vergangenheit zusammen, die bis in die Zeiten von Österreich-Ungarn zurückreicht. Wir sind immer noch eher eine Nation von Ingenieuren als von Ideologen. Interessant ist zum Beispiel der Vergleich mit Frankreich oder mit den Vereinigten Staaten. Bei uns haben immer noch eher die ‚schlauen Ingenieure‘ die Oberhand, die etwas berechnen können, die Geld verdienen und es schaffen, ihre Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Üblicherweise gewinnen eher solche Politiker, als diejenigen, die uns zu einem gewissen Wertekatalog auffordern.”

Filip Rambousek:
"Krajhanzl zufolge könnte dies einer der Gründe dafür sein, dass die tschechischen Grünen seit 2010 nicht mehr im Parlament vertreten sind und ihre Zustimmung seit langem im unteren einstelligen Prozentbereich liegt."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Ganz oft sind es Personen, die in der Wissenschaft, in gemeinnützigen Organisationen usw. tätig sind. Solche Leute betrachtet ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit als sogenannte Schöngeister, d. h. als Menschen, die zwar gut reden können, aber keine echte Arbeit leisten. Das ist nicht meine Meinung. Ich versuche nur, anhand einiger Vorwahlumfragen zu verstehen, wo die Entwicklung ins Stocken geraten ist. Vielleicht ist die Partei zu romantisch und nicht pragmatisch und technokratisch genug für das tschechische Milieu. Schauen wir uns die ANO von Milliardär Babiš an oder die Bürgerdemokraten (ODS). Wenn sich diese Parteien in irgendeinem Punkt ähnlich sind, dann in ihrer Neigung zum Technokratismus.“

Filip Rambousek:
"Derzeit gibt es im tschechischen Parlament keine politische Kraft, die sich über eine umweltpolitische Agenda definiert. Einige Parteien, wie die Bürgermeister und Unabhängigen (STAN) oder die Piraten, zeigen ein gewisses Interesse an diesen Themen. Aber es gibt im tschechischen Parlament keine „grüne“ Partei, die mit den deutschen Grünen vergleichbar wäre. Und das, so Romana Březovská, ist ein großes Problem."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tatsache, dass dieses Thema keine politische Vertretung hat, ist das große Handicap. Denn es gibt niemanden, der glaubwürdig sowohl positive als auch negative Informationen über die Grüne Transformation an die Bürger vermitteln kann. Es gibt also viel Spielraum für beliebige Akteure, den Medienraum zu vereinnahmen und ihr Verständnis des Themas sowie ihre Interessen in diesem Bereich vorzubringen.“

Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl ist es außerdem ein Fehler, dass die tschechischen Parlamentsparteien dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit widmen. Denn der Green Deal biete eine einzigartige Chance für die Modernisierung der Tschechischen Republik."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tschechische Republik erhält mehr als eine Billion Kronen (40 Milliarden Euro) für verschiedene Programme – von Investitionen in umweltverträgliche Technologien über die Modernisierung staatlicher Dienstleistungen und Regionen bis hin zur sozialen Unterstützung von Gruppen, die von der Dekarbonisierung benachteiligt werden könnten. Diese Mittel sind praktisch mit dem Marshallplan in der Nachkriegszeit vergleichbar. Dennoch wird nicht viel darüber gesprochen, und die Medien schenken ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Ich denke jedoch, dass nicht nur in Bezug auf das Klima und die Emissionen, sondern auch in Bezug auf die tschechische Wirtschaft und Lebensqualität jetzt darüber entschieden wird, wie dieses Land in den kommenden Jahrzehnten leben wird.”

Filip Rambousek:
"Obwohl sich die Kommunikation des Klimawandels in den Medien langsam verbessert, hinkt die Tschechische Republik in dieser Hinsicht noch weit hinterher, so Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die tschechische politisch-mediale Debatte zum Klimaschutz ist in etwa dort, wo die britische oder deutsche Debatte vor zehn Jahren war, also extrem konservativ, man könnte auch sagen rückständig.“

Filip Rambousek:
"Neben der problematischen Eigentümerstruktur der privaten Medien, die oft Verbindungen zur fossilen Brennstoffindustrie aufweisen, ist laut Krajhanzl vor allem der geringe Bildungsstand über Klimafragen bei den meisten Journalisten dafür verantwortlich."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Beispielsweise ließen sich etliche Journalisten zu der Zeit, als die Strompreise zum ersten Mal in die Höhe schnellten, zu Twitter-Posts hinreißen, in denen sie im Grunde unkritisch behaupteten, die Ursache sei, dass sich der Preis der Emissionszertifikate auf die Preise der Endverbraucher auswirkten. Tatsächlich war es aber schon zu diesem Zeitpunkt, also im Herbst 2021, auf die geopolitischen Spielchen Russlands mit den Energiepreisen zurückzuführen. Schon damals war analytisch nachweisbar, dass es mit den Emissionszertifikaten nicht viel zu tun hatte, sondern dass etwa 80 Prozent des Preisanstiegs auf das Konto des Putin-Regimes gingen. Dieser Lackmustest hat gezeigt, wie wenig tschechische Journalisten mit sachlichen Informationen umgehen können.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Das unzureichende Verständnis der politischen Parteien für das Thema der grünen Transformation, die Tendenz zum Technokratismus und Pragmatismus sowie das schwache Niveau des Klimajournalismus – all dies trägt dazu bei, dass die tschechische Klimapolitik nach Ansicht vieler Analysten nicht ehrgeizig genug ist, insbesondere was ihren Mitigationsanteil betrifft, d. h. die Bemühungen, den Verlauf des Klimawandels abzumildern. Bedřich Moldan fährt fort."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Wenn wir uns die Strategien ansehen, die die Regierung verfolgt, sehen wir, dass es für die Anpassungsstrategie bereits einen Aktionsplan gibt, und ich denke, er ist sehr gut aufgebaut. Er ist detailliert und basiert auf verschiedenen Analysen. Aber es gibt praktisch keine Mitigationsstrategie.“

Filip Rambousek:
"So hat die Tschechische Republik beispielsweise bis heute kein offizielles Klimaneutralitätsziel ausgegeben. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Tschechische Republik bei der Entwicklung von erneuerbaren Energiequellen sogar hinter Polen zurückbleibt. Im tschechischen politischen Mainstream herrscht also nach wie vor eine starke Dichotomie zwischen Anpassungsmaßnahmen und dem Bemühen um Emissionsreduzierung. Folgende Äußerung des EU-Abgeordneten Alexandr Vondra illustriert dies sehr gut."

Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Der Teil des Green Deal, der sich auf den Schutz und die Wiederherstellung der Natur bezieht, ist meiner Meinung nach der wichtigste. Aber leider wurde dieser Punkt vernachlässigt und musste im Vergleich zum Kampf gegen den Klimawandel zurückstehen. Ich halte den Naturschutz vor allem unter einem Gesichtspunkt für wichtig. Wenn wir von den Menschen verlangen, dass sie Opfer bringen, dass sie etwas bescheidener sind und so weiter, dann muss es auch eine gewisse Belohnung geben – und zwar noch zu unseren Lebzeiten. Und das ist bei der Mitigation einfach nicht der Fall. Wir bringen hier enorme Opfer, und diese Opfer treffen die traditionell industriellen und energieintensiven Länder wie die Tschechische Republik und Deutschland am meisten. Aber all die Emissionen, die wir hier einsparen, werden China, Indien, die Vereinigten Staaten, Russland und Brasilien zusätzlich ausstoßen. Diese Maßnahmen werden also keine Effekte haben, weder für meine Generation, noch für die Generation unserer Kinder. Die Hitze wird immer noch da sein ... Ich bin nicht gegen Emissionsminderung, aber ich würde mit Bedacht vorgehen, nicht auf diese umstürzlerische Weise. Was aber den Naturschutz betrifft, da werden wir noch zu unseren Lebzeiten einen positiven Effekt sehen. Da  geht es um Vögel, Insekten, Bestäuber, Wasserrückhalt in der Landschaft, eine vielfältigere Landschaft. Diese Maßnahmen unterstütze ich.“

Filip Rambousek:
"Die Vorstellung, dass wir uns nur an den Klimawandel anpassen müssen, ist für Klimaexperten inakzeptabel. Alle Länder müssen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen beitragen, betont Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sehen, dass wir auf eine Erwärmung von mehr als zwei Grad zusteuern. Wir sehen, dass sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen bereits überschritten wurden. Wenn wir den Planeten mit dem menschlichen Körper vergleichen, hat er nicht nur Fieber, sondern vielleicht auch schon Bluthochdruck. Global gesehen geht es uns schlicht und einfach nicht gut, auch wenn wir das in der Tschechischen Republik noch nicht so stark spüren – auch dank unserer geographischen Lage.”

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Trotz aller Defizite im Umwelt- und Klimaschutz, die wir uns angesehen haben, sind die Tschechen in einer Sache möglicherweise europaweit Spitze – in der Liebe zur Natur. Und das ist ein Wert, auf den sich aufbauen lässt, sagt Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss den Tschechen zugestehen, dass sie Naturliebhaber sind. Sie lieben die Natur wirklich von ganzem Herzen, genauso wie die Landschaft. Ich würde sogar sagen, dass sie ein tieferes Gefühl zur Natur haben als viele andere Nationen. Das zeigt sich auch in Meinungsumfragen auf gesamteuropäischer Ebene. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Urlaubsort zu wählen, ist die Natur drumherum für Tschechen das allerwichtigste Kriterium. Sie entscheiden nicht nach touristischen Attraktionen, Sehenswürdigkeiten oder nach dem Preis, sondern legen den größten Wert auf die umliegende Natur. In mehreren Umfragen hintereinander haben die Tschechen in dieser Frage den ersten Platz belegt. Sehen Sie, wir gehören zu den Letzten, was das Klima betrifft, aber wir gehören zu den Ersten, was die Liebe zur Natur betrifft. Deshalb glaube ich nach wie vor: Wenn wir aufhören, schematisch die Kommunikationsrezepte aus Deutschland oder Großbritannien zu übernehmen, um die Öffentlichkeit für Umweltfragen zu gewinnen, sondern stattdessen versuchen, die tschechische Stimmung verstehen, haben wir eine Chance, es besser zu machen und einen tschechischen Weg zu finden. Ich glaube, wenn man es richtig anpackt, kann sich die tschechische Öffentlichkeit sehr aktiv für den Schutz von Natur, Umwelt und Klima einsetzen. Aber wir müssen ganz andere Wege suchen und beschreiten als die in Westeuropa erprobten.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Damit endet die erste Folge des Podcasts "Sechs Mal Tschechien" beim nächsten Mal wird es um die Beziehung Tschechiens zu Russland gehen. Wir zeigen dann wie sich die gemeinsamen Beziehungen in den letzten drei Jahren und insbesondere durch den russischen Angriff gegen die Ukraine verändert haben."

Zu Gast in dieser Folge:

Prof. Dr. Bedřich Moldan ist ein Geochemiker, Umweltschützer, Journalist und Politiker. Er spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der tschechischen Umweltgesetzgebung nach 1989. Er war der erste tschechoslowakische (und tschechische) Umweltminister (1990-1991) überhaupt. Moldan ist Professor für Umweltwissenschaften, sowie Gründer und Direktor des Umweltcenters der Karlsuniversität.
Er wird als einer der wichtigsten Vertreter der tschechoslowakischen und tschechischen Umweltschule bezeichnet. Er ist ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der analytischen Chemie, Biochemie und Umwelt. Durch sein umfangreiches pädagogisches, journalistisches, organisatorisches, politisches und diplomatisches Wirken hat er mehrere Generationen von Umweltschützern tiefgreifend beeinflusst und wesentlich zum Aufbau des Rechtssystems des Umweltschutzes in der Tschechischen Republik beigetragen.

Quelle

Romana Jungwirth Březovská hat Internationale Beziehungen an der Karlsuniversität in Prag und International Public Management an der Sciences Po in Paris studiert. In den Jahren 2019 und 2020 vertrat sie die Tschechische Republik bei internationalen Klimaverhandlungen. Während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2022 arbeitete sie für das Umweltministerium im Bereich Biodiversität und klimarelevante internationale Verhandlungen. Derzeit arbeitet sie am Forschungsinstitut für globalen Wandel der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und ist ist Klimaanalystin bei AMO – Association for International Affairs.

Quelle

RNDr. Alexandr Vondra ist seit 2019 für die Bürgerdemokraten (ODS) Mitglied des Europäischen Parlaments. Während der Samtenen Revolution war er im November 1989 Gründungsmitglied des Bürgerforums (Občanské fórum) und deren Zeitung Informační servis, aus dem 1990 die Wochenzeitung Respekt hervorging. Von 1990 bis 1992 war er außenpolitischer Berater des letzten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel, von Juli 1992 bis März 1997 stellvertretender Außenminister der neu gegründeten Tschechischen Republik und von 1997 bis 2001 vertrat Vondra Tschechien als Botschafter in den USA. Zudem war er von 2006 bis 2012 tschechischer Senator, 2006–2007 Außenminister, 2007–2009 stellvertretender Premierminister und 2010–2012 Verteidigungsminister Tschechiens.

Quelle

Dr. Jan Kajhanzl ist Sozial- und Umweltpsychologe. Er absolvierte ein Psychologiestudium mit dem Schwerpunkt Sozial- und klinische Psychologie (2004) und schloss anschließend seine Promotion im Bereich Sozialpsychologie (2010) an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag ab. Zu seinen beruflichen Interessen gehören die Kommunikation des Natur- und Umweltschutzes gegenüber der Öffentlichkeit, psychologische Fragen des menschlichen Kontakts mit der Natur und das Verhalten der tschechischen Öffentlichkeit in Umweltfragen.

Er ist Gründer und Leite des "Institut 2050" und arbeitet an der Abteilung für Umweltstudien der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk-Universität in Brünn. Zudem arbeitet er regelmäßig mit tschechischen Medien (z. B. dem tschechischen Rundfunk) und einer Reihe von staatlichen Stellen und NROs zusammen.

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Folge 2: Tschechiens Beziehung zu Russland

Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát.

Die öffentliche Meinung zu Russland ist stark durch die historische Erfahrung geprägt, insb. durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und die Besetzung des Landes in 1968. Die Okkupation beendete den Prager Frühling, einen Demokratisierungsprozess des Regimes, der zu dieser Zeit im Gange war. Es begann die Zeit der sog. Normalisierung, die mit politischen Säuberungen, Zensur, Unfreiheit, groben Verstößen gegen die Menschenrechte und dem wirtschaftlichen Rückstand des Landes einherging. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verließen die sowjetischen Truppen 1991 das Gebiet der Tschechoslowakei. Mit der Samtenen Revolution befreite sich das Land aus der Einflusssphäre der Sowjetunion und wandte sich politisch und wirtschaftlich dem Westen zu.

Die Jahre seit der russischen militärischen Unterstützung der Separatisten im Osten der Ukraine im Jahr 2014 sind durchzunehmende diplomatische Spannungen gekennzeichnet. Tschechien unterstützte die internationalen Sanktionen gegen Russland wegen der Ukrainekrise. Im Frühjahr 2018 wies die Tschechische Republik als Reaktion auf die Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal in Großbritannien drei russische Diplomaten aus. Tschechien hat bereits in der Vergangenheit drei Mitglieder der russischen Mission wegen Spionageverdacht ausgewiesen. Zu einer weiteren Abkühlung der russisch-tschechischen Beziehungen kam es im Jahr 2019, als bekannt wurde, dass ein russischer Gesetzesentwurf die Soldaten, die an der sowjetischen Besatzung der Tschechoslowakei beteiligt waren, als Kriegsveteranen anerkennt und damit den Einmarsch der Truppen legitimiert. Der Präsident Milos Zeman lud den russischen Botschafter vor, um eine Erklärung aufzufordern. Im Jahr 2019 sorgte für Unmut in Russland der Beschuss der Stadtrat von Prag 6, das Marschall-Konew-Denkmal von 1980 in Prag zu entfernen und es durch ein Denkmal der Befreiung Prags am Ende des Zweiten Weltkriegs zu ersetzen. Die diplomatischen Beziehungen beider Länder kamen fast zum Erliegen, nachdem im Jahr 2021 der Öffentlichkeit die Ermittlungsergebnisse zu den Explosionen in Munitionslagern in Vrbětice im 2014 präsentiert wurden. Die Spuren führen eindeutig zu russischen Agenten, die bereits an der Ermordung von Skripal beteiligt waren. Nach einer gegenseitigen Ausweisung von einer größeren Anzahl von Diplomaten entschied Tschechien das Personal der sowieso ungewöhnlich stark besetzten russischen Botschaft dauerhaft zu senken und so zu deckeln, dass sie immer dem Personal der tschechischen Botschaft in der Russischen Föderation entspricht. Im Mai 2021 gab Russland dann eine offizielle Liste der nicht befreundeten Länder heraus. Neben der Tschechischen Republik standen zu der Zeit nur noch die USA auf dieser Liste. Die Enthüllungen führten auch dazu, dass die russische Firma Rosatom aus der Ausschreibung zum Ausbau des Atomkraftwerkes Dukovany ausgeschlossen wurde. Neben den üblichen diplomatischen Schritten griff Tschechien wiederholt auch zu etwas ungewöhnlichen Mitteln, um Russland seinen Unmut zu zeigen und es abzumahnen. So wurde im 2020 der Platz, auf dem nur die russische Botschaft ihren Sitz hat auf Platz von Boris Njemcov umzubenennen. Außerdem wurde eine weitere Straße in der Nähe der Botschaft auf die Anna Politkowskaja Straße umbenannt. Seitdem nutzt die Botschaft als ihre offizielle Postadresse die Adresse ihrer Konsularabteilung. Nach dem Russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wurde dann auch ein Teil dieser Straße auf die Straße der Ukrainischen Helden umbenannt.

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát. In der kommenden halben Stunde nehmen wir Sie aber auch mit auf eine regierungskritische Demonstration, bei der teils antiukrainische Parolen laut wurden. Zunächst aber begeben wir uns in ein friedliches Stadtviertel Prags, in dem bis vor gar nicht so langer Zeit ein Denkmal für einen berühmten Sowjet-Marschall stand. Mein Name ist Filip Rambousek, und ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.

Ich befinde mich im sechsten Prager Stadtbezirk. Hier bei mir ist der Historiker Karel Svoboda. Er ist Experte für jüngere russische Geschichte. Wir haben unser Treffen gerade hier in diesem Park vereinbart, da sich bis vor Kurzem ungefähr da, wo wir jetzt stehen, eine Statue für den sowjetischen Marschall Konew befand. Bis 2020, um genau zu sein. Dann wurde das Monument entfernt. Heute ist kaum noch zu erkennen, wo genau das Denkmal einst stand, es ist einfach spurlos verschwunden."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die Statue wurde ursprünglich 1980 hier aufgestellt. Sie sollte ein Denkmal dafür sein, wie die sowjetischen Truppen die Tschechoslowakei oder konkreter: Prag befreit haben. Man erzählte sich, dass das Monument gerade an diesem Ort errichtet wurde, um jenen Genossen eine Freude zu machen, die hier entlang zum Hotel International fuhren. Dieses Hotel wurde in den 1950er Jahren zu Ehren Stalins erbaut. An der Statue war aus künstlerischer Sicht nichts Besonderes – das sagen zumindest die Kunsthistoriker. Auch historisch hatte sie eigentlich kaum Bedeutung. Wie bereits gesagt, wurde sie 1980 aufgestellt.“

Filip Rambousek:
"Dieses Entstehungsjahr lässt aufhorchen. Die Statue wurde nicht 1945 oder 1947 errichtet, sondern erst viele Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch von 1968. Das Monument hat somit eine andere Bedeutung, als wenn es kurz nach dem Krieg hier platziert worden wäre."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die russische Geschichtsschreibung versucht, die Statue als ein Denkmal darzustellen, das die dankbaren Prager dem Marschall und Befreier Konew zu Ehren errichteten. In Wirklichkeit wurde sie aber eben viel später aufgestellt. Unter Stalin wäre diese Statue undenkbar gewesen, denn der hatte seinen eigenen Personenkult. Auch als Chruschtschow an der Macht war, hatte die Sowjetunion ganz andere Prioritäten. Erst in der späten Breschnew-Ära entstand wieder ein Kult um den Zweiten Weltkrieg – oder besser gesagt: den Großen Vaterländischen Krieg.“

Filip Rambousek:
"Derartige Gedenkstätten wurden aus politischen Gründen und als Machtsymbol erbaut, sagt Michael Romancov. Das sei im Übrigen schon zur Zeit des russischen Kaiserreichs so gewesen."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In allen Regionen, die das russische Imperium eroberte, wurde stets eine orthodoxe Kirche errichtet. Dadurch sollte die Zugehörigkeit des Ortes zur russischen Einflusssphäre gestärkt werden. Nach 1945 wurden aber natürlich keine Kathedralen mehr errichtet, sondern eben monumentale Denkmäler, die vor allem Stalin zeigten. Als kleine Randbemerkung sei erwähnt, dass die Tschechoslowakei eines der wenigen Länder des Ostblocks war, in dem nichts nach Stalin benannt war. In Ungarn, Polen oder der DDR war das anders, dort erhielten ganze Städte entsprechende Namen. Hierzulande gab es damals lediglich die Stadt Gottwaldov, die nach dem ersten kommunistischen Präsidenten der Tschechoslowakei benannt war. Aber es entstanden eben viele Denkmäler. Das Konew-Denkmal sollte vor allem die Zugehörigkeit Prags und der Tschechoslowakei zum sowjetischen Block zum Ausdruck bringen.“

Filip Rambousek:
"Dennoch wurde die Statue nicht sofort nach der Samtenen Revolution gestürzt. Die Rufe, die Statue zu entfernen, wurden erst ab 2015 lauter, also kurz nachdem Russlands Aggression im Osten der Ukraine begann. Ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit und der Politik habe damals die Notwendigkeit gesehen, ein Zeichen gegen den Konflikt zu setzen, sagt Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Man wollte auf Russlands aggressive Politik in den postsowjetischen Ländern reagieren. Nach 2014 wuchs der Druck der tschechischen Öffentlichkeit, Sowjet-Denkmäler und andere Dinge, die an unsere einstige Zugehörigkeit zum sozialistischen Block erinnerten, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Das führte zu einigen Debatten, gerade auch bei konservativen kommunistischen Politikern. Es wurden sogar einige kleinere Demonstrationen organisiert. Im Großen und Ganzen denke ich aber, dass die tschechische Öffentlichkeit es in der Mehrheit eher unterstützt hat, Denkmäler aus der sowjetischen Zeit zu entfernen.“

Filip Rambousek:
"Dies unterstreicht auch der Umstand, dass vor Kurzem nicht nur das Denkmal, sondern auch eine nach Konew benannte Straße im dritten Prager Stadtbezirk umbenannt wurde. Der Platz vor der russischen Botschaft wiederum wurde 2020 zum Boris-Nemzow-Platz erklärt. Im angrenzenden Park Stromovka entstand zur gleichen Zeit eine Promenade, die den Namen der ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja erhielt. Als Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine wurde zudem die Straße vor der russischen Botschaft in ‚Straße der Ukrainischen Helden‘ umbenannt."

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Vielleicht war es auch der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968, die später dazu führte, dass sich die Tschechoslowakei in den 1990er Jahren schnellstmöglich von den Machtstrukturen des ehemaligen Ostblocks losmachen wollte. Symbolisch brachte dies zum Beispiel der Bildhauer David Černý zum Ausdruck. 1991 bemalte er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen sowjetischen Panzer mit rosaroter Farbe. Das militärische Gerät galt eigentlich als Denkmal für die Befreiung Prags durch die Rote Armee. Die Aktion führte zu offiziellem Protest der sowjetischen Regierung. Wie Michael Romancov zudem betont, war die Tschechoslowakei der erste Staat, der den Abzug sowjetischer Truppen von seinem Gebiet durchsetzen konnte. Insgesamt handelte es sich um 70.000 Soldaten."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Die Armee der Sowjetunion verließ 1991 die Tschechoslowakei, noch bevor es im August desselben Jahres in Moskau einen Putschversuch gegen Gorbatschow gab. In dieser Zeit kam es zu mindestens zwei weiteren wichtigen Ereignissen, an denen die Tschechoslowakei bedeutenden Anteil hatte. Zum einen war das die Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zum anderen das Ende des Warschauer Paktes. Der Vertrag über die Auflösung dieses Militärbündnisses wurde in Prag im Palais Czernin unterzeichnet.“

Filip Rambousek:
"Da Russland in den 1990er Jahren zahlreiche innenpolitische Probleme hatte, sei es für die Tschechoslowakei – und nach der Staatsteilung 1993 für die Tschechische Republik – leichter gewesen, einen eigenen außenpolitischen Weg einzuschlagen, sagt Karel Svoboda."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Außenpolitik zeichnete sich vor allem durch die Bemühungen aus, wieder ein Teil Europas zu werden. Der Weg ging eindeutig in Richtung Europäische Union. Russland sah man als einen chaotischen Koloss irgendwo im Osten an, den man nicht sonderlich im Blick haben muss.“

Filip Rambousek:
"Der Frontmann der damaligen prowestlichen Ausrichtung Tschechiens war Staatspräsident Václav Havel. Michael Romancov meint:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Havel war eindeutig proeuropäisch und proatlantisch. Er war nie antirussisch, hat aber stets vor Russland gewarnt und betont, dass es wichtig sei, vor dem Land auf der Hut zu sein.“

Filip Rambousek:
"Die symbolische Rückkehr nach Europa bestätigte Tschechien offiziell 1999 durch den Nato-Beitritt und 2004 durch den Eintritt in die EU. Staatsoberhaupt war damals noch immer Václav Havel. Die Eingliederung Tschechiens in westliche Strukturen sah er auch als Schutzmaßnahme vor einer eventuellen Bedrohung durch Russland. Zur gleichen Zeit habe sich aber die Dynamik zwischen Russland und Mitteleuropa zu verändern begonnen, betont Romancov:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In diesem Moment wurden wir für die Russen wieder interessant. Für sie war es nicht gerade eine Freude zu sehen, wie Tschechien, Polen, Ungarn und weitere Länder sozusagen die Seite wechselten. So nahm das Russland nämlich damals wahr. In der gleichen Zeit wurde Václav Klaus Tschechiens Staatspräsident. Das ist für mich ein Schlüsselmoment. Klaus war im Westen nicht so angesehen wie zuvor Václav Havel. Das bezog sich auf die Vereinigten Staaten genauso wie auf Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Meiner Meinung nach hat sich Klaus bewusst und programmatisch Russland zugewandt.“

Filip Rambousek:
"Klaus‘ Zuneigung zu Russland zeigte sich etwa darin, dass er Wladimir Putin bei dessen Prag-Besuch 2006 anbot, die Gespräche auf Russisch zu führen."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Putin quittierte das damals mit den Worten, er fühle sich geehrt. In Wirklichkeit muss ihm aber klargewesen sein, dass wir uns ihm damit unterwerfen. Denn weder Klaus noch sein Nachfolger Zeman, der diese Marotte später übernahm, sprach Russisch auf solch einem Niveau, dass er mit einem Muttersprachler eine gehobene Konversation führen konnte.“

Filip Rambousek:
"Einige Jahre später – 2009 – kam es zum Treffen zwischen dem damaligen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg und seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow. Laut Romancov offenbarte diese Begegnung besonders gut die Einstellung, mit der Russland auf Mitteleuropa blickt."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Karel Schwarzenberg sprach an, wie wir in Mitteleuropa die Lage in Osteuropa sehen. Lawrow unterbrach ihn und meinte, dass Tschechien kein mitteleuropäisches, sondern ein osteuropäisches Land sei. Schwarzenberg widersetzte sich dem, woraufhin Lawrow sagte, er hätte seine Aussage nicht konfrontativ gemeint. Er hätte Tschechien nur deshalb als Osteuropa bezeichnet, da das Land bei den Vereinten Nationen zur Gruppe der osteuropäischen Länder gehöre. Das mag objektiv gesehen zwar stimmen, die Russen haben damit aber eindeutig klargemacht, wo sie uns gern sehen würden. Klaus und Zeman haben dann leider alles unternommen, damit dieser Wunsch Moskaus in Erfüllung zu gehen schien.“

Filip Rambousek:
"Sowohl Staatspräsident Václav Klaus als auch sein Nachfolger Miloš Zeman haben laut Romancov dazu beigetragen, dass Tschechien Russland gewissermaßen nicht mehr als Sicherheitsrisiko sah. In den Mittelpunkt rückten stattdessen die Handelsbeziehungen und die Zusammenarbeit im Energiesektor. Zeman hielt an seiner prorussischen Einstellung sogar fest, als es zur Annexion der Krim kam und im Osten der Ukraine der Krieg ausbrach. Der Historiker Karel Svoboda spricht bei Zeman von einer besonderen Form des Pragmatismus."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Zemans Pragmatismus hatte das Ziel, Russland als Handelspartner zu nutzen, der hierzulande in Firmen investiert. Befürchtungen vor Russland ließ er jedoch nicht gelten. Miloš Zeman äußerte sich sogar abfällig über all jene, die darauf aufmerksam machten, dass Russland eine Gefahr ist, das Land immer aggressiver wird und der Krieg im Osten der Ukraine kein Zufall, sondern nur der Anfang ist. All diese Stimmen tat Zeman ab. Gleichzeitig wurde im liberalen und eher rechten Parteienspektrum die Überzeugung immer größer, dass Russland eine Bedrohung darstellt.“

Filip Rambousek:
"Trotz dieser Warnsignale wurde Tschechien immer abhängiger von fossilen Brennstoffen aus Russland. Diese Abhängigkeit habe ihre Wurzeln in der Geschichte, schildert Svoboda."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die meisten Öl- und Gaspipelines wurden gebaut, ohne auf die Interessen der einzelnen Nationalstaaten Rücksicht zu nehmen. In der Tschechoslowakei sah man die Sowjetunion als Freund an – und das „auf ewige Zeiten und nie anders“, wie es in einer Parole hieß. Die Leitungen für Öl und Gas führten von der Sowjetunion über die Tschechoslowakei nach Deutschland. Es gab keinen Grund, über Energiesicherheit zu diskutieren.“

Filip Rambousek:
"1997 konnte Tschechien zwar Erdgaslieferungen mit Norwegen vereinbaren, die ungefähr ein Viertel des tschechischen Bedarfs deckten. 20 Jahren später, also 2017, wurde der Vertrag aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht verlängert. Tschechien gelangte wieder in völlige Abhängigkeit von russischem Gas – bis die russische Armee in der Ukraine einmarschierte. Seit dem Februar 2022 konnte Tschechien in sehr kurzer Zeit die Gaslieferungen aus Russland quasi auf null herunterdrosseln. Beim Öl sehe das Ganze jedoch anders aus, betont Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien konnte eine Ausnahme vom Embargo vereinbaren. Für einen gewissen Zeitraum darf also weiter Öl aus Russland bezogen werden. Das liegt zum einen daran, dass Tschechien keine Lieferungen von anderswo vereinbaren konnte, und zum anderen daran, dass die Raffinerien hierzulande nur mit russischem Öl funktionieren. Eine Umstellung auf einen Rohstoff von anderswo ist nicht ganz einfach. Deshalb kam es zu der zeitlich begrenzten Ausnahme.“

Filip Rambousek:
"Die Sonderregelung gilt bis 2025. Bis dahin soll die Erweiterung der TAL-Pipeline fertiggestellt sein, die Italien, Österreich und Deutschland miteinander verbindet. Interessant ist aber, dass der Anteil russischer Öleinfuhren gestiegen ist, wenn man sich die vergangenen Jahre ansieht. Während 2021 fast die Hälfte aller Ölimporte aus Russland kam, lag der Anteil 2022 bei 56 Prozent und in der ersten Jahreshälfte 2023 bereits bei 65 Prozent. Nicht außer Acht gelassen werden darf zudem der Bereich Kernenergie. Auch auf diesem Feld zeigte Miloš Zeman seine prorussische Haltung. Michael Romancov:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Zeman drängte darauf, dass der Auftrag für die Erweiterung des AKW Dukovany – der größte Deal im mitteleuropäischen Energiesektor – ganz nach dem Vorbild Ungarns ohne öffentliche Ausschreibung an Russland gehen sollte. Doch am Ende kam es anders. Das liegt vor allem daran, dass der Fall Vrbětice aufgedeckt wurde, als man über diese Dinge entschied.“

Filip Rambousek:
"Aber was genau hat es mit diesem Fall Vrbětice auf sich? Das erläutert Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„2014 kam es zu einer großen Explosion in einem Munitionslager im mährischen Vrbětice. Einige Zeit lang wurde in dem Fall ermittelt, doch es gab keine Ergebnisse. Dies änderte sich erst nach dem Giftanschlag auf Sergei Skripal in Salisbury. Man fand heraus, dass sich die zwei russischen Agenten, die für das Attentat auf Skripal verantwortlich waren, auch in Tschechien aufgehalten hatten – und dass ein Zusammenhang zur Explosion des Munitionslagers in Vrbětice bestand. Die tschechischen Sicherheitsorgane konnten eine Verbindung zwischen den Agenten und dem Besitzer des Munitionslagers nachweisen. Er hatte ihnen ermöglicht, die Explosion durchzuführen.“

Filip Rambousek:
"Der Fall Vrbětice hatte dabei noch eine weitere internationale Dimension, wie Michael Romancov weiß:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Explosion mit dem damaligen Krieg im Donbass im Zusammenhang stand. Denn die Munition, die dort eingelagert war, war für die Ukraine bestimmt. Sie sollte dort im Krieg eingesetzt werden – oder im Falle einer russischen Invasion. Deshalb verübten die Russen diesen Sabotageakt. Zwei tschechische Bürger verloren dabei ihr Leben. Tschechien hat also zwei Opfer im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu beklagen – und das mitten im eigenen Land. Nachdem der Fall aufgedeckt wurde, wies Prag 18 sogenannte russische Diplomaten aus, die vom tschechischen Geheimdienst als Agenten identifiziert worden waren. Als Reaktion darauf wurde Tschechien im Mai 2021 gemeinsam mit den USA auf Russlands ‚Liste feindlicher Länder‘ gesetzt.“

Filip Rambousek:
"Das vergleichsweise scharfe Vorgehen der tschechischen Regierung stand damals im Gegensatz zur Haltung von Staatspräsident Zeman. Dieser vertrat nach wie vor prorussische Positionen – seit seiner Amtseinführung im Jahr 2013 hatte sich daran nichts geändert."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Er zweifelte nicht nur eine Beteiligung Russlands am Krieg im Donbass an und empfahl der Ukraine, die Krim an Russland abzutreten. Sondern auch in vielen weiteren Aspekten verschloss er sich jenem Blick auf die Dinge, wie er im Westen überwog. Zum Anschlag auf Sergei Skripal sagte Zeman etwa, dass das verwendete Nervengift Nowitschok früher ja auch in Tschechien hergestellt worden sei. Damit befeuerte der Präsident auch seinen Konflikt mit den Journalisten in Tschechien. Zum Fall Vrbětice meinte Zeman nur, es gebe rund um die Explosion des Waffenlagers unterschiedliche Theorien der Ermittler. Das war alles. Seine Haltung änderte Zeman erst angesichts der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Grund dafür war aber nur, dass er sehr gut wusste, dass seine politische Karriere andernfalls zu Ende gegangen wäre.“

Filip Rambousek:
"Seit dem Februar 2022 sei die Meinung der tschechischen Öffentlichkeit zum russischen Einmarsch in die Ukraine relativ eindeutig, sagt Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt zwar Parteien, die prorussisch eingestellt sind, vor allem die Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) und die Kommunistische Partei. Ich würde aber sagen, dass das eher kleinere Strömungen sind. Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass rund 80 Prozent der Menschen die Schuld für die Invasion eindeutig bei Russland sehen. Schon eher gehen die Meinungen darüber auseinander, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte. Aber dennoch würde ich sagen, dass die Unterstützung für die Ukraine immer noch sehr groß ist. Natürlich wächst eine gewisse Kriegsmüdigkeit, aber dazu kommt es immer – im Übrigen auch in Russland. Aber: Ich erlaube mir zu behaupten, dass die Mehrheit der Menschen in Tschechien die russische Aggression klar verurteilt.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Prag, 16. September 2023. Am oberen Ende des Wenzelsplatzes haben sich viele Menschen versammelt. Die meisten von ihnen haben tschechische Fahnen dabei. So viele tschechische Flaggen auf einmal habe ich wohl noch nie gesehen. Gleich soll hier eine Demonstration losgehen mit dem Motto „Tschechien gegen die Regierung“.

Es gibt hier viele Transparente. „Stoppt den Öko-Terror“, steht auf einem. „Nein zum Krieg“, heißt es woanders. Die ältere Frau, die gerade dieses Schild in die Höhe reckt, frage ich, wie sie das genau meint."

Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind wegen der Regierung hier. Sie ist gegen die Menschen. Warum da ‚Nein zum Krieg‘ steht? Die Regierung zieht uns geradezu in den Konflikt mithinein. Wir sind für Russland der Erzfeind Nummer eins. Schuld daran ist die Regierung. Und wir haben natürlich Angst. Wir wollen keinen Krieg. Und dann ist da noch die finanzielle Lage. Die Regierung hat die Menschen und das gesamte Land heruntergewirtschaftet. Jetzt kochen die Emotionen natürlich hoch. Die Leute können einfach nicht mehr. Manche vielleicht schon, aber ich habe genug von alldem.“

Filip Rambousek:
"Und den Grund dafür sehen Sie auch darin, dass die tschechische Regierung die Ukraine unterstützt? Das stört Sie?"

Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, genau. Waffen und überteuerte Flugzeuge stehen für die Regierung an erster Stelle. Aber den Rentnern und Schulkindern nehmen sie das Geld weg. Das Gesundheitssystem geht den Bach herunter, die Leute haben kein Geld mehr in den Taschen. Was soll man dazu noch sagen? Das ist eben die Regierung, die gegen die Menschen ist.“

Filip Rambousek:
"Später spreche ich noch mit einem Mann mittleren Alters.

„Hallo! Was bringt Sie hierher zu dieser Demonstration?“"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind unzufrieden mit der Regierung und damit, dass sie den Leuten das Geld wegnimmt und es stattdessen in die Ukraine pumpt.“

Filip Rambousek:
"Sie finden es also nicht gut, dass Tschechien Waffen an die Ukraine liefert?"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Das finde ich ganz und gar nicht gut.“

Filip Rambousek:
"Die meisten Menschen sind sicher der Meinung, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Wäre es da nicht gut, dass…"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Russland hat die Ukraine nicht angegriffen. Russland wurde in diesen Krieg mit der Ukraine hineingezogen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"An der Demonstration im September nahmen Schätzungen zufolge rund 10.000 Menschen teil. Es war nicht der erste Protest in den vergangenen Monaten gegen die Regierung. Meist nehmen an den Veranstaltungen Menschen im mittleren und hohen Alter teil. Experten zufolge radikalisiert sich die Mittelschicht in Tschechien wie in anderen Ländern immer mehr. Die Protestierenden würden dabei unterschiedliche Meinungsströmungen vertreten, sie kämen von Linksaußen, aber auch vom rechten Rand, sagt der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Dass sich diese Menschen miteinander verbinden, ist sehr deutlich. Vor allem eint sie ihr starker Widerstand gegen den Westen, sie lehnen den westlichen Liberalismus ab und auch den Liberalismus allgemein. Stattdessen wenden sie sich dem Autoritarismus zu. Sie haben das Gefühl, Westeuropa sei – angesichts von LGBT, Veganismus und anderen Werten – verloren, dekadent und schwach. Es muss nicht immer so klar formuliert sein, aber die Vorstellung, der Westen sei verloren, führt bei vielen Menschen dazu, dass sie sich fragen, wo denn die Macht sei, auf die wir uns stützen könnten. Und wenn der Westen verloren ist, dann bleibt uns ja nur noch der Osten.“

Filip Rambousek:
"Offene prorussische Haltungen sind in Tschechien laut Charvát eher die Ausnahme. Umso stärker vertreten sind aber Meinungen, die die russischen Interessen indirekt unterstützen."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Parolen gehört habe, die auf den Demonstrationen vertreten wurden, fiel mir auf, dass das die Leitsätze aus den kommunistischen Lehrbüchern der 1980er Jahre sind. Die heutige mittlere und ältere Generation ist mit diesen Parolen aufgewachsen. Es sind Sprüche wie: ‚Wir wollen Frieden‘, ‚Frieden ist besser als Krieg‘, ‚Frieden um jeden Preis‘, ‚Russland ist ein Garant für Frieden‘ oder ‚Russland hat den Faschismus besiegt‘. All dies taucht dort auf. Dabei zeigt sich, dass ‚Frieden‘ in den Augen einiger Demonstranten bedeutet, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und wieder Handelsbeziehungen mit Russland aufzunehmen.“

Filip Rambousek:
"Ein weiteres wichtiges Thema der regierungskritischen Demonstrationen sind die Geflüchteten aus der Ukraine. Das Zehn-Millionen-Einwohnerland Tschechien beherbergt aktuell etwa 350.000 von ihnen. Während 2015 die Aufnahme von Geflüchteten von den meisten Tschechen abgelehnt wurden, sei die Stimmung im Februar 2022 ganz anders gewesen, schildert Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Die Unterstützung für die Ukraine erreichte über 90 Prozent Zustimmung, und ebenso groß war auch die Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter. Heute, ein Jahr später, ist zu sehen, dass Systemverweigerer und Vertreter der Desinformationsszene wieder genau die gleichen Narrative verwenden wie 2015. Sie sagen, die Migranten würden Arbeitsplätze wegnehmen, die Kriminalität würde steigen, die Eingewanderten würden mit Drogen handeln und Gelder vom Staat beziehen – zu Lasten der eigenen Bürger. Oftmals tauchen auch Behauptungen auf, dass es sich gar nicht um Flüchtlinge handele, da sie ja teure Autos und Handys hätten. Mich würde einmal interessieren, ob sich die diejenigen, die diese Narrative verbreiten, eigentlich dessen bewusst sind, dass sie ein und dasselbe von sich geben wie 2015.“

Filip Rambousek:
"Teile der tschechischen Öffentlichkeit lehnen die ukrainischen Flüchtlinge also ab. Dahinter stecke das subjektive Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, sagt Charvát."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Manche Menschen haben das Gefühl, der Staat kümmere sich nicht um sie, sondern stattdessen um andere. Es ist dann ganz egal, ob das Roma, Migranten aus Syrien oder Ukrainer sind. ‚Der Staat soll sich doch um mich kümmern, damit ich das Geld bekomme und nicht irgendwelche Flüchtlinge.‘ So sehen das manche Menschen.“

Filip Rambousek:
"Eine Rolle bei der Verbreitung derartiger Ansichten haben auch Desinformationskampagnen und weitere Formen falscher oder irreführender Informationen. Die Bedeutung prorussischer Fake News würde in Tschechien aber überschätzt werden, meint Charvát. Beim absichtlichen Verbreiten von Lügen sei nicht das zentrale Ziel, Russland als bestes Land der Welt darzustellen. Stattdessen solle das Vertrauen in die seriösen Medien und die Demokratie im Allgemeinen untergraben werden. Und in diesem Bereich leistet die Desinformationsszene in Tschechien ganze Arbeit…"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Aktuellen Studien zufolge gibt es scheinbar eine relativ große Gruppe von Menschen, die zwar nicht an Desinformationen glaubt, sich aber sagt: ‚Vielleicht ist da ja doch etwas dran. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas davon nicht doch stimmt. Ich habe das Vertrauen in das aktuelle System verloren.‘ Diese Menschen neigen dazu, Desinformationen am Ende zu glauben.“

Filip Rambousek:
"Die gezielte Polarisierung der Gesellschaft ist zudem ein Mittel, um unzufriedene Wähler für sich zu gewinnen. Dessen sind sich laut Michael Romancov auch die Veranstalter der derzeitigen Regierungsproteste bewusst."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Diejenigen, die prorussische Narrative vertreten – allen voran die kommunistische Partei in Tschechien, aber auch viele andere –, haben nach dem ersten halben Jahr wieder ihre eigene Agenda aufgetischt. Ich sehe das als Bestandteil innenpolitischer Machtkämpfe. Es geht um Wählerstimmen. Diejenigen, die diese Strömungen anführen, rechnen sich aus, Punkte gutzumachen, wenn sie die offizielle Haltung der Regierung zum Konflikt in der Ukraine ablehnen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Der zweite Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ ist damit an seinem Ende angelangt. In der nächsten Folge geht es um die Rechte von LGBTQ+-Menschen in Tschechien und um die Rolle der katholischen Kirche in der öffentlichen Debatte zu diesem Thema.

Wenn Sie das Geschehen in Tschechien interessiert, schalten sie auch beim nächsten Mal wieder ein.

Einen schönen Tag wünscht Ihnen Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Dr. Michael Romancov ist ein tschechischer politischer Geograph, Pädagoge und Publizist. Seine Schwerpunkte sind Geopolitik, Geschichte der internationalen Beziehungen, Russland, der Nahe Osten und Afrika. Er ist Absolvent der Pädagogischen Fakultät, der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität. Seit 1998 unterrichtet er auch an der Karlsuniversität, und zwar an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien. Seit 2005 ist er auch an der Metropolitan University Prag tätig. Von 2001 bis 2007 war er Dozent an der Westböhmischen Universität (Fachbereich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen). Er schreibt für eine Reihe tschechischer Zeitschriften. Neben Tschechisch spricht er auch Englisch und Russisch.

Quelle

Dr. Karel Svoboda studierte Russistik und Osteuropastudien an der Karlsuniversität in Prag, wo er auch promovierte. Von 2012 bis 2013 war er Fulbright-Masaryk-Stipendiat an der University of Rochester, wo er Vorlesungen über politische Ökonomie der kommunistischen und postkommunistischen Welt hielt. Er hat ein langjähriges Interesse an der ehemaligen Sowjetunion. Er hat zahlreiche Artikel und wissenschaftliche Studien zu diesem Thema veröffentlicht.

Quelle

Dr. Jan Charvát ist ein tschechischer Politikwissenschaftler, der sich auf politischen Extremismus spezialisiert hat.

Er ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien der Karlsuniversität, Lehrstuhl für Politikwissenschaft. In der Vergangenheit arbeitete er auch am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Philosophie an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem.

Er studierte Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität und politische Soziologie an der Högskolan Dalarna in Schweden. Er promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit einer Arbeit über die Formen des politischen Extremismus in der Tschechischen Republik nach 1989. Sein Spezialgebiet sind politischer Extremismus und verwandte Themen (Radikalisierung, extreme Rechte, extreme Linke, Rassismus und Subkulturen).

Er hat zahlreiche Bücher, Beiträge und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Thema Extremismus arbeitet er seit langem mit dem Non-Profit-Sektor zusammen zum Beispiel mit den Organisationen People in Need, Hate Free Culture und In IUSTITIA.

Quelle

Folge 3: Die Lage der LGBTQIA+

Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu unseren Gästen.

Anmerkung: Die tschechischsprachigen Redebeiträge werden in der Folge wörtlich übersetzt, wodurch oft das generische Maskulin verwendet wird. In unseren Ausführungen möchten wir explizit alle Menschen ansprechen. 

Tschechien ist im Hinblick auf Homosexualität relativ liberal. 2006 wurde die Eingetragene Lebenspartnerschaft (registrované partnerství) für homosexuelle Paare eingeführt. Historisch war es eines der wenigen Länder, die in den 1930er Jahren eine eigenständige organisierte Homosexuellenbewegung aufzuweisen hatte. Bereits in den 1930er Jahren gab es in der damaligen Tschechoslowakei eine Homosexuellenbewegung, die insbesondere in Prag und Brünn aktiv war. Die Československá Liga pro sexuální reformu (Tschechoslowakische Liga für Sexualreform, CLSR) war ein aktiver Teil der Weltliga für Sexualreform, der fünfte und letzte Kongress der Weltliga fand vom 20. bis 26. November 1932 in Brünn statt. Eine spezielle Homosexuellenorganisation war Osvětové a společenského sdružení Přátelství (Aufgeklärter Gesellschaftsverband "Freundschaft", OSSP). Aus der tschechoslowakischen Bewegung heraus wurden mehrere Zeitschriften herausgegeben, so in Prag Hlas bzw. Novy hlas von 1931 bis 1937, Kamarad (1932 in Brno) und Hlas přírody (1938). Hauptziel der Bewegung war der Kampf gegen den §129, der Homosexualität in der Tschechoslowakei kriminalisierte. Durch die Besetzung des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutschland und die anschließende Besetzung der Tschechoslowakei musste die Bewegung ihre Arbeit einstellen.

Homosexualität wurde zum 1. Januar 1962 durch das neue Strafgesetzbuch der Tschechoslowakei entkriminalisiert. Im Jahre 1990 wurde die Homosexualität der Heterosexualität gleichgestellt und das Schutzalter auf 15 Jahre angeglichen und Homosexuelle Menschen konnten Militärdienst leisten. Erste Antidiskriminierungsgesetzesänderungen fanden 1999 durch die Novellierung des Beschäftigungsgesetzes statt. Seit 2001 (Gesetz 273/2001 Sb.) wird die sexuelle Orientierung im Zuge der Umsetzung der Antidiskriminierungsvorschriften der Europäischen Union weitgehender geschützt. Seit dem 1. Juli 2006 können gleichgeschlechtliche Paare eine Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. Das Gesetz Nr. 115/2006 Sb. wurde am 16. Dezember 2005 vom tschechischen Abgeordnetenhaus und am 26. Januar 2006 vom tschechischen Senat verabschiedet. Ein Veto des tschechischen Präsidenten Václav Klaus wurde vom tschechischen Abgeordnetenhaus am 15. März 2006 überstimmt.

Eine eingetragene Partnerschaft ist eine Verbindung, die von Personen des gleichen Geschlechts eingegangen werden kann. Viele Menschen glauben manchmal fälschlicherweise, dass es sich um dieselbe Art von Verbindung wie die Ehe handelt, die aber anders genannt wird, weil sie für Homosexuelle bestimmt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn sie unterscheidet sich von der Ehe nicht nur im Namen, sondern auch in den Rechten. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nur in bestimmten Ämtern und nur in Kreisstädten eine Lebenspartnerschaft eingehen; eine kirchliche Trauung ist nicht möglich. Nur der Standesbeamte ist anwesend, und die Trauung wird (da es sich nicht um eine Zeremonie handelt) ohne die notwendige Anwesenheit von Zeugen vollzogen. Sie behalten ihre Nachnamen, und wenn sie eine Änderung wünschen, müssen sie diese gegen eine Gebühr beantragen. Außerdem haben die Partner kein Gemeinschaftseigentum, so dass ihr Eigentum nicht automatisch zusammengelegt wird. Die Parre müssten es selbst in ein Gemeinschaftseigentum umwandeln. Sie haben keinen Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente oder auf die Adoption von Kindern. Am 28. Juni 2016 wurde der § 13 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 115/2006 Slg. über eingetragene Partnerschaften, der es einem der Partner untersagte, ein Kind einzeln zu adoptieren, vom Verfassungsgericht aufgehoben. Nach tschechischem Recht kann ein Kind somit entweder von einem verheirateten Paar, d. h. derzeit von einem Mann und einer Frau, oder von einer Einzelperson adoptiert werden, unabhängig von deren sexueller Orientierung. Pflegefamilien für homosexuelle Paare sind jedoch möglich, und es ist sogar ein Fall bekannt, in dem Kinder in der Pflegefamilie eines homosexuellen Paares untergebracht wurden. Problematisch ist jedoch die Situation von gleichgeschlechtlichen Paaren, die zwar gemeinsam Kinder aufziehen, bei denen aber nur einer von ihnen nach dem Gesetz als rechtlicher Elternteil gilt.

Am 13. Juni 2018 reichte eine Gruppe von 46 Abgeordneten der ANO, der Piraten, der ČSSD, der STAN, der TOP 09 und der KSČM im tschechischen Abgeordnetenhaus einen Vorschlag zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein, um die Eheschließung für homosexuelle Paare zu ermöglichen und die Institution der eingetragenen Partnerschaft abzuschaffen. Die Änderung würde es gleichgeschlechtlichen Paaren auch ermöglichen, gemeinsam ein Kind zu adoptieren und gemeinsam eine Pflegefamilie zu unterhalten. Der Vorschlag erhielt am 22. Juni die Zustimmung der Regierung. Die Prüfung der Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs verzögerte sich jedoch um fast drei Jahre, so dass die erste Lesung erst am 29. April 2021 stattfand, die zweite Lesung jedoch nicht stattfand und das Gesetz in der neuen Legislaturperiode des Parlaments nicht angenommen wurde.

Eine neue, ähnliche Änderung des Zivilgesetzbuches wurde von Abgeordneten aus den Fraktionen ODS, TOP 09, ANO, Piraten und STAN unter der Leitung des Abgeordneten Josef Bernard von der STAN-Bewegung im Juni 2022 vorbereitet. Einen Kompromissvorschlag hat der Abgeordnete der Christdemokraten Jiří Navrátil vorgelegt, dieser wird gerade auch im Abgeordnetenhaus verhandelt. Deer Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der Eingetragenen Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Im Abgeordnetenhaus entstand jedoch noch ein weiterer Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel dieser Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker der Bürgerdemokraten sowie der ANO. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist.Nach den internationalen Menschenrechtsnormen darf niemand gezwungen werden, zwischen seiner Identität und seiner körperlichen Unversehrtheit zu wählen. Für Transmenschen ist die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität eine wesentliche Voraussetzung für ein freies, authentisches und offenes Leben. Nach tschechischem Recht (dem Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste) gibt es eine Reihe von Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Um eine Geschlechtsumwandlung in Personaldokumenten und staatlichen Systemen zu erreichen, muss man sich einer medizinischen Operation unterziehen, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, d. h. einer Sterilisation. Eine obligatorische Operation, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, wird jedoch als ungerechtfertigter Eingriff in die Rechte von Trans-Personen betrachtet, wie im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwähnt. In tschechischen Personalausweisen ist das Geschlecht einer Person als obligatorische Angabe aufgeführt, und auch die Geburtsnummern geben das Geschlecht an. Im Zuge der Geschlechtsumwandlung können Trans-Personen ihren Namen nicht willkürlich ändern, sondern müssen dafür strenge Regeln befolgen. Sie sind nur berechtigt, ihren Namen in einen so genannten neutralen Namen zu ändern (die Annahme des Namens hängt vom jeweiligen Standesamt ab). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der Justizminister mit der Vorbereitung von Änderungen im tschechischen Recht begonnen, die die Sterilisierung von Trans-Personen, die im tschechischen Bürgerlichen Gesetzbuch und im Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste enthalten ist, abschaffen würden. Der Änderungsantrag wurde vorbereitet und mit den wichtigsten Ministerien konsultiert, aber der Regierung nie zur Genehmigung vorgelegt. Transgender-Personen werden in der Tschechischen Republik immer noch sterilisiert, was gegen mehrere Menschenrechte verstößt, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Privatsphäre und Familienleben und das Recht auf den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard.

Laut einem Bericht von ILGA-Europe vom Mai 2019 belegte die Tschechische Republik in einem Index zur Einstellung gegenüber sexuellen Minderheiten den 31. Platz von 49 untersuchten europäischen Ländern. Dem Bericht zufolge fehlte es in der Tschechischen Republik an Gesetzen zur Ahndung von Hassreden aufgrund der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts sowie an einer gesetzlichen Regelung für gleichgeschlechtliche Familien mit Kindern oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Der Bericht erwähnte auch eine Predigt von Peter Pitha, einem der ranghöchsten Führer der katholischen Kirche, der im Oktober 2018 im Veitsdom die Istanbul-Konvention kritisierte.

Obwohl die öffentliche Meinung zu rechtlichen Fragen in Bezug auf LGBTQIA+-Personen im 21. Jahrhundert einen positiven Trend zeigt (in einer Umfrage der staatlichen Agentur CVVM im 2018 gaben 19 % der Tschechen an, dass sie sich keine homosexuellen Menschen als Nachbarn wünschen. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 lag dieser Anteil bei 42 % der Befragten, 2005 bei 34 % und 2007 bei 29 %), lehnen in einer Umfrage gleicher Agentur aus dem Jahr 2020 die gleichgeschlechtliche Ehe immer noch mehr Menschen ab (37 %) als sie befürworten (34 %). Auch der Aussage, dass ein gleichgeschlechtliches Paar ein Kind genauso gut großziehen kann wie ein heterosexuelles Paar, stimmen mehr Bürger nicht zu (36 % stimmen nicht zu, 31 % stimmen zu).
LGBTQIAI+-Menschen in der Tschechischen Republik sind immer noch Ziel von Vorurteilen und Diskriminierung, die oft in Gewalt gipfeln. Laut einer Studie des Ombudsmanns für Rechte aus dem Jahr 2019 ist nur ein Drittel der tschechischen Bevölkerung der Meinung, dass es Diskriminierung von LGBTQIA+ Menschen gibt. Andererseits glauben drei Viertel der befragten LGBTQIA+-Personen, dass es in der Tschechischen Republik Diskriminierung gibt. Der Studie zufolge hat sich mehr als ein Drittel der LGBTQIA+-Personen in den letzten fünf Jahren diskriminiert gefühlt - eine Zahl, die dreimal so hoch ist wie die von der tschechischen Öffentlichkeit angegebene. 15 % der Befragten haben körperliche oder sexuelle Gewalt, Angriffe und Drohungen erlebt. Eines der drängendsten Probleme besteht darin, dass Fälle, in denen LGBTQIA+-Personen diskriminiert oder mit Hassreden konfrontiert werden, in der Regel nicht bei der Polizei gemeldet werden. Nicht weniger als 91 % der LGBTQIA+-Befragten haben solche Fälle nirgendwo gemeldet. 47 % der Befragten bezeichneten sie als triviale Vorfälle, die es nicht wert sind, gemeldet zu werden, und 44 % glaubten, dass eine Meldung ohnehin nichts bewirken würde.

Obwohl weitgehend säkular, scheint sich die tschechische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten auf ihre christlichen Wurzeln zu Besinnen. Zumindest werden die christlichen Werte im öffentlichen Diskurs oft thematisiert, vor allem wenn es um kontroverse Themen wie Ehe für Alle, LGBTQIA+, reproduktive Rechte der Frauen, oder Migration geht.

Gegen das Gesetz Ehe für alle stellen sich jedoch aktuell viele Abgeordnete. Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist ein relativ hoher Anteil an Christen unter den Spitzenpolitikern. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkularer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe.

Gemessen an der Zahl ihrer Gläubiger, sollte der Einfluss der katholischen Kirche eher bescheiden sein, doch beide ehemaligen Präsidenten, Václav Klaus und Miloš Zeman – beide Atheisten – pflegten enge Kontakte zu dem nicht unumstrittenen Kardinal Duka und ließen sich gerne mit ihm sehen. Es ist davon auszugehen, dass solche Beziehungen den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik stärken. Neben einigen Kirchenvertretern mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistenten oder Berater einflussreicher Politiker der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium.

Quellen:
LGBT práva v Česku
Amnesty International CZ

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber spreche ich mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu meinen Gästen. Zunächst in ich aber bei einem Umzug der Prague Pride, der Mitte August dieses Jahres stattfand…

Auf das untere Ende des Prager Wenzelsplatzes strömen nach und nach immer mehr Menschen. Überall sind Regebogenfarben zu sehen. Hier hinten, in der Mitte des Platzes, sehe ich eine riesige Regenbogenflagge. Sie liegt aktuell noch auf dem Boden, aber rundherum stehen bereits um die 20 Menschen, die die Flagge wohl gleich bei dem Umzug tragen werden. Jeden Augenblick beginnt hier der 13. Jahrgang der Prague Pride – ein Marsch, bei dem gleiche Rechte für alle Menschen gefordert werden, ganz egal welche sexuelle Orientierung oder welche Gender-Identität man hat.

Hallo, Sie gehen scheinbar auch auf die Prague Pride. Warum unterstützen Sie diesen Umzug?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir gehen natürlich auf die Pride, weil wir schwul sind, genauso wie alle unsere Freunde. Die Aktion hier macht einfach Spaß. Wir kommen schon seit fünf Jahren hierher, die Atmosphäre ist immer super. Aber es geht nicht nur um das Vergnügen, sondern auch um die Menschenrechte. Wir kämpfen nämlich für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare.“

Filip Rambousek:
"Und wie sehr freuen Sie sich auf den Umzug?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir freuen uns sehr. Die Stimmung hier ist super. Ich muss nur immer darüber nachdenken, dass wir bis nach oben auf die Letná-Anhöhe sehr viele Treppen zu steigen haben werden!“

Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Stellung von LGBTQIA+ in Tschechien? Wo besteht am meisten Nachholbedarf?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Vor allem bei der Regierung. Wenn sie sich auch dafür einsetzen würde, dann dürfte das auch Einfluss auf die breite Bevölkerung haben. Außerdem können gleichgeschlechtliche Paare immer noch nicht heiraten und für Trans-Personen ist es sehr schwierig, beim Amt ihr Geschlecht ändern zu lassen.“

Filip Rambousek:
"Das sollte sich also verbessern… Und dafür wollen Sie heute einstehen?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ganz genau.“

Filip Rambousek:
"Hallo, Sie haben eine große Regenbogenfahne dabei. Darf ich fragen, warum Sie heute hier sind?"

Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ich komme jedes Jahr hierher. Mir macht das einfach Spaß.“

Filip Rambousek:
"Wie schätzen Sie die rechtliche Stellung von queeren Menschen in Tschechien ein? Woran mangelt es am meisten? Was sollte sich ändern?"

Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Im Vergleich zu vor ein paar Jahren hat sich unser Leben wesentlich zum Guten gewandelt. Das steht ganz außer Frage. Wir sehen aber auch, dass viel Unsicherheit herrscht – vor allem, wenn man sich anschaut, welche Auswirkungen manche Meinungen aus Osteuropa haben. LGBTQIA+ müssen deshalb weiter kämpfen. Derzeit geht es dabei vor allem um die Ehe für alle.“

Filip Rambousek:
"Der farbenfrohe Umzug der Prague Pride hat sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Nach einem Marsch durch die Straßen der Altstadt und über eine Moldaubrücke erreichen die Teilnehmer den Letná-Park.

Guten Tag, haben Sie am ganzen Umzug teilgenommen?"

Dritte Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, wir sind vom Wenzelsplatz bis hier oben auf die Letná-Anhöhe mitgelaufen.“

Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Lage von LGBTQIA+ in Tschechien? Denken Sie, dass sie gute Bedingungen haben? Oder sehen Sie hingegen eine Menge Luft nach oben?"

Dritte Person auf der Prague Pride(übersetzt ins Deutsche):
„Die Lage ist nicht gut. Es gibt ein juristisches Vakuum. Wir wünschen uns eine neue Rechtsprechung, durch die die Rechte von queeren Menschen mit denen von heterosexuellen Paaren und Familien gleichgesetzt werden. Denn für Regenbogenfamilien mit Kindern führt die gegenwärtige Lage zu viel Stress.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"An dem Umzug sollen den Angaben zufolge bis zu 60.000 Menschen teilgenommen haben. Wie mehrere Teilnehmer*innen sagten, ist die Ehe für alle in Tschechien gerade ein wichtiges Thema. Als erster Schritt wird dabei oft die Entkriminalisierung der Homosexualität angesehen, zu der es 1961 in der sozialistischen Tschechoslowakei kam. Michal Pitoňák forscht am Nationalen Institut für seelische Gesundheit. Er sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„In der Tschechoslowakei wurde Homosexualität ab dem Beginn der 1960er Jahren nicht mehr bestraft. Das hing auch mit einigen Gerichtsprozessen zusammen, die als ungerecht angesehen wurden. Zudem war die Sexualwissenschaft in der Tschechoslowakei recht weit fortgeschritten. Dank fortschrittlicher Sexologen ist den Menschen klargeworden, dass Homosexuelle keine Störung haben und sie deshalb auch nicht verfolgt werden sollten.“

Filip Rambousek:
"Zum Vergleich: In der DDR wurde die Homosexualität erst 1968 legal, in Westdeutschland sogar noch einige Jahre später. In allen Fällen galt dabei eine Altersgrenze von 18 Jahren. Eine weitere Verbesserung für die Stellung gleichgeschlechtlicher Paare trat erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Nach 1989 entstanden in der Tschechoslowakei – und später in der Tschechischen Republik – schnell Organisationen, die für Gleichberechtigung eintraten. Sie forderten unter anderem eine Senkung der ungleichen Altersgrenze für Geschlechtsverkehr von 18 auf 15 Jahre, und sie machten sich stark für den Schutz gegen sexuell übertragbare Infektionen. In den 1990er Jahren öffneten sich die Grenzen, und dadurch erlebte die Prostitution einen großen Aufschwung. Tschechien wurde als slawisches Land gesehen, das für die gut betuchten Kunden aus dem Westen recht erschwinglich war. Die NGOs beschäftigten sich damals vor allem mit der Frage, wie die Angehörigen sexueller Minderheiten ein sicheres Leben führen können. Zu dieser Zeit wurden auch erstmals Rufe danach laut, gleichgeschlechtliche Paare als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, die ein Recht darauf haben, eine Ehe einzugehen.“

Filip Rambousek:
"Im Laufe der 1990er Jahre tauchten gleich mehrere Anträge auf, homosexuelle Ehen anzuerkennen. Keiner wurde aber angenommen. Einen Teilerfolg konnten die Befürworter*innen erst 2006 verzeichnen. Damals wurde das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft beziehungsweise die registrierte Partnerschaft verabschiedet. Michal Pitoňák sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Erst im ungefähr fünften Entwurf wurde das Gesetz 2006 angenommen – und das in einer Minimalversion. Die Vorlage umfasste nämlich eine Bedingung, die die Fraktionen der Bürgerdemokraten und der Christdemokraten durchsetzten. Dadurch wurde registrierten Partnern explizit verboten, eine Adoption zu beantragen. Und dies galt auch für jeden der Partner individuell.“

Filip Rambousek:
"Diese Regelung hat zu einer absurden Lage geführt, wie die Juristin Adéla Horáková von der Initiative Jsme fér (Wir sind fair) an einem konkreten Beispiel darlegt:"

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man homosexuell war, aber keine Lebenspartnerschaft eingetragen hatte, konnte man als Alleinstehender ein Kind adoptieren. Sobald man aber eine Partnerschaft registrieren ließ, verlor man dieses Recht. Für einen normalen Menschen muss das doch absurd klingen. Aber dieses Vorgehen ist leider symptomatisch für die Gesetzgebung in Tschechien, was die Rechte von LGBTQIA+ angeht. Es kommt zwar zu kleinen Zugeständnissen, gleichzeitig soll uns aber auch das Leben schwerer gemacht werden – und eine wirkliche Gleichberechtigung rückt so in weite Ferne. Das Verbot individueller Adoptionen bestand zehn Jahre lang und wurde erst durch ein Urteil des Verfassungsgerichts geändert.“

Filip Rambousek:
"Auch nachdem diese strittigen Bedingungen angepasst worden seien, bestünden aber weiterhin spürbare Unterschiede zwischen Ehe und registrierter Partnerschaft, erläutert Pitoňák:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist im Grunde ein formeller Rechtsakt. Man braucht keine Zeugen, man braucht im Grunde gar nichts. Sie bringt keinen Anspruch auf eine Namensänderung mit sich, diese muss erst gesondert beantragt werden. Es entsteht auch keine Gütergemeinschaft. Wenn einer der Partner stirbt, steht dem Hinterbliebenen keine Witwenrente zu. Anders ist das, wenn einer von zwei Ehepartnern ums Leben kommt. Dann rechnet das System mit der zweiten Person, und es entsteht ein Anspruch auf Unterstützung. Bei eingetragenen Lebenspartnern ist das nicht so.“

Filip Rambousek:
"Adéla Horáková macht noch auf einen weiteren zentralen Unterschied aufmerksam: So führt die Lebenspartnerschaft aktuell nicht zu den gemeinsamen Rechten in einer Familie."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Kinder, die mit zwei Müttern oder Vätern aufwachsen, wachsen rechtlich in einem schlechteren Umfeld auf als der Nachwuchs eines heterosexuellen Paares. Die Kinder gleichgeschlechtlicher Paare haben damit kein Problem, sie sehen beiden Elternteile als ihre Eltern an, als zwei Mütter oder Väter. Vor dem Gesetz gestaltet sich das jedoch anders. Einer der beiden Elternteile gilt im Grunde als Mitbewohner. Es ist schon absurd, dass sich Menschen, die sich gegen die Rechte von Familien stellen, auf einmal den Rechten von Kindern verschreiben. Damit meine ich die Vertreter der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie, die Christdemokraten, die Bürgerdemokraten und einen großen Teil der Partei Ano. Sie alle behaupten, sie wollten die Kinder beschützen. In Wahrheit tun sie jedoch das Gegenteil: Sie schaden ihnen. Die Kinder rufen: ‚Schützt unsere Familien, erkennt unsere beiden Eltern an.‘ Aber diese Politiker sagen: ‚Wir schützen euch, indem wir eure Eltern nicht anerkennen.‘“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Der Gesetzesvorschlag zur Ehe für alle wird derzeit im Abgeordnetenhaus verhandelt. Eingebracht wurde er von Abgeordneten der liberalen Parteien, also den Piraten, der Top 09 und der Bürgermeisterpartei Stan. Aber auch einige Politiker*innen der konservativen Bürgerdemokraten und der populistischen Ano haben sich daran beteiligt. Gleich bei der ersten Lesung sorgte die Novelle für hitzige Diskussionen – und es wurde auch starke Kritik laut. Šimon Heller, Abgeordneter der Christdemokraten, sagte damals:"

Zitat von Šimon Heller (KDU-ČSL) (übersetzt ins Deutsche):
„Bei uns in Südböhmen, da ist Rindfleisch Rindfleisch und Hühnerfleisch Hühnerfleisch. Alles hat seinen Namen. Und die Ehe wird für mich immer ein Bund von einem Mann mit einer Frau sein.“

Filip Rambousek:
"Auch Jan Síla von der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) driftete in seiner Rede ab zu abfälligen Aussagen. In Zusammenhang mit Homosexualität sprach er etwa von einer „biologischen Anomalie“. Der christdemokratische Abgeordnete Hayato Okamura äußerte sich etwas gemäßigter. Aber auch er ist gegen die Ehe für alle, Zitat:"

Zitat von Hayato Okamura (übersetzt ins Deutsche):
„Natürlich fordert eine Gruppe von Menschen Rechte ein. Darüber lässt sich diskutieren. Es geht um die Wünsche einiger in dieser Gruppe, denn wie wir wissen, will nicht jeder, der in einer homosexuellen Beziehung lebt, auch gleich verheiratet sein und hält an der Bezeichnung Ehe fest. Ich will aber klarstellen, dass es hier um eine wichtige Sache geht. Die Institution der Ehe hängt eng mit der Institution der Familie zusammen und somit auch mit der Erziehung von Kindern, Enkeln und künftigen Generationen. Wir dürfen nicht die wichtigen Rechte von Kindern vergessen, die in einer Ehe als Verbindung von Mann und Frau aufwachsen und aus ihrer Überzeugung heraus diesen Ehebund in seiner Form als wertvoll ansehen. Nicht alles, was es hier über lange Jahre gab, ist schlecht. Dass es nun eine neue Entwicklung gibt, die in ein paar anderen Staaten vorangetrieben wurde, heißt noch lange nicht, dass dieser Trend auch richtig ist.“

Filip Rambousek:
"Da Ansichten wie diese im tschechischen Parlament sehr stark vertreten sind, entstand im Abgeordnetenhaus auch ein Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel der Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker*innen der Bürgerdemokraten sowie der Ano. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist. Das Bemühen, die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in der Verfassung zu definieren, ist laut Adéla Horáková keine Überraschung."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein derartiges Gesetz ist ein Osteuropa keine Neuheit. Es kann als Flaggschiff homophober Regierungen angesehen werden. Natürlich haben Ungarn und Polen die Änderung schon durchgewinkt. Zuletzt wurde sie 2020 in Russland verabschiedet. Der Text, der nun im tschechischen Parlament liegt, ist fast identisch mit dem, der in die russische Verfassung Eingang fand. Dabei kommt der Vorschlag von Parteien wie den Bürgerdemokraten und Christdemokraten, deren Slogan noch im Wahlkampf lautete, dass Tschechien zum Westen gehören würde.“

Filip Rambousek:
"Auch von der tschechischen Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, gibt es Kritik an den Bestrebungen, die Ehe in der Verfassung als Bund von Mann und Frau zu definieren:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Recht sollte vor allem zum Schutz konkreter Menschen da sein, nicht irgendwelcher abstrakter Rechtsinstitutionen. Es geht nicht darum, die Familie zu schützen, sondern ihre einzelnen Mitglieder – die Kinder, Mütter und Väter. Wir sollten nicht die Ehe schützen, sondern die Ehemänner und Ehefrauen, die einzelnen Glieder dieses Bundes und die Familien als solche. Durch rechtliche Regelungen können soziale oder etwa steuerliche Vorteile ermöglicht werden. Das Gesetz ist aber nicht dazu da, um vor einer mutmaßlichen Gefährdung zu schützen oder nur eine richtige Form einer Partnerschaft vorzuschreiben.“

Filip Rambousek:
"Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Debatte zu den Rechten gleichgeschlechtlicher Paare nicht nur zwischen diesen zwei Polen abspielt, wo auf der einen Seite die Unterstützer*innen der Ehe für alle und auf der anderen die Befürworter*innen der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau stehen. Die tatsächliche Vielfalt der Meinungen zeigt etwa die Haltung des christdemokratischen Parlamentariers Jiří Navrátil:"

Jiří Navrátil (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Debatte im Abgeordnetenhaus verfolgt habe, habe ich beschlossen, zu ihrer Kultivierung beizutragen und einen Kompromiss anzubieten. Ich wollte dadurch verhindern, dass die Ehe in der Verfassung als Bund zwischen Mann und Frau definiert wird. Denn dadurch wären sämtliche Bemühungen um eine bessere rechtliche Stellung gleichgeschlechtlicher Paare in Zukunft blockiert. Ich habe außerdem festgestellt, dass einige Abgeordnete zwar für die Ausweitung der Rechte gleichgeschlechtlicher Paare waren, sie aber das Wort ‚Ehe‘ oder die gemeinsamen Rechte als Familie störten. Meine Parteikollegen und ich haben deshalb an einem Alternativvorschlag gearbeitet. Denn von uns Christdemokraten sollte niemand erwarten, dass wir aktiv die Ehe für alle unterstützen.“

Filip Rambousek:
"Der genannte Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der registrierten Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Laut Michal Pitoňák ist dieser Plan aber nicht ausreichend."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Es wird behauptet, die Vorlage sorge für eine Rechtegleichstellung. Dabei wird der Bereich des Familienrechts komplett außen vorgelassen – ob es nun um die Anerkennung der Rechte von Eltern geht oder um die Möglichkeit, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Es handelt sich um ein Oxymoron, einen weiteren Entwurf, durch den uns die Vorstellung aufgezwängt werden soll, dass es gleiche Rechte für alle geben kann, ohne dass wir das Wichtigste gewährleisten: und zwar den Schutz gleichgeschlechtlicher Familien.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Während die Ehe für alle im Abgeordnetenhaus kontrovers diskutiert wird, herrscht in der tschechischen Öffentlichkeit relative Einigkeit. Seit Langem unterstützen zwei Drittel der Menschen in Tschechien die gleichgeschlechtliche Ehe. Wie kommt dieser Zwiespalt zwischen der Politik und der Stimmung in der Gesellschaft zustande? Die Juristin Adéla Horáková sagt dazu:"

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, und ich habe immer noch keine Antwort darauf. In jedem Falle sticht der Zwiespalt absolut ins Auge. Alle merken das, die Journalisten, LGBTQIA+ und auch alle anderen, die uns unterstützen. Von überall werden ich gefragt: ‚Wie kann das sein, dass es nicht vorwärts geht? Die Mehrheit in der Öffentlichkeit steht doch hinter uns?‘ Diese Fragen sollten sich die Abgeordneten von Freiheit und direkte Demokratie, Bürgerdemokraten, Christdemokraten und einem großen Teil der Partei Ano stellen. Viele Politiker haben eine derart verbissene Meinung, dass es keinen Raum gibt, mit ihnen zu diskutieren. Aber wenn das tschechische Parlament die Stimmungen in der Gesamtgesellschaft abbilden würde, dann hätten wir schon längst die Ehe für alle.“

Filip Rambousek:
"Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist laut Horáková der relativ hohe Anteil an Christ*innen unter den Spitzenpolitiker:innen. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkulärer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu vermählen – standesamtlich oder kirchlich. Die kirchliche Eheschließung liegt komplett in der Macht der Kirchen. Sie können bestimmen, zu welchen Bedingungen sie wen trauen wollen. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Der Staat greift in keiner Form ein. Für diejenigen, die nicht kirchlich heiraten wollen, gibt es die standesamtliche Trauung. Die römisch-katholische Kirche in Tschechien greift aber stark in die Debatte zu diesen weltlichen Trauungen ein und sagt uns, wie sie aussehen sollen. Die Kirche betreibt aktive Lobbyarbeit dafür, dass die weltliche Trauung für homosexuelle Paare nicht möglich gemacht wird.“

Filip Rambousek:
"Die Haltungen und Ambitionen von führenden Vertretern der katholischen Kirche werden etwa deutlich an einer Erklärung, die im Juni dieses Jahres von der tschechischen Bischofskonferenz verabschiedet wurde, Zitat:"

Zitat der Bischofskonferenz (Citace ČBK (mužský hlas)) (übersetzt ins Deutsche):
„Mit Sorge beobachten wir die Bestrebungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen als ‚Ehe‘ zu legalisieren. Wir danken den Gesetzgebern, die sich einer solchen Änderung widersetzen. Die Ehe basiert auf der treuen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die offen für die Aufnahme von Kindern sind. Als ein solches Bündnis genießt die Ehe die Unterstützung des Staates. Eine harmonische Familie, die aus Vater und Mutter besteht, ist das beste Umfeld für die Erziehung von Kindern. Woher nimmt unsere Gesellschaft den Mut, Kindern in Zukunft das Recht zu verweigern, ihre Mutter und ihren Vater zu haben und zu kennen? Ist das nicht eine neue Form von Gewalt gegen Kinder?“

Filip Rambousek:
"Neben einigen Kirchenvertreter*innen mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistent*innen oder Berater*innen einflussreicher Politiker*innen der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium. Die Menschenrechtsbeauftragte Klára Šimáčková Laurenčíková sagt:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein Teil der katholischen Kirche und einige Lobbyorganisationen – wobei man hier unterscheiden muss, dass es sich nicht um ein und dasselbe handelt – setzen das Thema der Gleichberechtigung von LGBTQIA+ mit dämonischen Zuständen gleich. Sie verbreiten in der Öffentlichkeit und auch unter den Politikern Horrorszenarien, was mit unserer Gesellschaft passieren würde, wenn die Ehe für alle gesetzlich verankert wird. Wenn dann noch die andere Seite nicht dazu in der Lage ist, diese Informationen kritisch zu bewerten, fallen die Aussagen auf fruchtbaren Boden. Diese Angstmache kann dann funktionieren, die Unterstützung für LGBTQIA+ sinken und die Angst die öffentliche Meinung beeinflussen – oder genauer gesagt die Ansichten der Politiker.“

Filip Rambousek:
"Zugleich muss aber betont werden, dass die katholische Kirche – und auch die anderen christlichen Kirchen in Tschechien – keine homogenen Organisationen sind. Mehrere Angehörige christlicher Kirchen haben etwa in diesem Jahr die tschechische Regierung dazu aufgefordert, die Mitglieder der „Allianz für die Familie“ von allen Beratungsorganen und weiteren Strukturen des Staates auszuschließen. Die entsprechende Petition wurde von 17.000 Menschen unterzeichnet. Die evangelische Kirche der Böhmischen Brüder wiederum hat in diesem Jahr beschlossen, dass ihre Pfarrerinnen und Pfarrer homosexuelle Paare segnen dürfen. Und auch in der katholischen Kirche sind die Ansichten zur gleichgeschlechtlichen Ehe mannigfaltiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies zeigt etwa der vergleichsweise moderate Ton des katholischen Priesters Miloš Szabo – wenngleich auch er auf die zentralen Unterschiede zwischen der kirchlichen und der weltlichen Auffassung von Ehe aufmerksam macht."

Miloš Szabo (übersetzt ins Deutsche):
„In der Kirche wird von der Unauflöslichkeit der Ehe gesprochen. Bevor jemand eine kirchliche Ehe eingeht, muss er damit übereinstimmen. Bevor er dies schriftlich bekräftigt, wird er bei der Trauung gefragt, ob er diese Form der Ehe eingehen möchte. Im Zivilrecht hingegen taucht diese Bedingung überhaupt gar nicht auf. Aber niemand aus der Kirche würde doch auf die Idee kommen, auf die Barrikaden zu gehen, weil Ehen abgeschlossen werden, die nicht den Bedingungen der Kirche entsprechen und dass man in so einem Fall doch nicht von einer Ehe sprechen könnte. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum die Kirche nun solch einen Radau macht, weil sich die Zivilgesellschaft weiterentwickelt – obwohl es um eine Entwicklung geht, die ich persönlich nicht gerade für glücklich halte, denn der Begriff ‚Ehe‘ bekommt dadurch eine ganz andere Bedeutung. Es wird wohl auch nicht zum letzten Mal sein, dass sich die Terminologie des Zivilrechts und des Kirchenrechts voneinander unterscheidet. Ich werde auf gar keinen Fall eine Petition für die Ehe für alle unterschreiben. Das heißt aber nicht, dass ich damit ein Problem hätte, wenn sie in der Zivilgesellschaft eingeführt werden würde.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Wie also ist es um die Lage queerer Menschen in Tschechien bestellt? Und wie steht das Land im internationalen Vergleich da? Das hänge natürlich auch davon ab, mit wem man sich vergleiche, sagt Adéla Horáková."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man Tschechien mit Ungarn, Polen oder der Slowakei vergleicht, stehen wir natürlich sehr gut da. Wenn man aber Deutschland, Österreich oder Großbritannien nimmt, sieht es schon nicht mehr so toll aus. Ich habe das Gefühl, dass die Politiker Tschechiens eigentlich weniger gern Vergleiche zu Polen, Ungarn und der Slowakei anstellen. Sobald es aber um das Thema LGBTQIA+ geht, um gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien, wird geradezu gewetteifert, wer sich am schnellsten an Ungarn oder Polen orientiert.“

Filip Rambousek:
"Auch die Regierungsbeauftrage für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, hält die aktuelle rechtliche Stellung von LGBTQIA+ für nicht hinreichend."

Klára Šimáčková Laurenčíková(übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwar etwa die registrierte Lebenspartnerschaft, wenngleich in einer eingeschränkten Form. Wir haben aber etwa keinen Rechtsschutz von queeren Menschen vor Hasskriminalität. Und nach wie vor muss man sich sterilisieren lassen, um beim Amt eine Geschlechtsänderung zu beantragen. An beidem wird gearbeitet – am besseren Schutz gegen Hasskriminalität und an einer Abschaffung der verpflichteten Kastrierung. In den anderen Visegrád-Staaten sind einige dieser Teilfragen bereits geklärt, aber dort gibt es dann dafür noch nicht einmal die Möglichkeit, die Partnerschaft registrieren zu lassen. Ich würde also nicht sagen, dass Tschechien sonderlich positiv heraussticht. Es besteht auf jeden Fall Luft nach oben.“

Filip Rambousek:
"Mit dieser Einschätzung stimmt auch die Juristin Adéla Horáková überein. Vor allem die Zwangssterilisation sei ein drängendes Problem, auf das unterschiedliche Nichtregierungsorganisation bereits seit vielen Jahren aufmerksam machen."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ist eines der letzten europäischen Länder, in dem es so etwas noch gibt. Sogar Polen und Ungarn haben diese Bedingung bereits abgeschafft. Was das angeht, stehen wir also viel schlechter da. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die tschechische Regelung bereits als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention deklariert. Bei den Vereinten Nationen wird ein solches Vorgehen mit Folter gleichgesetzt. Es handelt sich um einen erzwungenen Eingriff in den Körper eines Menschen. Diese Leute bedrohen niemanden, sie stören niemanden, sie wollen einfach nur einen Buchstaben auf ihrem Personalausweis ändern lassen. Und als Voraussetzung dafür zwingt der Staat die Menschen, sich einer derart schwerwiegenden Operation zu unterziehen.“

Filip Rambousek:
"In einem Gesichtspunkt kann Tschechien gegenüber Polen, Ungarn oder der Slowakei aber Punkte gut machen. So wolle die breite Öffentlichkeit hierzulande schon seit Langem die Rechte von LGBTQIA+ stärken, sagt Michal Pitoňák."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ähnelt in dieser Hinsicht eher Staaten in Westeuropa. Dies zeigt etwa die Landkarte der öffentlichen Meinung, die vom Thinktank ‚Queer Geography‘ veröffentlicht wird. Tschechien denkt wie Deutschland oder Österreich – und nicht wie Polen, Ungarn und die Slowakei. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Gesellschaften der vier Visegrád-Länder deutlich voneinander.“

Filip Rambousek:
"Auch Adéla Horáková schätzt die gesamtgesellschaftliche Stimmung gegenüber queeren Menschen in Tschechien positiv ein."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Vereinfacht kann man sagen, dass das Problem nicht bei den Menschen auf der Straße herrscht. Natürlich fallen auch hierzulande feindselige Äußerungen, und Menschen werden diskriminiert. Das sind Probleme, auf die wir ständig aufmerksam machen. Es handelt sich aber nicht um eine Eigenschaft der gesamten tschechischen Gesellschaft. Die meisten Anfeindungen kommen leider aus dem tschechischen Parlament und von Vertretern der Kirche.“

Filip Rambousek:
"Deshalb kann Horáková zufolge nicht ausgeschlossen werden, dass Tschechien den gleichen Weg einschlägt wie Ungarn oder Polen. Dort hat sich die Situation für LGBTQIA+ in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt viele konkrete Gründe für diese Befürchtungen, da reicht es sich anzuschauen, welche Gesetze hierzulande im Abgeordnetenhaus eingebracht werden und wie sich Politiker quer durch das Parteienspektrum äußern – ganz gleich, ob sie in der Regierung sind, oder nicht. Die queeren Menschen in den Visegrád-Staaten haben es wegen der Regierungen nicht leicht. Im weltweiten Kontext verkommt Osteuropa langsam zu einem homophoben Freilichtmuseum.“

Filip Rambousek:
"Dies belegen auch die Ergebnisse der regelmäßigen Studien, die in 50 Ländern vor allem in Europa vom queeren Konsortium ILGA-Europe durchgeführt werden. Michal Pitoňák sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„2013 lag Tschechien unter den rund 50 Ländern auf dem 18. Platz. 2023 belegte das Land aber nur noch Rang 33. Der Trend geht also nach unten. Und der Grund dafür ist offensichtlich. Seit 2006 wurde hierzulande – mit Ausnahme der registrierten Lebenspartnerschaft von 2016 – nichts für queere Menschen unternommen. In anderen Staaten hingegen verschlafen die Politikerinnen und Politiker die Entwicklung nicht. Und sie schrecken auch nicht davor zurück, Entscheidungen zu treffen, die sie den Bürger mitunter erst einmal erklären müssen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die dritte Folge von „Sechsmal Tschechien“ ist an ihrem Ende angelangt. In der nächsten Ausgabe schaue ich mir an, wie es hierzulande um die Lage der nationalen Minderheiten bestellt ist.

Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Adéla Horáková ist Anwältin und eines der Gesichter der Initiative "It's Only Fair" (Jsme fér, Wir sind fair), die sich für die Ehe von Schwulen und Lesben in der Tschechischen Republik einsetzt ("Ehe für alle"). Sie ist Mitglied des Exekutivausschusses von PROUD (Plattform für Gleichheit, Anerkennung und Vielfalt) und Vorstandsmitglied des Prager Wirtschaftsforums. In der PROUD arbeitet sie ehrenamtlich als Anwältin, um Menschen vor Diskriminierung zu schützen, und bietet Rechts- und Kommunikationsdienstleistungen an. Bevor sie sich dem LGBTQIA+-Aktivismus anschloss, arbeitete sie 12 Jahre lang als Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht in erstklassigen Anwaltskanzleien in der Tschechischen Republik.

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Dr. Michal Pitoňák absolvierte die naturwissenschaftliche Fakultät der Karlsuniversität in Prag mit den Schwerpunkten Biologie (B.Sc., M.Sc.), Geographie (B.Sc., M.Sc.), Sozialgeographie und Regionalentwicklung (RNDr., Ph.D.). In seiner Dissertation eröffnete er erstmals das interdisziplinäre Thema der so genannten Geographien der Sexualitäten in der tschechischen Geographie, in dessen Rahmen er vor allem die so genannte soziale Heteronormativität und deren Einfluss auf die soziale Organisation und Lebensqualität nicht-heterosexueller Menschen in der Tschechischen Republik untersuchte. Im Zuge der weiteren Vertiefung seines Interesses an diesem Forschungsgebiet befasste sich Dr. Pitoňák mit Themen wie der raum-zeitlichen Aushandlung nicht-heterosexueller Identitäten, Homophobie in Schulen, Queer-Theorie, Theorien über Minderheitenstress und dessen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Nicht-Heterosexuellen, der sozialen Epidemiologie von HIV/AIDS, Entstigmatisierung und LGBTQIA+-Psychologie, die er derzeit im Rahmen der so genannten "Sozialpsychologie der Heterosexualität" entwickelt. Syndemische Theorie, ein ganzheitlicher biopsychosozialer Ansatz mit dem Potenzial, transdisziplinäre Erkenntnisse zu gewinnen.

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Jiří Navrátil ist ein tschechischer Politiker, seit Oktober 2021 Mitglied der Abgeordnetenkammer der Tschechischen Republik, seit 2012 Abgeordneter und seit 2016 stellvertretender Gouverneur der Mährisch-Schlesischen Region, seit 2010 Abgeordneter und stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Mořkov in der Region Novojičín, Mitglied der KDU-ČSL.

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Miloš Szabo ist ein römisch-katholischer Priester, der ursprünglich aus der Slowakei stammt. Seit 1995 lebt er in Prag, wo er als Bezirksvikar des IV. Prager Vikariats und Pfarrer an der Kirche St. Prokop in Žižkov und seit Juli 2015 auch als Administrator excurrendo in der Pfarrei der Kirche der Erhöhung des Heiligen Kreuzes in Prag - Vinoř tätig ist. Seit Oktober 2015 ist er Dozent für Kirchenrecht und dessen Geschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag und gleichzeitig Pfarrer der St. Gothard Kirche in Prag 6-Bubeneč. Er ist Richter am Metropolitankirchengericht in Prag, Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Artikel. Außerdem war er viele Jahre lang Projektleiter der Nacht der Kirchen und Mitglied des Teams für posttraumatische Intervention bei der Polizei der Tschechischen Republik in Prag.

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Folge 4: Die Lage nationaler Minderheiten in Tschechien

Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer, Vietnamesinnen und Vietnamesen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter vieler weiterer nationaler Minderheiten sind bereits seit mehreren Jahren Teil der tschechischen Gesellschaft. Wie ist das Leben in Tschechien für sie? Wie gut kommen sie mit dem Rest der Gesellschaft aus? Inwiefern begegnen sie Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung? Und wie stark ist der Rechtsextremismus in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Experten für politischen Extremismus Jan Charvát, dem Sozialwissenschaftler Ivan Cuker – und vor allem mit Vertreterinnen und Vertretern einiger nationaler Minderheiten: der Regierungsbeauftragten für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, der Roma-Historikerin Renata Berkyová und dem tschechisch-vietnamesischen Unternehmer Tung Nguyen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der deutschen und ungarischen Minderheit ist die Tschechoslowakei eine ziemlich homogene Gesellschaft geworden. In den letzten dreißig Jahren wurde die tschechische Bevölkerung doch allmählich etwas bunter. Nach wie vor problematisch ist das Verhältnis der mehrheitlichen Bevölkerung zur Roma-Minderheit. Während viele einen Missbrauch des Sozialsystems durch die Roma beklagen und härteres Durchgreifen fordern, gibt es zunehmend auch Stimmen, die nach einer besseren Integration und dem Abbau der sozialen Benachteiligung rufen. Neben der Schaffung der Chancengleichheit wird auch die Pflege der Roma-Identität und -Kultur als Lösungsansatz gesehen.

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft 1989 organisierten sich Roma einerseits verstärkt in Vereinen und Verbänden, andererseits bestand die gesellschaftliche Diskriminierung fort. So waren Roma bevorzugtes Angriffsziel neonazistischer Gruppierungen, wie beispielsweise im März 2010 in Vítkov in Mährisch-Schlesien, wo ein zweijähriges Mädchen bei einem Brandanschlag lebensgefährliche Verbrennungen erlitt. In Tschechien trat die politisch bedeutungslose, aber offensiv auftretende neonazistische Partei Národní strana um Petra Edelmannová wiederholt mit der Forderung nach einer „Endlösung der Zigeunerfrage“ auf, womit eine Deportation nach Indien gemeint war. In Ústí nad Labem wurde am 13. Oktober 1999 eine Mauer in der mehrheitlich von Roma bewohnten Matiční-Straße errichtet. Nach Protesten und der Zusage finanzieller Förderung für den Aufkauf von drei Einfamilienhäusern von Altanwesenden und für Sozialprogramme wurde die Mauer nach einigen Wochen am 24. November wieder abgebaut. Im Sozialen-Netzwerk facebook unterstützten im März 2010 85.000 Personen eine Kampagne gegen freiwilligen Schulunterricht auf Romani in einzelnen tschechischen Schulen. In der Presse wurde in der Vergangenheit über Sterilisationen von Romafrauen berichtet, die mit diesem Eingriff meist nicht einverstanden oder darüber im Vorfeld nicht informiert worden waren; diese Praktiken bestünden auch nach Ende der kommunistischen Ära noch fort. Wiederholt wurde außerdem über Ausreisewellen asylsuchender Roma nach Übersee, insbesondere nach Kanada, berichtet. Dies sei der Grund, warum es von Juli 2009 bis November 2013 eine Visumpflicht für tschechische Staatsbürger zur Einreise und Aufenthalt in Kanada gab.

Generell leben Roma verglichen mit der durchschnittlichen Dominanzgesellschaft in einer schlechtergestellten Umgebung. Zum Teil wurden sie in den Städten mit anderen finanziell schwachen Einwohnern zusammen angesiedelt, wodurch arme Stadtwohngebiete wie Most-Chanov oder Litvínov-Janov entstanden sind. Zum anderen Teil ziehen bessergestellte Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft aus den einkommensschwachen Gebieten weg. Es werden immer noch überdurchschnittlich viele Roma-Kinder auf Sonderschulen zugewiesen, womit ihnen die Chance auf höhere berufliche Qualifikationen mangelt. Eine Vertretung der Roma im tschechischen oder slowakischen Parlament fehlt, was auch dadurch begünstigt wird, dass ein Gruppenzusammenhalt nicht sehr stark ausgeprägt ist. Eine Umsetzung der Minderheitenrechte wie beispielsweise muttersprachlicher Schulunterricht, Sprachgebrauch bei Behörden usw. ist in Tschechien bis jetzt noch nicht vollständig erfolgt.

Die in den 1990er Jahren fehlenden sozialen Programme unterstützten das Entstehen sozialer Brennpunkte in ärmeren Gegenden Tschechiens, insbesondere in Nordböhmen und Nordmähren. In den letzten Jahren sind vermehrt Konflikte mit sozialem und rassistischem Hintergrund zu verzeichnen, beispielsweise 2011 im Schluckenauer Zipfel oder in Krupka.

Dennoch, eine Untersuchung der Meinungsforschungsorganisation CVVM im Jahr 2019 ergab, dass das Verhältnis zwischen Roma und Tschechen derzeit so gut ist wie seit 20 Jahren nicht mehr. 23 % der befragten Personen nehmen das Zusammenleben von Tschechen und Roma positiv wahr, was das beste Ergebnis aller Zeiten ist. Als Grund dafür wird das gestiegene Interesse der Medien an der Berichterstattung über Roma-Themen vermutet. Einigen zufolge spielte dabei auch die beliebte Fernsehserie Most! eine Rolle, die Anfang 2019 vom tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurde und sich um Roma-Themen drehte.

Neben den ca. 260.000 (ca. 2,2 % der Bevölkerung) Roma leben in Tschechien auch 80.000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, mehr als 200.000 Slowaken und vor dem Februar 2022 auch mehr als 200.000 Ukrainer.

Die Vietnamesen in Tschechien bilden nach den Ukrainern und Slowaken die drittgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe in Tschechien. Es wird vermutet, dass sich inoffiziell deutlich mehr Vietnamesen in Tschechien aufhalten. Eine Schätzung von ARTE spricht von ca. 200.000 Vietnamesen. Die vietnamesische Minderheit ist nicht als isolierte Gruppe zu sehen, sondern u. a. durch innereuropäische Migration eng verknüpft mit den Vietnamesen in Polen. In mehreren Verträgen zwischen der Tschechoslowakei und Vietnam wurde ab den 1950er Jahren die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern vereinbart. Bestandteil war auch, dass einige, vornehmlich männliche, Vietnamesen als Arbeiter, Lehrlinge und Studenten in die Tschechoslowakei kommen konnten. Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurden die Anwerbebemühungen für Arbeiter verstärkt. Mit dem Stellen von Arbeitern beglich der vietnamesische Staat teilweise seine Schulden. Eine Integration dieser Gruppe war allerdings ausdrücklich nicht gewünscht, weshalb sich die vietnamesische Gemeinschaft in Tschechien tendenziell nach außen abschloss. Mit dem Transformationsprozess infolge der Wende ab 1989 wurde der Rechtsstatus der Migrantengruppe unsicher. In der Folgezeit mussten viele das Land verlassen oder andere Aufenthaltstitel erwerben. Trotz der rechtlichen Unsicherheiten kamen in dieser Zeit viele Vietnamesen nach Tschechien, die die Deutsche Demokratische Republik verlassen mussten. Mittlerweile lebt in Tschechien auch eine Generation Vietnamesen, die dort geboren und aufgewachsen ist. Bis heute ziehen allerdings kontinuierlich Vietnamesen nach Tschechien. Viele Vietnamesen sind im Groß- und Einzelhandel, der Gastronomie und einfachen Dienstleistungsbetrieben wie Frisiersalons und Nagelstudios beschäftigt, die zumeist auch in vietnamesischer Hand sind. Es existieren in Tschechien teilweise eigenständige vietnamesische Handelsketten, so beispielsweise im Geschäfts- und Kulturzentrum SAPA in Prag einige Großhandelsgeschäfte, von denen viele vietnamesische Kleinbetriebe ihre Waren beziehen. Die vietnamesischen Einzelhandelsgeschäfte sind in Tschechien beinahe flächendeckend vertreten und bieten in einigen strukturschwachen ländlichen Regionen eine Einzelhandelsgrundversorgung an.

Quellen:
Roma in Tschechien und der Slowakei
Vietnamesien in Tschechien

Ergänzend noch ein Auszug aus "Zemřel, protože byl Rom" (übersetzt: Er starb, weil er Romani war) von Apolena Rychlíková veröffentlicht in Věčná devadesátá (Die ewigen Neunziger), S. 177-179:

"Die Ideologie der sozialistischen Gesellschaft der Staatsrepublik war auf formale Gleichheit ausgerichtet." Dies könnte auch erklären, warum der Rassismus erst in den 1990er Jahren aufflammte, und zwar so stark. Es gibt keine Studien darüber, inwieweit Fremdenfeindlichkeit und Rassenintoleranz in der vorrevolutionären Gesellschaft vorhanden waren. Das plötzliche Auftreten von rassistischer Gewalt und Rassenhass unmittelbar nach der Samtenen Revolution deutet jedoch darauf hin, dass Vorurteile gegen Roma und andere ethnische Gruppen in der tschechischen Gesellschaft schon seit langem vorhanden waren. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers und Extremismusexperten Jan Charvát handelte es sich dabei jedoch um eine Mischung aus sich wiederholenden urban legends und klassischen ethnischen Vergehen. Doch eine Rolle dabei, dass die Roma stärker in die Gesellschaft eingebunden waren, spielte auch die Vollbeschäftigung der Gesellschaft, und dass sie ein fester Bestandteil der meisten Stadtviertel waren und es - zumindest in der Tschechischen Republik - noch keine Ghettos gab.

"Die meisten Menschen sind den Roma regelmäßig begegnet, in der Schule, auf der Straße, im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz. Es gab einige Bemühungen um eine Trennung, aber sie erreichten nicht das Niveau von heute. Außerdem muss man bedenken, dass es damals keine Meinungs- und Pressefreiheit gab, so dass die eventuellen Scharmützel zwischen Roma und Nicht-Roma, die dann in den 1990er Jahren als kriminelle Sensationen aufbereitet wurden, die Bevölkerung überhaupt nicht erreichten", so der Politikwissenschaftler. Die Gründe, warum der Rassismus, der sich vor allem gegen Roma richtete, praktisch unmittelbar nach der Samtenen Revolution um sich griff, sind seiner Meinung nach vielfältig. Charvát selbst erinnert sich jedoch daran, dass es in der Zeit vor 1989 ein gewisses Misstrauen gegenüber Menschen aus Vietnam gab. Es gab auch eine Reihe von mehr oder weniger absurden Aberglauben über sie. Bei den Roma, so Charvát, sei das aber nicht anders gewesen.

"Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Roma oft in gering qualifizierten oder ungelernten Positionen gearbeitet haben. Mit dem Beginn der Privatisierung waren sie oft die ersten, die ihre Arbeitsplätze verloren. Dadurch entstand plötzlich der Eindruck, dass sie im Sozialismus ausgebeutet wurden", so der Politikwissenschaftler. Auch Probleme im Bildungswesen und die Rassendiskriminierung, die ihre Wurzeln in den 1980er Jahren hatte, traten immer deutlicher zu Tage. Die Roma wurden immer häufiger als Angehörige von Sonderschulen wahrgenommen, und das Bildungswesen begann sich zu segregieren. Eine der treibenden Kräfte in den Jahren nach der Revolution war auch die Rückkehr des Nationalismus, zumindest eine Zeit lang.

Ihm zufolge lässt sich der Rassismus der frühen 1990er Jahre in mehrere Wellen unterteilen, von denen die schlimmste in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre abklang, als die Gesellschaft erkannte, wie gefährlich diese Tendenzen waren. Bis dahin war Gewalt, auch auf der Straße, jedoch relativ normal. Körperliche Übergriffe auf der Straße, denen Roma zum Opfer fielen, waren keine Seltenheit. Um die Mitte der 1990er Jahre trat eine Flaute ein. Plötzlich gab es Morde, Neonazis, die auf der Straße herumlungerten, Aufmärsche und aggressives Verhalten, das normale Menschen bedrohte. Die Presse und Menschenrechtsorganisationen wurden aufmerksam. Auch die Polizei begann zu handeln, erklärt Charvát die Gründe für den Durchbruch im Bereich der rassistischen Gewalt. Aber der Tribut, den viele dafür zahlen mussten, ist tragisch hoch.

Quelle: Zemřel, protože byl Rom von Apolena Rychlíková, In: Věčná devadesátá, (Hrsg.: Veronika Pehe, Apolena Rychlíková) Cpress, Brno 2023, S. 177-179

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer, Vietnamesinnen und Vietnamesen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter vieler weiterer nationaler Minderheiten sind bereits seit mehreren Jahren Teil der tschechischen Gesellschaft. Wie ist das Leben in Tschechien für sie? Wie gut kommen sie mit dem Rest der Gesellschaft aus? Inwiefern begegnen sie Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung? Und wie stark ist der Rechtsextremismus in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Experten für politischen Extremismus Jan Charvát, dem Sozialwissenschaftler Ivan Cuker – und vor allem mit Vertreterinnen und Vertretern einiger nationaler Minderheiten: der Regierungsbeauftragten für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, der Roma-Historikerin Renata Berkyová und dem tschechisch-vietnamesischen Unternehmer Tung Nguyen.

Das Gebiet, auf dem sich heute die Tschechische Republik befindet, war im Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit und Kultur in der Geschichte zumeist sehr mannigfaltig. Noch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit hätten die Tschechinnen und Tschechen nur etwa die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht, betont der Politikwissenschaftler Jan Charvát von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Zwischen den Weltkriegen, aber auch schon davor, trafen in den Böhmischen Ländern meist zumindest die tschechische, die deutsche und die jüdische Kultur aufeinander. Prag wurde als Kreuzung der Kulturen wahrgenommen, Mitteleuropa war ethnisch stark durchmischt. Während der Zeit Österreich-Ungarns war es gang und gäbe, dass Tschechen im gesamten Gebiet von der Ostsee bis zur Adria lebten – und genauso kamen aus all diesen Regionen Menschen hierher.“

Filip Rambousek:
"Diese kulturelle und ethnische Vielfalt ging aber im 20. Jahrhundert verloren – vor allem aufgrund des Holocausts und der anschließenden Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Seitdem ist die tschechische Gesellschaft in ethnischer Hinsicht recht homogen."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Die Tschechen haben sich an diese Einheitlichkeit gewöhnt. Weiter befeuert wurde sie auch durch das kommunistische Regime. Das hat natürlich einen Einfluss darauf, wie das Zusammenleben verschiedener Ethnien heute hierzulande funktioniert. Die Erfahrungen mit Vielfältigkeit sind einfach abgerissen. Wenngleich diese Unterbrechung aus historischer Sicht nicht sonderlich lang ist, ist die Erfahrung bereits für Generationen verloren gegangen. Für uns ist so etwas ungewöhnlich, wir wenden uns dagegen. Das zeigt sich etwa an der seit langem negativen Haltung von Tschechinnen und Tschechen zur Roma-Minderheit. Ähnliche Phänomene gibt es dabei auch anderswo in Europa. Wir Menschen haben einfach die Tendenz, einen Sündenbock zu suchen, an dem gezeigt werden kann, was alles falsch läuft. Deshalb behaupten wir, dass die Roma arm seien und sich nicht um sich selbst kümmern könnten. Und dass sie viele schlimme Dinge täten, die ein Tscheche nie tun würde. Wenn doch, dann sei das doch ganz etwas anderes, als wenn so etwas ein Rom mache.“

Filip Rambousek:
"Obwohl die tschechische Gesellschaft heute nicht mehr so vielfältig ist wie zu Zeiten Österreich-Ungarns, kann man keinesfalls sagen, dass sie komplett homogen ist. Ihren Anteil haben nicht nur die bereits erwähnten Romnja und Roma, sondern auch Vietnamesinnen und Vietnamesen, die auf Grundlage bilateraler Abkommen bereits ab dem Ende der 1950er Jahre in die Tschechoslowakei gekommen sind. Offiziell würden in Tschechien heute 14 nationale Minderheiten anerkannt, sagt die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková."

Klára Šimáčková Laurenčíková(übersetzt ins Deutsche):
„Die nationalen Minderheiten bilden rund zehn Prozent der Bevölkerung Tschechiens. Die Gesellschaft hierzulande wird auch immer vielfältiger. Nationale Minderheiten und Menschen aus anderen Kulturen und Ländern machen aber keinen so großen Anteil aus wie in anderen europäischen Ländern, etwa wie in Deutschland oder Österreich. Die offiziellen 14 nationalen Minderheiten, die in Tschechien unterschieden werden, sind die ukrainische, die slowakische und die deutsche Minderheit, die Roma und die Polen, aber auch die russische, ungarische, bulgarische, weißrussische, kroatische, griechische, vietnamesische und russinische Minderheit. All diese Gruppen sind im Regierungsrat für nationale Minderheiten vertreten.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die größten nationalen Minderheiten in Tschechien sind die ukrainische, die slowakische, die Roma-Minderheit und die Vietnamesinnen und Vietnamesen. Die slowakische Minderheit ist im Grunde unsichtbar, denn die Menschen aus der Slowakei und aus Tschechien sind sich kulturell, sprachlich und auch in vielen weiteren Aspekten sehr nah. Studierende aus der Slowakei können an tschechischen Hochschulen etwa in ihrer Sprache Prüfungen ablegen. Der ukrainischen Minderheit werden wir uns in der letzten, sechsten Folge dieses Podcasts noch genauer widmen. In dieser Folge soll es vor allem um die Romnja und Roma sowie um die vietnamesische Minderheit gehen. Beide Gruppen sind sehr unterschiedlich, mit einer jeweils anderen Geschichte. Und dennoch stehen sie in mancherlei Hinsicht vor ähnlichen Hindernissen und Herausforderungen. Die Romnja und Roma leben bereits lange als Minderheit hierzulande. Sie kamen bereits vor vielen Jahrhunderten in die Böhmischen Länder. Im Laufe der Zeit wurden sie dabei des Öfteren Ziel politischer Repressionen – auch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, wie die Historikerin Renata Berkyová vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften schildert:"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Der Gipfel war ein Gesetz von 1927, das die sogenannten ‚Wanderzigeuner‘ betraf, sich aber eigentlich pauschal gegen einen erheblichen Teil der Roma-Bevölkerung richtete. Zusammen mit diesem Gesetz erfolgte die Registrierung der sogenannten ‚Zigeuner‘. Dies trug später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, dazu bei, dass die Roma schneller in Konzentrationslagern interniert werden konnten.“

Filip Rambousek:
"Die repressive Politik gegen die Roma-Minderheit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre passt damit so gar nicht zum Bild der Tschechoslowakei als demokratischer Insel inmitten Europas."

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk wird oft als demokratisch eingestellte Persönlichkeit gefeiert. Wenn wir aber über die Geschichte der Roma und ihre Integration in die sogenannte große tschechoslowakische Geschichte sprechen, dann darf man nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es gerade die Unterschrift von Präsident Masaryk war, durch die 1927 das Gesetz gebilligt wurde. Dadurch ließ er die spätere Registrierung und Kriminalisierung der Roma zu.“

Filip Rambousek:
"Die Rassenverfolgung von Sinti und Roma erreichte während der Besetzung durch Nazi-Deutschland ein tragisches Ausmaß. Auf dem Gebiet des „Protektorats Böhmen und Mähren“ entstanden gleich zwei Konzentrationslager für Sinti und Roma – eines in Lety bei Písek und eines im südmährischen Hodonín bei Kunštát / Kunstadt. Die Historikerin Renata Berkyová sagt:"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren lebten rund 6500 tschechische Sinti und Roma. Nach dem Krieg kamen nur etwa 600 von ihnen aus den Konzentrationslagern zurück. Das heißt, dass 90 Prozent der Sinti und Roma mit tschechischen Wurzeln den Krieg nicht überlebten.“

Filip Rambousek:
Die meisten der tschechischen Sinti und Roma starben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ein Teil von ihnen kam aber auch in Folge der katastrophalen Lebensumstände in den Konzentrationslagern in Lety und Hodonín ums Leben. Die Leitung dort hatte die tschechische Gendarmerie inne. Nach dem Krieg wurde der Völkermord an den Roma in der Tschechoslowakei lange Zeit verschwiegen. An der Stelle, an der sich das Konzentrationslager in Lety bei Písek befunden hatte, wurde in den 1970er Jahren sogar eine große Schweinemast errichtet. Erst nach 1989 begann man, offen über den Genozid an den Sinti und Roma zu sprechen."

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„In den 1990er Jahren wurde die tschechische Gesellschaft mit der Existenz der beiden Konzentrationslager in Lety und Hodonín und überhaupt mit der Rassenverfolgung zur Zeit des Protektorats konfrontiert. Es wurde zwar ein Denkmal am Ort eines Massengrabes in der Nähe des Lagers in Lety gebaut – auf dem einstigen Lagergelände stand allerdings immer noch die Schweinemast. Die Roma verlangten aber auch Entschädigungen und eine öffentliche Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma. Und zu diesem Zeitpunkt wurde die Debatte relativiert und der Genozid in Frage gestellt – und das selbst durch führende Politiker.“

Filip Rambousek:
"Der ehemalige Staatspräsident Václav Klaus etwa zweifelte noch 2005 an, dass es sich im Falle der Anlage in Lety um ein Konzentrationslager gehandelt habe. Stattdessen betonte er, dass das Gelände in den ersten Jahren seiner Existenz als Strafarbeitslager gedient hätte. Die Debatte um den Roma-Holocaust spiegelte also die vorherrschenden Vorurteile vieler Tschechinnen und Tschechen gegen die Romnja und Roma wider. Die ablehnende Haltung führte in den 1990er Jahren gar zu einer Reihe rassistisch motivierter Angriffe – die man aus der Zeit vor 1989 nicht kannte. Der Politikwissenschaftler Jan Charvát erläutert:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Es kam zu mehreren rassistischen Gewalttaten, bis hin zu Morden. Als es innerhalb des Jahres 1995 gleich drei derartige Angriffe gab, sah sich die Regierung gezwungen, eine anti-extremistische Politik zu formulieren. Seit dieser Zeit erscheinen etwa regelmäßig die Extremismusberichte. In den 1990er Jahren wurden häufig Menschen mitten auf der Straße angegriffen, und oft handelte es sich bei den Opfern um Roma. Ein Problem lag darin, dass die Polizei in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nicht wirklich bereit war, das Problem anzugehen. Auch danach dauerte es noch lange, bis sie lernte, wie man mit rassistisch motivierten Gewalttaten umgehen muss. Es war wirklich eine wilde Zeit. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang der 1990er Jahre Gewalt in Prag allgegenwärtig war. Wenn man heute an diese Zeit zurückdenkt, werden oft die freie Wirtschaft und die Möglichkeiten des Reisens betont. Rassistisch motivierte Angriffe werden gern übersehen. Das liegt daran, dass nur einige Menschen den Raum bekommen, um öffentlich über die 1990er Jahre zu reden. Vor allem sind das Leute, die in der heutigen Gesellschaft ihren festen Platz haben und an ihre großartige Zeit als junge Unternehmer zurückdenken oder an ihre Reisen. Wenn wir aber andere Menschen fragen würden, dann würden sie uns davon erzählen, wie sie in den 1990er Jahren vor Gruppen von Skinheads weglaufen mussten.“

Filip Rambousek:
"Rassistisch motivierte Angriffe, aber auch soziale Ausgrenzung und Diskriminierung in zahlreichen Lebensbereichen trugen zu einer Massenauswanderung der Romnja und Roma bei, insbesondere nach Großbritannien und Kanada. Schätzungen zufolge haben seit den 1990er Jahren mehr als 75.000 Angehörige der Minderheit Tschechien in Richtung Westen verlassen. Lucie Fuková ist Regierungsbeauftragte für Angelegenheiten der Roma-Minderheit."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Roma, die heute hier leben, stammen aus der Ostslowakei und kamen nach 1946 nach Tschechien. Sie ließen sich hauptsächlich in den industriell geprägten Gegenden im Norden Böhmens und Mährens nieder, um dort zu arbeiten. Roma wohnen heute jedoch auch an vielen weiteren Orten in Tschechien. Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Roma aus, die in Tschechien leben. Aber diese Zahl ist sehr im Wandel begriffen, denn in den 1990er Jahren verließen viele Angehörige der Minderheit Tschechien und gingen in den Westen.“

Filip Rambousek:
"Die Romnja und Roma in Tschechien seien heute noch immer mit erheblichen sozialen Hindernissen und in einigen Fällen mit systematischer Diskriminierung konfrontiert, betont Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Šimáčková Laurenčíková."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das zeigt sich etwa an der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt sowie in den Ungleichheiten im Bildungswesen. Die vorurteilsbehaftete Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber Roma trägt ihren Teil dazu bei.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Im Jahr 2007 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss, dass Roma-Schülerinnen und -Schüler im tschechischen Bildungssystem diskriminiert werden. Allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit wurden die Kinder nämlich häufiger in sogenannten Sonderschulen untergebracht. Diese Praxis der Segregation bestehe leider bis heute, betont Lucie Fuková, die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma-Minderheit."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es immer noch mehr als 130 getrennte Schulen. Roma-Eltern sehen sich oft mit der Tatsache konfrontiert, dass sich normale Schulen mit einem gewissen Standard weigern, ihre Kinder aufzunehmen. In gängigen Grundschulen werden zudem häufig getrennte Klassen eingerichtet. Das ist unvorstellbar, aber es passiert wirklich. Daneben bestehen aber auch positive Beispiele. Wir haben etwa viele erfolgreiche Mittelschüler und Universitätsstudenten aus der Minderheit, viele Roma sind in ihrem Beruf erfolgreich. Aber all diese Menschen kostet das bedeutend größere Anstrengungen als die Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, einfach weil sie gegen viele soziale Barrieren und diskriminierende Praktiken ankämpfen müssen. Ein jeder Rom, ob nun Schüler oder Student, ist in seiner Bildungslaufbahn aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit schon einmal auf ein Problem gestoßen.“

Filip Rambousek:
"Auch im Bereich des Wohnens begegnen die Romnja und Roma Hindernissen. Dass sie heute vielmals in schlechteren Wohnungen leben, hat auch historische Gründe. So ließen sich viele von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieregionen im Norden Böhmens und Mährens nieder. Nach 1989 waren diese Gegenden stark von der wirtschaftlichen Transformation betroffen. Mit dem Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei und der Gründung Tschechiens im Jahr 1993 verloren zudem viele der Romnja und Roma, die ursprünglich aus der Slowakei stammten, ihre Staatsangehörigkeit. Dies habe ihre soziale und wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert, sagt Lucie Fuková."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Zudem gingen damals so einige große Firmen bankrott, in denen viele Roma arbeiteten – und sie wurden dann oft als erste entlassen. Einige von ihnen verloren auch jegliche staatliche Hilfen, denn durch den Verlust der Staatsangehörigkeit hatten sie vom einen auf den anderen Tag keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen. Als Folge dieser Entwicklung zogen viele Roma in sogenannte sozial abgehängte Gegenden um. Aufgrund der mangelnden Unterstützung vom Staat gerieten sie oft in eine schwierige finanzielle Lage und verschuldeten sich. Zu dieser Zeit begannen einige Gemeinden zudem, Roma gezielt Orte umzusiedeln, an denen sie gemeinsam mit anderen Menschen am Rand der Mehrheitsgesellschaft lebten – zum Beispiel mit ehemaligen Häftlingen. So entstanden nach und nach Gegenden, in denen hauptsächlich sozial und ethnisch ausgegrenzte Menschen lebten.“

Filip Rambousek:
"Eines der Symbole für Rassismus und Segregation wurde eine Mauer in der Matiční-Straße in Ústí nad Labem / Aussig. Sie wurde Ende der 1990er Jahre errichtet, um mehrere Wohnhäuser, die überwiegend von Romnja und Roma bewohnt wurden, vom Rest der Stadt abzutrennen. Nach einer Welle der Kritik aus Tschechien und dem Ausland wurde die Mauer jedoch nach einigen Wochen wieder entfernt. Sozial ausgegrenzte Gebiete waren auch mehrfach das Ziel von Neonazi-Aufmärschen. So kam es 2008 zu einem versuchten Anti-Roma-Pogrom im nordböhmischen Litvínov / Leutensdorf. Der Angriff von mehreren Hundert Rechtsextremisten auf die dortige Wohnsiedlung Janov konnte nur von der Polizei gestoppt werden. Knapp ein Jahr später verübte eine Gruppe von Neonazis einen Brandanschlag auf eine Roma-Familie in Vítkov / Wigstadtl im Kreis Mährisch-Schlesien. Bei dem Anschlag erlitten drei Menschen Verbrennungen, am schlimmsten traf es ein zweijähriges Mädchen. Glücklicherweise sei die Anzahl derartiger Angriffe inzwischen deutlich zurückgegangen, sagt der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Seitdem sich der subkulturelle Teil der rechtsextremen Szene praktisch aufgelöst hat, also etwa seit 2013, sind rassistisch motivierte tätliche Angriffe weitestgehend verschwunden.“

Filip Rambousek:
"Das heißt jedoch keinesfalls, dass das Problem vorurteilsbedingter Gewalt völlig gelöst ist. Klára Šimáčková Laurenčíková, die Menschenrechtsbeauftragte der tschechischen Regierung:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, dass die Tendenz zu vorurteilsbehafteter Gewalt und zu vorurteilsbedingtem Hass in die Mehrheitsgesellschaft übergeschwappt ist und auch in den sozialen Medien ihren Niederschlag findet. Daher halte ich es für wichtig, den Einfluss der sozialen Medien genauer zu analysieren und ernsthaft zu prüfen, wie die Verbreitung von Hass und Gewalt wirksamer reguliert werden kann.“

Filip Rambousek:
"Die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, spricht hinsichtlich der aktuellen gesellschaftlichen Stellung von Romnja und Roma in Tschechien von einem „allgegenwärtigen Antiziganismus“. Durch diesen würden die Mitglieder der Minderheit daran gehindert, vollwertig in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Dies belegen auch die Ergebnisse soziologischer Studien. Wenngleich die vorurteilsbehaftete Einstellung gegenüber den Romnja und Roma nach und nach abflacht, wird die Minderheit immer noch eher negativ wahrgenommen – und das selbst bei jüngeren Leuten im Alter von bis zu 30 Jahren, die sonst eher tolerant eingestellt sind. Ivan Cuker ist Sozialwissenschaftler und hat unlängst an einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Median mitgewirkt. Darin wurde die Haltung junger Menschen gegenüber Minderheit untersucht. Cuker sagt:"

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„Etwa ein Drittel der jungen Menschen würde es stören, wenn ein Rom oder eine Romni in ihrer Nachbarschaft wohnt. Ein Viertel der jungen Leute wollen keinen Rom oder keine Romni als Kollegen oder Kollegin in der Arbeit. Und nach wie vor würde es 40 Prozent der Befragten stören, wenn jemand aus ihrer Familie einen Rom oder eine Romni heiratete. Wir sehen also, dass die Trennung zwischen ‚wir‘ und ‚sie‘ immer noch präsent ist. Dadurch werden Barrieren geschaffen und die realen, oft aber vielmehr gefühlten Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen betont.“

Filip Rambousek:
"Ein gewisser Abstand zu Romnja und Roma, Misstrauen und latenter Rassismus zeigen sich auch im Zugang der Behörden. So sagte 2021 die tschechische Regierung Romnja, die in der Vergangenheit Opfer von Zwangssterilisierung geworden waren, das Recht auf eine Entschädigungszahlung zu. Zu den Eingriffen war es in den 1970er und 1980er Jahre gekommen, aber auch nach 1989. Der Entschädigungsprozess sei aber viel zu bürokratisch organisiert, er sei beschwerlich und unwürdig, beschwert sich die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková:"

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Romnja müssen gegen einen Verwaltungsmoloch ankämpfen. Der Entschädigungsprozess ist sehr langwierig. Es gibt Fälle von Frauen, die einen Antrag gestellt haben und während des Verfahrens verstorben sind. Die Wartezeit auf eine Wiedergutmachung scheint unendlich lang zu sein. Die Romnja haben jahrelang dafür gekämpft, eine Entschädigung und die Anerkennung der Zwangssterilisation zu erreichen. Ich verstehe nicht, warum das jetzt jemand auf einer Behörde anzweifelt – und dass die Frauen das überhaupt beweisen müssen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"In der bereits erwähnten Median-Studie aus dem Jahr 2023 hat sich gezeigt, dass Romnja und Roma sowie Vietnamesinnen und Vietnamesen gänzlich unterschiedlich wahrgenommen werden. Während die Romnja und Roma vom Rest der Gesellschaft eher negativ gesehen werden, bewerten die meisten das Zusammenleben mit den Menschen der vietnamesischen Minderheit als positiv. Die Vietnamesinnen und Vietnamesen kamen vor allem von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre in die Tschechoslowakei. Grundlage dafür waren mehrere bilaterale Abkommen zwischen den beiden sozialistischen Staaten. Die meisten von ihnen blieben nach 1989 in der Tschechoslowakei. Und es kamen auch viele weitere vietnamesische Familien aus anderen Staaten des früheren Ostblocks ins Land, etwa aus der ehemaligen DDR. Heute wird die Anzahl von Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in Tschechien zumeist mit 100.000 beziffert. Am stärksten vertreten ist die Minderheit in Prag, aber auch im Nordwesten Böhmens, also an der Grenze zu Sachsen. Viele von ihnen sind Unternehmer, oftmals betreiben sie kleine Läden mit Lebensmitteln, die dann „večerka“ also auf Deutsch etwa „Spätkauf“ genannt werden. In den vergangenen Jahren ist in Tschechien schon die zweite Generation von Menschen mit vietnamesischen Wurzeln herangewachsen. Dies sind Menschen, die hierzulande geboren wurden oder in jungen Jahren hierher kamen und in Tschechien zur Schule gegangen sind. Sie sprechen perfekt Tschechisch und unterscheiden sich von ihren Eltern in vielerlei Hinsicht. Diese jungen Vertreterinnen und Vertreter der Minderheit sind heute wichtige Vermittlerinnen und Vermittler zwischen der tschechischen und der vietnamesischen Kultur. Einer dieser jungen Menschen ist der tschechisch-vietnamesische Unternehmer Tung Nguyen…"

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
„Ich stehe im Einkaufs- und Kulturzentrum Sapa, einem ehemaligen Industrieareal am südlichen Stadtrand von Prag. Und hier bei mir steht Tung Nguyen. Hallo!“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Hallo!“

Filip Rambousek:
„Tung ist heute unser Guide und zeigt uns, was es hier im Sapa alles zu entdecken gibt. Wenn man sich umschaut, erkennt man gleich die frühere Nutzung als Industriegebiet. Heute sieht es hier aber ganz anders aus. Es gibt viele kleine Stände und Läden. Was kann man hier alles finden? Was ist das Besondere am Sapa?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt hier viele neue Gebäude, einige Hallen des ehemaligen Fleischkombinats wurden restauriert. Viele Bauten wurden schnell hochgezogen, vor allem die Blechhallen, die wir uns heute auch noch anschauen werden.“

Filip Rambousek:
„Wo gehen wir als erstes hin? Das dort hinten wird wohl die Markthalle sein?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Die Führungen meiner Organisation, Sapa Trip, beginnen meist am Eingangstor. Dann folgen weitere spannende Orte. Wir schauen uns am Tor die unterschiedlichen Symbole an, die aus Vietnam und weiteren asiatischen Ländern kommen. Und natürlich werfen wir auch einen Blick in die Markthallen. Denn Sapa ist vor allem ein Handelszentrum, in dem Waren von A bis Z verkauft werden – von Textilien über Elektronik bis hin zu Spielzeugen.“

Filip Rambousek:
„Na dann, los geht’s! Wir steigen bereits unters Dach…“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Das hier ist eines dieser Areale, das sehr schnell gebaut wurde. In Prag und anderswo in Tschechien gibt es heute viele dieser Handelszentren. In den 1990er Jahren konzentrierten sie sich aber an einem Ort. Deshalb gibt es hier diese Hallen aus Blech. In ihnen werden Textilien, Koffer, Spielzeuge und alles Mögliche verkauft. Im Sapa gibt es aber auch viele Restaurants, die echte vietnamesische Küche anbieten. Dort drüben sehen wir das ursprüngliche große Fleischkombinat. Dort befinden sich weitere Läden. Und hier sind wir nun am Haupttor, das so oft in den Medien gezeigt wird. An dem Tor finden sich in den Zierelementen viele vietnamesische und asiatische Symbole. Auch der Schriftzug ‚Sapa‘ ist damit versehen, auf Vietnamesisch ist dieser Name eine Abkürzung für ein Einkaufszentrum. Die Zeichen sollen das gesamte Areal schützen. Gegenüber dem Tor steht ein Brunnen, der sozusagen Yin und Yang symbolisieren soll.“

Filip Rambousek:
"Als wir gerade durch die Halle mit der Kleidung gegangen sind, ist mir aufgefallen, dass dort viele Vertreterinnen und Vertreter der vietnamesischen Minderheit waren, aber auch viele Besucherinnen und Besucher der Mehrheitsgesellschaft. Ist das Sapa heute ein Ort, an dem unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen?"

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Vor acht Jahren haben wir die Organisation Sapa Trip gegründet. Damals waren hier kaum Leute unterwegs, die nicht zur vietnamesischen Community gehören. Das Gelände war eben ein Großmarkt. Hier waren vor allem vietnamesische Unternehmer zugegen, die in Prag oder anderen Städten Tschechiens kleine Läden betreiben und ihre Waren einkaufen. Nur 20 Prozent der Händler waren Menschen, die nicht zur vietnamesischen Minderheit gehörten. Natürlich tauchten hier aber auch einige Kulinarik-Freaks auf, die authentische vietnamesische Küche probieren wollten. Aber das waren eher Einzelfälle. In den vergangenen acht Jahren hat sich dies aber stark verändert. Heute kommen Menschen aus der Gegend, aber auch von viel weiter her ins Sapa. Sie erledigen hier ihre Einkäufe und gehen vietnamesisch essen. Ein Freund von mir, der hier einen Friseursalon betreibt, sagt, dass seine Kunden heute zur einen Hälfte Tschechen sind, die andere Hälfte sind Vietnamesen.“

Filip Rambousek:
"Gemeinsam mit Ihren Kollegen von Sapa Trip veranstalten Sie Führungen durch die Marktanlage für die breite Öffentlichkeit. Was ist das Ziel? Was wollen Sie den Besucherinnen und Besuchern mit auf den Weg geben?"

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Sapa Trip ist ein soziales Projekt. Wir wollen Vorurteile und Barrieren abbauen und das Areal Sapa so vorstellen, wie es wirklich ist. Unsere erfahrenen Guides führen die Gruppen durch das gesamte Handels- und Kulturzentrum. Im Preis inbegriffen ist auch eine Verkostung vietnamesischer Spezialitäten. Wir wollen Leuten von außerhalb zeigen, wie das Sapa funktioniert, was es hier alles zu sehen gibt, aber auch, wie die vietnamesische Minderheit in Tschechien lebt. Die Guides berichten den Teilnehmern der Touren deshalb auch von ihrem eigenen Privatleben. Sie erzählen, was es für sie bedeutet, der sogenannten zweiten Generation von Vietnamesen in Tschechien anzugehören, also einer Gruppe von Menschen, die zwar vietnamesische Wurzeln hat, aber in Tschechien geboren wurde.“

Filip Rambousek:
„Wie verändern sich die Beziehungen zwischen der vietnamesischen Minderheit und dem Rest der Gesellschaft? Sind Sie selbst noch immer mit Vorurteilen konfrontiert? Oder haben Sie in den vergangenen Jahren in diesem Bereich eine Besserung wahrgenommen? Wie ist eigentlich Ihr Leben hier in Tschechien?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Ich persönlich denke schon, dass es sich gebessert hat – vor allem in den Großstädten, die sozial deutlich vielfältiger sind und deren Einwohner oft einen höheren Bildungsstand haben. Wenn man die Menschen von nebenan fragt, wird die Mehrheit sagen, dass die Vietnamesen in Tschechien gut integriert seien und es keine Probleme mit ihnen gebe. Das heißt aber nicht, dass die Vorurteile gegenüber der vietnamesischen Minderheit komplett ausgeräumt sind. Wenn wir beispielsweise Werbung für Sapa Trip machen, taucht fast immer irgendwo ein vorurteilsbehafteter Kommentar auf. Es heißt dann, dass die Vietnamesen in Tschechien keine Steuern bezahlen, dass sie sich durch illegale Aktivitäten bereichern würden und so weiter. Diese Stereotype treten leider immer wieder auf. Aber eine Besserung der Lage nehme ich dennoch wahr. Und es ist auf jeden Fall nicht so extrem wie in der Vergangenheit, als die Angehörigen der vietnamesischen Minderheit zum Ziel rassistisch motivierter Übergriffe wurden. In dieser Hinsicht ist die Lage also besser.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Heute bewertet die Mehrheit der Menschen in Tschechien das Zusammenleben mit der vietnamesischen Minderheit als sehr gut. Dies zeigen auch die aktuellen soziologischen Daten. Dennoch würden viele Tschechinnen und Tschechen einen gewissen Abstand zur vietnamesischen Community bewahren, meint Ivan Cuker vom Meinungsforschungsinstitut Median:"

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„95 Prozent der jungen Leute würde es nichts ausmachen, wenn ein Vietnamese ihr Nachbar wäre. Über 90 Prozent der Befragten hätten auch kein Problem damit, eine Bluttransfusion von einer Person mit vietnamesischer Ethnie anzunehmen. Als wir aber gefragt haben, ob es die Leute stören würde, wenn ein Vietnamese der Bürgermeister ihrer Gemeinde werden würde, hat dies mehr als ein Viertel der jungen Leute bejaht.“

Filip Rambousek:
"Es gibt also immer noch Hindernisse, durch die es den Vertreterinnen und Vertretern der vietnamesischen Minderheit nicht möglich ist, sich voll in die tschechische Gesellschaft einzugliedern – und das trifft auch auf die sogenannte zweite Generation der Vietnamesinnen und Vietnamesen zu."

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„Menschen, die in Tschechien geboren wurden, hier ihr ganzes Leben verbringen, in die Schule gehen, hierzulande arbeiten und so weiter, haben alle Voraussetzungen, um ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Aber nur weil sie anders aussehen, finden sich einige, die ihnen dies verleiden wollen und diese Menschen als Bürger zweiter Kategorie ansehen. Und das ist ein großes Problem. Denn langfristig kann das zu erhitzten Situationen führen – dann nämlich, wenn sich die Angehörigen der ethnischen Minderheiten bewusst werden, dass sie sich noch so viel anstrengen können, um die formellen und informellen Kriterien zu erfüllen, um in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen zu werden – aber dass der Erfolg, das heißt die allumfassende Aufnahme, immer noch ausbleibt.“

Filip Rambousek:
"Es scheint, als ob die tschechische Gesellschaft immer noch nicht wahrhaben will, dass sie allmählich immer vielfältiger wird und dass zu ihr eben auch Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer und Personen vieler weiterer Minderheiten gehören. Der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát(übersetzt ins Deutsche):
„Für die Tschechen ist es schlichtweg einfacher, eine monokulturelle und einfarbige Gesellschaft zu wollen. Und das gilt für alle Bereiche. Es geht nicht nur um Fragen der Ethnie, sondern etwa auch um Meinungen. Im Grunde stört uns oft, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben. Wir können gar keine wirklichen Debatten mehr führen, dies verlangt auch niemand von uns, und wir verlangen es auch nicht von uns selbst. Das Ergebnis all dessen ist diese eigenartige tschechische Engstirnigkeit. Sie hindert uns daran, uns in dem zu zurechtzufinden, was um uns herum passiert, und adäquat darauf zu reagieren. Meiner Meinung nach geht es also nicht nur um die Haltung gegenüber Minderheiten. Es ist ein umfassenderes Problem.“

Filip Rambousek:
"Seit 2015 hat sich die Aufmerksamkeit der Medien und der rechtsextremen Szene verlagert. Vereinfacht ließe sich sagen, dass man sich nun nicht mehr auf die Romnja und Roma, sondern auf Geflüchtete fokussiert. Dennoch stehen die Angehörigen von Minderheiten immer noch vor sozialen Barrieren. Was müsste sich ändern, damit das Zusammenleben besser funktioniert? Die Historikerin Renata Berkyová verweist unter anderem auf das ungleiche Machtverhältnis zwischen der Roma-Minderheit und dem Rest der Gesellschaft. Dieses Missverhältnis spiegle sich dann auch in der offiziellen Minderheitenpolitik des Staates wider…"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man einmal darüber nachdenkt, was der Begriff ‚Integration der Roma‘ eigentlich bedeutet, entsteht der Eindruck, dass der Ball bei den Roma liegt, dass sie es sind, die sich anpassen sollten – ganz gleich, ob wir das nun ‚Assimilierung‘ nennen oder euphemistisch ausgedrückt ‚Integration‘. Es sind immer die Roma, die mehr lernen sollen, die sich mehr anstrengen müssen, damit sie eine bessere Wohnung bekommen können oder damit sie gebildeter sind. Diese Sichtweise ist meiner Meinung nach falsch. In Wirklichkeit muss das Ganze vielmehr ein gemeinsamer Prozess sein. Und das Problem dabei ist unter anderem, dass in den Ansätzen, die die Spitzenpolitiker und weitere Entscheidungsträger formulieren, die Roma nicht als gleichwertig gelten. Dies befördert unterschwellig die negative Haltung der Gesellschaft gegenüber Roma. Und es befeuert die Unterscheidung von ‚Wir‘ versus ‚Sie‘, denn es sind eben die Roma, die sich anpassen müssen.“

Filip Rambousek:
"Die Erfahrungen des tschechisch-vietnamesischen Unternehmers Tung Nguyen stimmen in vielerlei Hinsicht damit überein."

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Ich würde mir wünschen, dass wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Tschechen und Vietnamesen, sondern dass wir von ‚uns‘ sprechen. Für eine erfolgreiche Integration reicht es nicht, dass sich die Vietnamesen anpassen. Auch die tschechische Seite muss sich beteiligen und darf keine Angst haben, zu kommunizieren. Es ist nicht wahr, dass die Vietnamesen eine geschlossene Community bilden. Sie haben nur Orte und Möglichkeiten geschaffen, um sich zu treffen und zu unterstützen. Wohl jeder in Tschechien hat seinen vietnamesischen Supermarkt, in dem er regelmäßig einkaufen geht. In jedem dieser Märkte steht ein Verkäufer hinter der Kasse. Aber wie viele Tschechen haben ihn schon einmal gefragt, woher er kommt? Wie viele haben ihn schon einmal auf ein Bier eingeladen? So etwas kommt wohl eher selten vor. Auf den Dörfern ist das besser, dort spielen die vietnamesischen Verkäufer mit den anderen Menschen aus dem Ort Fußball und gehen mit ihnen in die Kneipe. Sie sind schon so etwas wie halbe Tschechen. Aber in den größeren Städten passiert das nicht. Die Tschechen haben immer noch ihre Vorurteile: dass der vietnamesische Verkäufer sie nicht verstehen wird, dass er keine Zeit hat und er in seiner eigenen Bubble lebt. Aber das stimmt gar nicht. Die tschechische Seite muss offener sein und bereit, die Vietnamesen anzunehmen und als normale Menschen zu sehen. Ich kenne tschechische Familien, die die vietnamesischen Kinder von Bekannten auf Ausflüge mitnehmen oder zu sich nach Hause einladen. Das ist für mich gelungene Integration. Keine Angst zu haben, den anderen anzusprechen, ihn irgendwohin einzuladen, sich mit ihm zu unterhalten, wie mit einem normalen Freund – und ihn eben als seinen Nachbarn zu sehen und nicht als ‚den Vietnamesen‘. Die Tschechen sind unnötig schüchtern, sie haben Angst, dass die Vietnamesen eine geschlossene Community sind. Aber das ist wirklich nicht so. Es mag schon sein, dass diese Menschen vielleicht einen Teil ihres Lebens in Vietnam verbracht haben, aber heute haben sie ihren Lebensmittelpunkt hier in Tschechien. Und genau deshalb sind die Menschen mit vietnamesischen Wurzeln auch offen für neue Kontakte.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Das war der vierte Teil von „Sechsmal Tschechien“. In der nächsten Folge geht es darum, wie die Tschechinnen und Tschechen zur Europäischen Union stehen.

Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Lucie Fuková verfügt über Berufserfahrung sowohl im gemeinnützigen als auch im staatlichen Sektor. Sie arbeitete als Roma-Beraterin bei der Stadtverwaltung von Pardubice. Sie absolvierte ein Praktikum bei der Europäischen Kommission und koordinierte danach das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle im Jahr 2007 im Auftrag der Europäischen Kommission und des Regierungsbüros. Sie arbeitete für Slovo 21 als Beraterin für die Schaffung einer Plattform von Roma-NGOs und für die Gemeinde Pardubice als Beauftragte für soziale Inklusion im Rahmen des lokalen Aktionsplans für die Entwicklung des Bildungswesens. Bei den Parlamentswahlen 2013 führte sie die Kandidatenliste der Grünen Partei in der Region Pardubice an. Im Dezember 2022 wurde sie zur ersten Regierungsbeauftragten für Angelegenheiten der Roma-Minderheit ernannt.

Quelle

Renata Berkyová ist Doktorandin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karlsuniversität in Prag. Ihre Forschung befasst sich mit der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte der Roma und Sinti in der ehemaligen Tschechoslowakei. Sie konzentriert sich auf die Wahrnehmung des Holocausts aus der Perspektive verschiedener Akteure, die Bemühungen der Roma um die Anerkennung ihrer rassistischen Verfolgung sowie die Entschädigung von Überlebenden und das öffentliche Gedenken an die Opfer.


Frau Berkyová ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Prager Forum für die Geschichte der Roma am Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, wo sie ihr Forschungsprojekt Romani Voices for the Recognition of the Genocide (2022-2023) durchführt, das von der Bader Philanthropies Foundation unterstützt wird. Neben ihrer Forschungstätigkeit ist Frau Berkyová aktiv an einer Reihe von Aktivitäten im Zusammenhang mit Bildungsarbeit und dem Gedenken an den Holocaust beteiligt, u. a. als Mitglied der Arbeitsgruppe des Museums für Roma-Kultur in Brünn, die eine Ausstellung für das Holocaust-Mahnmal der Roma und Sinti in Lety bei Písek gestalten wird. Sie arbeitet auch mit dem Roma- und Sinti-Zentrum in Prag an Aktivitäten zum Thema Holocaust zusammen und ist Mitglied des Redaktionsteams der tschechischen wissenschaftlichen Zeitschrift Romani Studies.

Sie interessiert sich sehr für die Art und Weise, wie Roma in der Öffentlichkeit dargestellt werden, und schreibt gelegentlich journalistische Artikel über Roma-Themen. Als Teil eines dreiköpfigen Teams bei Romea TV drehte sie den Dokumentarfilm "LETY" (2019) über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Lety bei Písek und die Schweinefarm, die während der kommunistischen Ära auf dem Gelände errichtet wurde und bis 2018 voll in Betrieb war.

Quelle

Ivan Cuker ist Sozialwissenschaftler und Forscher bei dem Meinungsforschungsinstitut Median. Er promoviert an der Karls-Universität in Prag am Institut für soziologische Studien der Fakultät für Sozialwissenschaften.

Manh Tung Nguyens Familie stammt ursprünglich aus Vietnam, er wurde jedoch in der Tschechischen Republik geboren und verbrachte seine Kindheit auf dem Marktplatz. In jungen Jahren verlor er seine engste Familie, was ihn dazu zwang, als Zeitungsverkäufer für sich selbst zu sorgen und später die Schule abzubrechen. Trotz dieser Umstände ist er heute Unternehmer und hat 12 Unternehmen und 4 gemeinnützige Organisationen mitbegründet.

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Dr. Jan Charvát ist ein tschechischer Politikwissenschaftler, der sich auf politischen Extremismus spezialisiert hat.

Er ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien der Karlsuniversität, Lehrstuhl für Politikwissenschaft. In der Vergangenheit arbeitete er auch am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Philosophie an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem.

Er studierte Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität und politische Soziologie an der Högskolan Dalarna in Schweden. Er promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit einer Arbeit über die Formen des politischen Extremismus in der Tschechischen Republik nach 1989. Sein Spezialgebiet sind politischer Extremismus und verwandte Themen (Radikalisierung, extreme Rechte, extreme Linke, Rassismus und Subkulturen).

Er hat zahlreiche Bücher, Beiträge und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Thema Extremismus arbeitet er seit langem mit dem Non-Profit-Sektor zusammen zum Beispiel mit den Organisationen People in Need, Hate Free Culture und In IUSTITIA.

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Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Folge 5: Tschechien und die EU

2024 ist es 20 Jahre her, dass Tschechien der Europäischen Union beigetreten ist. Dennoch sind die Tschechinnen und Tschechen zurückhaltend hinsichtlich der EU-Politik. Nur 28 Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner interessieren sich laut einer Studie von Eurobarometer für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Damit ist Tschechien unter den Mitgliedsstaaten Schlusslicht. Warum identifizieren sich die Menschen hierzulande nicht mit der Europäischen Union? Weshalb denkt ein großer Teil der Bevölkerung, Tschechien sollte eine „zweite Schweiz“ werden? Warum wird in den tschechischen Medien in Zusammenhang mit der EU mitunter der Begriff „Diktat aus Brüssel“ benutzt? Und wie haben sich die Ansichten zur EU seit 2004 verändert? Antworten auf diese Fragen suchen wir mit dem Politikwissenschaftler Jiří Pehe, der Analytikerin Helena Truchlá, dem Sozialwissenschaftler Martin Buchtík, der Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien Monika Landmanová und mit Alexandr Vondra, der für die Bürgerdemokraten im Europaparlament sitzt.

Die Tschechische Republik ist der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten, der bisher größten Erweiterung der Europäischen Union mit dem Beitritt von Estland, Zypern, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei und Slowenien.

Die Tschechische Republik beantragte 1996 den Beitritt zur Europäischen Union, die 1993 gegründet worden war. Die mehrjährigen Verhandlungen gipfelten 2003 in einem Referendum über den Beitritt und der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags in Athen. Damit wurde die Tschechische Republik Teil des Europäischen Wirtschaftsraums, der den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet. Der Beitritt zum Schengen-Raum, d. h. die Abschaffung der staatlichen Grenzkontrollen, erfolgte 2007. Das Verfahren für die Einführung der gemeinsamen Währung ist noch nicht festgelegt worden. 

„Zurück nach Europa“ war eine der Hauptforderungen der Samtenen Revolution. Dieser Wunsch wurde auch erfüllt, zunächst durch den Beitritt Tschechiens zur NATO (1999) und später durch den Beitritt zur EU (2004). Im Juni 2003 stimmten mehr als 77 % der Wählerinnen und Wähler für den Beitritt zur EU. Seitdem schwankt die Stimmung. Der ehemalige Präsident Václav Klaus (2003–2013) verlieh den EU-Kritikerinnen und -Kritikern eine starke Stimme. 2009 weigerte er sich, seine Unterschrift unter den Lissabon-Vertrag zu setzen, womit er den EU-weit ausgehandelten Kompromiss zur Vertiefung der europäischen Einigung über Monate blockierte. Das Land baute sich ein Image eines Troublemakers in der EU, der immer mal wieder im Schulterschluss mit den sgn. Visegrad-Ländern agiert und blockiert. Noch immer ist Tschechien der Währungsunion nicht beigetreten. Eine tiefere Integration scheint nicht erwünscht zu sein. Die Anzahl der entschlossenen EU-Gegnerinnen und -Gegner in der Bevölkerung deckt sich jedoch fast genau mit der Anzahl der EU-Enthusiasten – und Vertreterinnen und Vertreter dieser zwei Pole sind insgesamt in einer Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung (über 60 %) hat keine starke Meinung zur EU. Die EU ist für die Tschechen ein zweitrangiges Thema, das im Hintergrund der globalen Entwicklungen mitschwingt. 

So sank die Zufriedenheit mit der EU in der Wirtschaftskrise. Mit der Erholung der Wirtschaft kam aber kein erneuter Anstieg, sondern es folgte eine weitere Talfahrt unter anderem als Folge der MIgrationskrise. Einen Anstieg der Zufriedenheit mit der EU erlebte das Land in der Zeit seiner ersten EU-Ratspräsidentschaft und auch in den letzten Jahren seit 2016 und 2017. Eine Umfrage vom 2019 zeigte, dass sich nur ca. 10 % der Bevölkerung einen sofortigen Austritt aus der EU wünscht. Eine klare Mehrheit ist für weitere Mitgliedschaft in der EU, die aber reformiert werden sollte. Wichtige Meinungsbildner waren auch die zweite EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens und die russische Aggression gegen die Ukraine, die die Zustimmungswerte für die EU deutlich verbesserten. Inwieweit diese Effekte von Dauer oder nur kurzfristig sind, wird sich erst zeigen. 

Die Regierung hatte über die letzten Jahre einen pragmatischen Kurs gegenüber der Europäischen Union eingeschlagen. Unter Andrej Babis hatte die Regierung einen zunehmend europakritischen Kurs verfolgt, mit der aktuellen Regierung unter Petr Fiala kehrt Tschechien zu einer europa-freundlichen Rhetorik zurück. Jedoch sind die Positionen in Kernfragen wie Klima und Migration nicht weit von seinem Vorgänger entfernt. Eine weitere Integration der Europäischen Union sehen viele im „eurorealistischen“ Teil der konservativen Regierungspartei ODS kritisch.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hatte Tschechien die EU-Ratspräsidentschaft übernommen.  Diese hat viel positive Kritik erfahren: So konnten trotz der neu entstandenen Herausforderungen durch den Krieg in der Ukraine viele Projekte umgesetzt werden, unter anderem das Schengen-Visa-Verbot an Russen, sowie Ausbildungsmissionen für ukrainische Soldaten. Auch setzte sich die tschechische Ratspräsidentschaft für die erforderlichen Reformen im Hinblick auf die EU-Erweiterung ein. Die tschechische Regierung strebt nun eine aktivere Rolle innerhalb der EU an. So betrachtet sich Tschechien als eines der größeren osteuropäischen Länder, als Mittler zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedern. Dazu gehört die Unterstützung der Ukraine sowie das Bestreben der EU-Erweiterung in Südosteuropa.

Quellen: 
Außenpolitik Tschechien bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden Würtemberg 
Artikel auf cs.wikipedia.org​​​​​​​

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"In diesem Jahr feiert Tschechien 20 Jahre seit dem Beitritt zur Europäischen Union. Dennoch sind die Tschechinnen und Tschechen zurückhaltend hinsichtlich der EU-Politik. Nur 28 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner interessieren sich laut einer Studie von Eurobarometer für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Damit ist Tschechien Schlusslicht unter den Mitgliedsstaaten. Warum identifizieren sich die Menschen hierzulande nicht mit der Europäischen Union? Weshalb denkt ein großer Teil der Bevölkerung, Tschechien sollte eine „zweite Schweiz“ werden? Warum wird in den tschechischen Medien in Zusammenhang mit der EU mitunter der Begriff „Diktat aus Brüssel“ benutzt? Und wie haben sich die Ansichten zur EU seit 2004 verändert? Antworten auf diese Fragen suchen wir zusammen mit dem Politikwissenschaftler Jiří Pehe, der Analytikerin Helena Truchlá, dem Sozialwissenschaftler Martin Buchtík, der Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien, Monika Ladmanová, und mit Alexandr Vondra, der für die Bürgerdemokraten im Europaparlament sitzt.

Nach der Samtenen Revolution hatte die tschechische Gesellschaft zwei Hauptziele, um die kommunistische Ära hinter sich zu lassen. Martin Buchtík ist der Sozialwissenschaftler und leitet das Meinungsforschungsinstitut STEM:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„‚Freie Wahlen‘ und ‚Zurück nach Europa‘ – das waren die beiden Parolen, die sich durch das Jahr 1990 zogen. Die freien Wahlen wurden hierzulande schon zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt. Nebenbei sei erwähnt, dass die Wahlen bis heute eines der wenigen Dinge sind, deren Legitimität die tschechische Gesellschaft überhaupt nicht anzweifelt. 2004 sind wir dann zurück nach Europa gekommen.“

Filip Rambousek:
"Im Mai 2004 wurde Tschechien gemeinsam mit neun weiteren Ländern Mitglied der Europäischen Union. Wie aber der Politikwissenschaftler Jiří Pehe betont, hatte die EU bereits vor 2004, während des Beitrittsprozesses, einen großen Einfluss auf die Modernisierung des tschechischen Staates. Tschechien musste nämlich die Beitrittskriterien erfüllen. Dies betraf vor allem den Stand der Demokratie im Land, die Marktwirtschaft, die Rechtsstaatlichkeit und die staatliche Verwaltung. In all diesen Aspekten habe Tschechien viel nachzuholen gehabt, betont Jiří Pehe, der die New York University in Prag leitet:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„In politischer Hinsicht wurde Tschechien für seine Haltung zu Minderheiten kritisiert. Brüssel übte Druck aus, damit vor allem die Stellung der Roma besser wurde. Im Bereich Wirtschaft ging es um die Annahme eines Gesetzes zu Bankrotten, um die Schaffung eines Kapitalmarktes und generell um ein transparentes Handelsumfeld. Im Hinblick auf die Rechtstaatlichkeit sollte die Reform der Justiz abgeschlossen werden, mit der schon zu Beginn der 1990er Jahre begonnen wurde. Erwartet wurde auch eine Dezentralisierung der Macht. Die Forderungen im Bereich staatliche Verwaltung bezogen sich vor allem auf ein Gesetz zum öffentlichen Dienst, das mit den europäischen Standards in Einklang stehen sollte.“

Filip Rambousek:
"Die europäischen Institutionen sahen in allen Bereichen einen hinreichenden Fortschritt, und die Tschechische Republik kam einer EU-Mitgliedschaft damit immer näher. Die Beitrittsabsichten mussten aber noch durch ein Referendum bekräftigt werden."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Gegen Ende des Jahres 2002 hatte Tschechien den Beitrittsprozess abgeschlossen, im Juni 2003 fand dann das Referendum statt. Und in dieser Zeit tauchten in der Politik hierzulande auch die ersten ernstzunehmenden eurokritischen Stimmen auf. Vor allem sind dabei Václav Klaus und sein Umfeld zu nennen. Er war zunächst Premier und ab 2003 tschechischer Staatspräsident. Klaus traute sich zwar noch nicht, gegen einen EU-Beitritt zu argumentieren, und er forderte die Menschen auch nicht dazu auf, im Referendum dagegen zu stimmen. Später gestand er aber ein, dass er nicht für den Beitritt gestimmt hatte. In diesem Moment begann sich ein negativer und zugleich utilitaristischer Blick auf die Mitgliedschaft zu entwickeln. Später hat sich dieser Ansatz in Tschechien leider stark durchgesetzt, und dies geht gerade auf Václav Klaus und sein Team zurück. Sie versuchten den Beitrittsprozess aus buchhalterischer Sicht zu bewerten. Sie zählten auf, was man gewinne und was man verliere, wobei permanent hervorgehoben wurde, was durch eine EU-Mitgliedschaft alles verloren ginge. Dieser Ansatz vernachlässigte jedoch völlig die politische und philosophische Dimension einer Mitgliedschaft, die genauso wichtig war – wenn nicht sogar wichtiger.“

Filip Rambousek:
"Trotz manchen euroskeptischen Stimmen sprachen sich die tschechischen Bürgerinnen und Bürger in Referendum eindeutig für einen Beitritt zur EU aus. Mehr als 77 Prozent der teilnehmenden Wählerinnen und Wähler votierten dafür. Dieses Ergebnis muss aber die tatsächliche Stimmung im Land nicht unbedingt wiedergegeben haben, denn ein Teil der Gegnerinnen und Gegner der europäischen Integration blieb vermutlich zuhause – die Wahlbeteiligung lag nämlich bei nur rund 55 Prozent. Der Soziologe Martin Buchtík glaubt jedoch, dass das Ergebnis wohl kaum anders ausgefallen wäre, wenn mehr Bürgerinnen und Bürger zu den Urnen gegangen wären. Die Tschechinnen und Tschechen wollten also in die EU. Und damit wurde ein wichtiges Ziel der Samtenen Revolution realisiert."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Als das dann erledigt war, haben wir uns aber nicht weiter damit beschäftigt. Die Politiker und auch der Rest der Gesellschaft setzten sich nicht mehr mit der weiteren Ausrichtung unseres Landes auseinander. Wir wurden Mitglied der EU, damit waren wir ‚zurück in Europa‘, und diesen Punkt konnten wir somit abhaken. Die EU geriet damit hierzulande in Vergessenheit.“

Filip Rambousek:
"Auch dies ist vielleicht einer der Gründe dafür, warum Tschechien seit Langem zu den euroskeptischsten Staaten zählt. Die Menschen hierzulande würden der EU nur wenig Vertrauen schenken, erläutert Martin Buchtík:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Wir Tschechen haben oft nicht das Gefühl, in der EU etwas bewirken zu können. Wirklich viele hierzulande denken, dass ‚über uns, ohne uns‘ entschieden wird – also fast schon so wie beim Münchner Abkommen von 1938. Wir wissen nicht, wie die EU funktioniert, und auch nicht, was uns die Mitgliedschaft eigentlich bringt. In unseren Erhebungen der vergangenen etwa zehn Jahre zeigt sich, dass die meisten Menschen in Tschechien die EU mit Kleinigkeiten in Verbindung bringen. Jeder erinnert sich noch daran, dass die Gurken gerade sein sollen und die Bananen krumm und dass dies die Europäische Union angeordnet hat. Im Grunde sind das Anekdoten. Aber es sind gerade diese Anekdoten, die die Menschen in Tschechien am häufigsten mit der EU in Verbindung bringen: Energiesparlampen, die Leistung von Staubsaugern, und dass der in Tschechien produzierte Rum nicht mehr ‚Rum‘ heißen darf. Es gibt etliche dieser Mythen. Und genau deshalb stören sich die Menschen in Tschechien an der Europäischen Union – weil sie sich angeblich nur mit Nebensächlichkeiten beschäftigt.“

Filip Rambousek:
"Obwohl Tschechien durch die Mitgliedschaft in der EU und in der Nato politisch und militärisch fest in westlichen Strukturen verankert wurde, sei sich die Gesellschaft hierzulande mitunter immer noch nicht ganz sicher, wohin sie gehören wolle, meint Buchtík:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Etwa 45 Prozent der Menschen in Tschechien sagen, sie wollen zum Westen gehören, was eng mit der EU-Mitgliedschaft verbunden ist. Rund drei bis vier Prozent wollen zum Osten gehören. Und der Rest will eine zweite Schweiz sein, eine Brücke zwischen Ost und West. Das ist in diesem Teil Europas allerdings nichts Ungewöhnliches. Die Leute in der Slowakei, in Ungarn oder in Serbien sagen das Gleiche. Spannend ist aber, dass sich die Vorstellung von Tschechien als ‚zweiter Schweiz‘ hierzulande bereits in der Zwischenkriegszeit stark aufkam. Es ist ein Leitmotiv, das sich durch unsere Geschichte zieht. Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass die Schweiz für die Tschechinnen und die Tschechen das zweitbeliebteste Land ist – gleich nach der Slowakei. Dabei wissen wir über die Schweiz im Allgemeinen nur, dass die Natur dort schön ist, wie auch in Tschechien, und dass dort Kühe weiden, die manchmal auch lila sind, aus deren Milch sich hervorragender Käse und großartige Schokolade herstellen lassen. Es gibt dort Banken, womöglich sogar Goldschätze, und es werden dort teure Uhren hergestellt. Und das war es dann aber auch schon mit unseren Kenntnissen über dieses Land.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Die jeweiligen Ansichten über die geopolitische Stellung Tschechiens überschneiden sich in gewisser Hinsicht mit der Haltung der tschechischen Bevölkerung zur Europäischen Union. Eine westliche, proeuropäische Haltung präferieren rund 40 Prozent der Tschechinnen und Tschechen, wobei etwa ein Viertel für eine Vertiefung der europäischen Integration ist. Weitere 20 Prozent haben keine Meinung zur EU – entweder weil sie sich nicht im Informationsdschungel orientieren können, oder weil sie sich nur um ihr eigenes Leben kümmern. Die verbleibenden 40 Prozent sind Kritiker der EU. Laut Sozialwissenschaftler Buchtík sind dies vor allem Menschen, die finanziell nicht gut gestellt sind und die die innenpolitischen Veränderung nach 1989 kritisch beäugen."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Diese 40 Prozent unterteilen sich in 30 Prozent Gegner und 10 Prozent radikale Gegner, die entweder sehr engagiert sind oder aber gänzlich resigniert haben. Ein Teil von ihnen steht unter dem Einfluss russischer Propaganda. Aber generell ist diese Gruppe sehr vielfältig. Man kann nicht behaupten, dass es eine geschlossene, ausschließlich prorussische Gruppe ist. Oftmals handelt es sich um ältere Leute mit wirtschaftlichen Problemen. Zwei Fünftel der erwachsenen Menschen in Tschechien fahren zudem nicht ins Ausland. Sie haben dafür entweder kein Geld, bringen nicht die nötigen Sprachkenntnisse mit oder werden durch Krankheiten daran gehindert. Für diese Menschen sind Vorteile wie Reisefreiheit, Roaming oder grenzüberschreitender Warenverkehr nur abstrakte Begriffe, mit denen sie nicht viel anfangen können.“

Filip Rambousek:
"Das geringe Vertrauen eines Teils der tschechischen Gesellschaft in die EU hängt aber nicht nur von sozioökonomischen Faktoren ab, sondern geht auch auf die Haltung einiger hochrangiger Politikerinnen und Politiker zur europäischen Integration zurück:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Es gab hier keine starken Fürsprecher, die erklärt haben, weshalb eine Mitgliedschaft in der EU für uns nutzbringend ist. Stattdessen war da Staatspräsident Václav Klaus, der die Europäische Union sehr kritisch gesehen hat. Das zeigte sich etwa bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, den Klaus lange Zeit nicht unterschreiben wollte. In Tschechien wurde keine ausgewogene Debatte geführt. Es fehlte eine Stimme, die gesagt hätte, dass es wichtig ist, in der EU zu sein. Das war zwar allgemeine Meinung, aber in Wirklichkeit erhob niemand seine Stimme in diesem Sinn.“

Filip Rambousek:
"Eine der wichtigsten proeuropäischen Stimmen hierzulande war nach der Samtenen Revolution zweifellos der demokratisch gewählte Staatspräsident Václav Havel. Ab 2003, als er von Václav Klaus im Amt beerbt wurde, ging sein Einfluss auf die öffentliche Meinung aber zurück. Mit dem EU-Beitritt seien in Tschechien auf einmal mehrere prominente Eurokritikerinnen und Eurokritiker aufgetaucht, meint der Politologe Jiří Pehe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Obwohl wir freiwillig der EU beigetreten sind und uns noch dazu sehr um eine Mitgliedschaft bemüht haben, stellten zahlreiche Politiker die EU in eine Reihe mit jenen Großmächten, mit denen Tschechien in der Vergangenheit unangenehme Erfahrungen gemacht hat – also Österreich-Ungarn, später Deutschland und zuletzt die Sowjetunion. Politiker wie Václav Klaus verglichen die Europäische Union sogar mit dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, einem der Machtinstrumente, mit dem die Sowjetunion die Wirtschaft der sozialistischen Staaten unter ihre Kontrolle bringen wollte. Das beweist natürlich ein komplettes Missverständnis und eine Fehlinterpretation dessen, was europäische Integration in Wirklichkeit ist. Dennoch konnte diese Auffassung in Tschechien Wurzeln schlagen. Die meisten Menschen wissen nämlich nicht wirklich viel über die Funktionsweise der EU und bilden sich ihre Meinung auf Grundlage dessen, was die politische Führungsriege verlautbaren lässt.“

Filip Rambousek:
“Die gesamte europäische Gesetzgebung wird dabei in Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern aller Mitgliedsstaaten verhandelt und verabschiedet. Das Problem besteht aber darin, dass die meisten der tschechischen Politikerinnen und Politiker den Verhandlungen in der EU lange Zeit zurückhaltend gegenüberstanden. An Sitzungen in Brüssel teilzunehmen hätten viele Vertreter Tschechiens oft als unangenehme Pflicht gesehen und nicht als Möglichkeit, europäische Politik mitzugestalten, glaubt Pehe:”

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien hat nie gelernt, in der EU so zu handeln, dass hinterher nicht das Gefühl aufkommt, die Politik wäre ein Diktat von oben, sondern dass wir uns als aktive Mitglieder der Union fühlen, wir alle an einem Tisch sitzen und mit unseren Partnern verhandeln können. Dieser passive Zugang hat sich vor allem in den ersten Jahren unserer Mitgliedschaft gezeigt, teilweise gibt es ihn aber auch heute noch.“

Filip Rambousek:
“Den verzerrten Blick auf die EU reproduzieren in gewisser Weise auch einige tschechische Medien. Selbst in der seriösen Presse tauchen regelmäßig Schlagzeilen auf wie „Brüssel hat befohlen“ oder „Brüssel hat verboten“, ohne aber die Teilnahme tschechischer Vertreterinnen und Vertreter an den Verhandlungen herauszustellen oder die Rolle der einzelnen EU-Institutionen. Laut Helena Truchlá, Analytikerin für europäische Angelegenheiten im deutschen Bundestag und ehemalige Journalistin, liegt das auch an der Struktur der Redaktionen in tschechischen Medien. Diese sind nämlich oft in innen- und außenpolitische Abteilungen unterteilt."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„EU-Themen werden von der außenpolitischen Abteilung bearbeitet. Dort läuft die Berichterstattung aber ein wenig anders ab. Man verlässt sich dort viel stärker auf Agenturmeldungen, es gibt weniger Freiheit für eigene Themen und wenig Raum dafür, selbst an die Quellen zu gehen, Informationen aus erster Hand zu bekommen und herauszufinden, worum es wirklich bei dem jeweiligen Thema geht. All diese Zugänge sind dabei in den Inlandsredaktionen Gang und Gäbe. Ich denke, es würde helfen, wenn die tschechischen Politiker die Europapolitik so angehen würden wie die Innenpolitik – das heißt zum Beispiel, dass sie aktiver und regelmäßiger an Treffen auf Ministerebene teilnehmen und angemessen darüber die Medien und die Öffentlichkeit informieren. Darin sehe ich noch ein großes Defizit. Durch Schritte in diese Richtung könnten europäische Themen wieder mehr in die innenpolitischen Redaktionen der tschechischen Medien gelangen. Und dadurch würde mehr und besser über die EU-Politik berichtet. Ich will damit gar nicht die Journalisten kritisieren, die über auswärtige Themen berichten. Es ist schlichtweg eine Frage der Kapazitäten. Die Redaktionen für Inneres sind personell zumeist einfach sehr viel stärker besetzt.“

Filip Rambousek:
“Weiterhin tragen die Medien hierzulande also eher zu einem verzerrten Bild der EU bei - als sei diese etwas Auswärtiges und Entferntes, ein anonymes „Brüssel“, das Tschechien unsinnige Vorschriften aufzwingt. Seit Langem die stärkste euroskeptische Partei sind die Bürgerdemokraten, die von Václav Klaus gegründet wurden. 2009, als Tschechien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehatte, saßen die Bürgerdemokraten gerade in der Regierung. Tschechien stellte sich bei der Ratspräsidentschaft nicht nur mit einem selbstbewussten Slogan vor, der wortwörtlich „Wir versüßen es Europa“ lautete. Teil des Konzepts war auch ein provokatives Kunstwerk, das im Januar 2009 feierlich am Sitz des Rates der Europäischen Union in Brüssel enthüllt wurde. Heute ist das Kunstwerk im westböhmischen Plzeň / Pilsen zu sehen.”

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
„Ich befinde mich im Techmania Science Center in Pilsen – einem populärwissenschaftlichen Bildungszentrum und Museum – und stehe vor der riesigen Plastik mit dem Namen Entropa. Geschaffen hat sie der tschechische Künstler David Černý, und zwar anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft der Tschechischen Republik im Jahr 2009. Bei mir ist Jiří Chroust, der Pressesprecher des Techmania Science Centers. Guten Tag.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Guten Tag.”

Filip Rambousek:
„Zunächst einmal ist jeder Gast hier wohl überwältigt von den Dimensionen dieser Plastik. Wie groß ist sie? Und wie haben Sie diese überhaupt ins Gebäude bekommen? Man sieht, dass sie hier nur gerade so Platz hat.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Die Plastik Entropa ist 16,5 Meter hoch und ebenso breit. Wenn man nach oben schaut, sieht man, dass die Decke unserer Ausstellungshalle gar nicht hoch genug ist. Wenn wir nicht die Lichtöffnungen im Dach hätten, die den Raum etwas größer machen, könnten wir dieses Kunstwerk wahrscheinlich gar nicht unterbringen.“

Filip Rambousek:
„Es ist eigentlich ein großer Spritzguss-Bausatz, der so aussieht, als ob man die einzelnen Teile herauslösen könnte. Und jedes Teil stellt einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union dar.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Das haben Sie treffend beschrieben, denke ich. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Zuhörer an den Plastikmodellbau, bei denen die einzelnen Teile aus einem Rahmen herausgetrennt wurden. Im Fall von Entropa besteht dieser Modellbausatz aus den damaligen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen.“

Filip Rambousek:
„Die Mitgliedstaaten werden zumeist mit Hilfe von Stereotypen charakterisiert. Deutschland zum Beispiel wird als dichtes Autobahnnetz mit kleinen Autos dargestellt, die sich gelegentlich in Bewegung setzen. Oben rechts ist ein riesiger Karton mit der Aufschrift Ikea zu sehen, der Schweden repräsentiert, und direkt darunter befindet sich Bulgarien, auf wenig schmeichelhafte Weise dargestellt als eine Reihe von Hocktoiletten, die auf Tschechisch türkische Klos heißen. Die Vertreterinnen und Vertreter Bulgariens waren darüber verständlicherweise nicht sehr erfreut. Damals gab es sogar einen kleinen diplomatischen Streit. Welches der 27 Teile des Puzzles hat Sie am meisten angesprochen? Haben Sie irgendwelche Favoriten?“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Einen Favoriten habe ich nicht, aber ich kann Ihnen sagen, welches dieser Länder uns am meisten Probleme gemacht hat – das war Österreich. Wie Sie hier unten rechts sehen, ist Österreich als grünes Land abgebildet, aus dem die Kühltürme eines Kernkraftwerks herauswachsen. Aus diesen Türmen entweicht gelegentlich Rauch, und der hat ständig unsere Brandmelder aktiviert. Wir mussten also die Rauchmenge so regulieren, dass die Sensoren sie nicht mehr wahrgenommen haben.“

Filip Rambousek:
"Lassen Sie uns noch ergänzen, dass Großbritannien mit einem leeren Kasten in der oberen linken Ecke der Skulptur vertreten ist – eine Art Omen für den Brexit. Das ganze Projekt war ein großer Schwindel von Seiten David Černýs. Laut der ursprünglichen Vereinbarung sollten sich an Entropa insgesamt 27 Künstlerinnen und Künstler beteiligen, einer aus jedem Mitgliedsstaat. Selbst Alexandr Vondra, der Hauptkoordinator der tschechischen Ratspräsidentschaft von den Bürgerdemokraten (ODS), wusste bis zum letzten Moment nicht, dass nur Černý selbst und ein paar seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die riesige Skulptur geschaffen hatten. Und wie erinnert sich David Černý mit dem Abstand von fünfzehn Jahren an Entropa?"

David Černý (übersetzt ins Deutsche):
„Es war eine große Herausforderung. Zeitweise war es großartig, aber manchmal war ich mir nicht sicher, ob Alexandr Vondra mich nicht fertig machen würde – ich sollte aber dazusagen, dass wir befreundet sind, ich übertreibe also ein wenig. Im Nachhinein betrachtet hat es ziemlich viel Spaß gemacht. Der wohl lustigste Moment war, als bei der Enthüllungszeremonie von Entropa ein bulgarischer Journalist vor mehreren tausend Gästen fragte, was wir tun würden, wenn Bulgarien protestieren würde. Wir antworteten, dass es in diesem Fall möglich sei, den Teil der Skulptur, auf dem Bulgarien abgebildet ist, zu verdecken. Dann ergriff ein britischer Journalist vom Guardian das Wort und fragte, was wir tun würden, wenn Großbritannien ebenfalls protestieren würde. Ich erinnere daran, dass Großbritannien bei Entropa absichtlich nicht vorkommt. Daraufhin brachen alle in schallendes Gelächter aus. Tausende Menschen lachten und klatschten. Am Ende wurde es also eine riesige Party, und das war gut so. Als wir ankamen, hatten wir aber keine Ahnung gehabt, was passieren würde. Ob nicht zum Beispiel Pflastersteine fliegen. Zuvor hatte uns Alexander Vondra nämlich einen Haufen Droh-E-Mails von allen möglichen europäischen Staatsmännern auf den Tisch geknallt."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Das provokante Kunstwerk, das sowohl positive als auch negative Reaktionen hervorrief, passt gut zum allgemein etwas peinlichen Charakter der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2009. Der Politikwissenschaftler Jiří Pehe bewertet die erste tschechische Ratspräsidentschaft eher kritisch. Seiner Meinung nach entschied sich die damalige Regierung für eine unglückliche Strategie, die in dem Slogan „Wir werden es Europa versüßen“ ihren sinnbildlichen Ausdruck fand."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„‚Wir wissen alles besser, und jetzt, wo wir die Ratspräsidentschaft inne haben, werden wir Ihnen alles erklären.‘ So klang das damals. Am Ende stürzte die Regierung noch während des EU-Vorsitzes, und die Tschechische Republik wankte dem Ende ihrer eigentlich erfolglosen Präsidentschaft eher entgegen.“

Filip Rambousek:
"Die zweite tschechische Ratspräsidentschaft, die in die zweite Jahreshälfte 2022 fiel, nahm bereits einen viel besseren Verlauf. Unter anderem, weil sich vier von fünf Parteien der aktuellen Regierungskoalition eindeutig pro-europäisch positionieren."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die liberal-konservative TOP 09, die Christdemokraten und die liberal-konservative Bürgermeisterpartei sind Teil der Fraktion der Europäischen Volkspartei, die zu den treibenden Kräften der europäischen Integration zählt. Die liberal-progressiven Piraten gehören zur Fraktion der Grünen, die ebenfalls eindeutig pro-europäisch eingestellt ist. Und dann sind da noch die Bürgerdemokraten, die 2009 beschlossen haben, die Europäische Volkspartei zu verlassen und stattdessen den Europäischen Konservativen und Reformisten beizutreten. Diese Fraktion wurde lange Zeit von den britischen Konservativen dominiert, die den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union anstrebten. Nach dem Brexit ist der Hauptpartner der Bürgerdemokraten in dieser Fraktion die polnische Partei ‚Recht und Gerechtigkeit‘.“

Filip Rambousek:
"Es ist daher nicht überraschend, dass es in der derzeitigen Regierungskoalition keinen Konsens über eine vertiefte europäische Integration und die Einführung des Euro in Tschechien gibt. Während die vier kleineren Parteien dafür wären, seien die Bürgerdemokraten nach wie vor zurückhaltend, sagt Jiří Pehe."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre, die mit der Corona-Pandemie ihren Anfang nahm und durch den Krieg in der Ukraine, die steigenden Energiepreise und die Inflation weiter verschärft wurde, hat deutlich gezeigt, dass es für die Tschechische Republik wirtschaftlich vorteilhafter wäre, Teil der Eurozone zu sein. Diese Ansicht findet heute sogar innerhalb der Bürgerdemokraten selbst starken Widerhall. Aber es ist eine Art Relikt aus der Zeit von Václav Klaus, dass sich die Bürgerdemokraten dazu zwingen, im Hinblick auf eine tiefere europäische Integration zurückhaltend zu bleiben.“

Filip Rambousek:
"Die stärkste Oppositionspartei ist derzeit die Partei Ano von Ex-Premier Andrej Babiš. Ursprünglich hatte sie sich als pro-europäische und liberale Kraft profiliert, ist aber in den letzten Jahren auf national-konservative Positionen umgeschwenkt. Trotzdem ist sie weiterhin Mitglied der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Ob die Tschechische Republik pro-europäisch sein wird, hängt in hohem Grad von der Ano ab. Und zwar ob sich die Partei auf die euroskeptischen Positionen zubewegt, die bisher vor allem von den Bürgerdemokraten vertreten wurden, oder ob sie zumindest teilweise für eine weitere Integration offenbleibt.“

Filip Rambousek:
"Am äußersten Rand des politischen Spektrums steht die Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ von Tomio Okamura, die programmatisch antieuropäisch ist und sich offen für den Austritt der Tschechischen Republik aus der EU ausspricht. Die Unterstützung für diese rechtsextreme Partei lag in den vergangenen Jahren bei etwa zehn Prozent. Nach Ansicht des Soziologen Martin Buchtík haben vor allem zwei große Krisen aus jüngster Zeit dazu beigetragen, dass europaskeptische Einstellungen hierzulande wieder populär geworden sind:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Die globale Wirtschaftskrise und die Krise in der Eurozone haben nicht nur zu einer Verunsicherung gegenüber dem Euro geführt, die mit den Gerüchten über die Tilgung der griechischen Schulden zusammenhängt, sondern auch zu einer Verunsicherung über die zukünftige Ausrichtung der Tschechischen Republik. Im Jahr 2013 stürzte die damalige Mitte-Rechts-Regierung, die gleichzeitig die unbeliebteste Regierung in der modernen tschechischen Geschichte war. Und natürlich hatte auch die sogenannte Migrationskrise große Auswirkungen, obwohl sie sich in Tschechien nicht wirklich bemerkbar gemacht hat. Es gab fast keine Flüchtlinge hier. In diesem Zusammenhang lässt sich anekdotisch eine Umfrage erwähnen: 2016 stürzte die Popularität von Angela Merkel, die zuvor in den Augen der Tschechen ein außenpolitischer Star gewesen war, zeitweise unter die von Wladimir Putin ab. Das war ausschließlich eine Folge der sogenannten Migrationskrise.“

Filip Rambousek:
"Zur gleichen Zeit habe auch die Europäische Union einen vergleichbaren Popularitätsrückgang erlebt, ergänzt Martin Buchtík."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn wir uns anschauen, wie die Menschen hierzulande in einem hypothetischen Referendum über den Austritt der Tschechischen Republik aus der Europäischen Union abgestimmt hätten, wissen wir, dass der kritischste Zeitraum um das Jahr 2015 herum war. Wäre zu diesem Zeitpunkt ein Referendum abgehalten worden, hätte die Tschechische Republik die EU wahrscheinlich verlassen."

Filip Rambousek:
"Martin Buchtík betont aber auch, dass es sich um eine hypothetische Frage handelt, die nur das Stimmungsbild der tschechischen Öffentlichkeit zum damaligen Zeitpunkt widerspiegelt. Hätte das Referendum tatsächlich stattgefunden, hätte es auch ganz anders ausgehen können. Eine gewisse kritische Distanz zur Europäischen Union zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch die gesamte 20-jährige Geschichte der tschechischen EU-Mitgliedschaft. Laut Alexander Vondra, der für die Bürgerdemokraten im EU-Parlament sitzt, gibt es dafür tiefere historische Gründe."

Alexander Vondra (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Erfahrung mit der Geschichte ist verbunden mit einem natürlichen Maß an Skepsis gegenüber visionären Großprojekten. Mit so etwas waren wir im Kommunismus konfrontiert, aber auch in vorhergehenden historischen Perioden, zum Beispiel während der nationalen Wiedergeburt. Am Ende gab es immer eine Konfrontation mit einer Realität, die diesen großen Plänen nicht standhielt. Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Europäische Union ihre Pläne nicht zu idealistisch und utopisch gestaltet. Die Tschechen haben ihre eigenen historischen Erfahrungen, und solche Pläne werden ihnen immer verdächtig vorkommen. Manchmal werden Befürchtungen laut, dass die Tschechen die Europäische Union aufgeben werden. Ich glaube nicht, dass dies der Fall sein wird. Selbst wenn die Europäische Union in Schwierigkeiten geraten würde und sich aufzulösen drohte, werden die Tschechen zwar weiterhin motzen, aber sie werden bis zum letzten Atemzug treue Mitglieder bleiben – so wie sie auch der Habsburgermonarchie treu waren.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Trotz der reservierten Haltung eines Teils der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber der Europäischen Union ist offensichtlich, dass die EU-Mitgliedschaft für die Tschechische Republik in vielerlei Hinsicht von Vorteil ist. Ganz oben stehen für den EU-Abgeordneten Vondra die fünf Grundfreiheiten:"

Alexander Vondra (übersetzt ins Deutsche):
„Der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Informationen. Das ist etwas Großartiges für uns. Tschechien ist wie Deutschland ein exportorientiertes Land, das viel mehr produziert, als es bei sich verkaufen kann. Wir sind auf offene Märkte, auf Exporte, auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit angewiesen. Diese Freiräume sind fantastisch. Wir dürfen sie nicht verlieren.“

Filip Rambousek:
"Erwähnt werden muss aber auch, dass Tschechien seit 20 Jahren Nettoempfänger von EU-Geldern ist, die in die Entwicklung von Bildung, Gesundheit, Verkehrsinfrastruktur und Umweltschutz geflossen sind, aber genauso in die Wirtschaft und die Beschäftigung. Dennoch war es lange Zeit nicht möglich, die tschechische Öffentlichkeit vom Nutzen der Europäischen Union zu überzeugen. Nach Ansicht von Martin Buchtík könnte dies auch mit der geopolitischen Lage der Tschechischen Republik zusammenhängen."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Im Gegensatz zu anderen Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks bedeutet die EU für uns nicht in erster Linie eine geopolitische Sicherheit – zumindest nicht so stark wie für die baltischen Staaten. Wir sehen sie auch nicht als großes wirtschaftliches Zugpferd. In der Tat verstehen wir uns lieber als eine Art Musterschüler des ehemaligen Ostblocks.“

Filip Rambousek:
"Das geringe Interesse der tschechischen Öffentlichkeit an der europäischen Politik lässt sich gut an der niedrigen Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament ablesen. Im Jahr 2014 gingen lediglich 18 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu den Urnen. Nur in der Slowakei lag die Beteiligung damals noch niedriger. Dazu die Analystin Helena Truchlá."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische politische Klasse hat sich die Europäische Union nie ganz zu eigen gemacht, sie nie als ihr eigenes Terrain betrachtet. Die Vorstellung, dass wir Europa sind und dass die Wahl zum Europäischen Parlament bedeutet, unsere Leute in unser demokratisches Gremium zu wählen, das uns dann in die Lage versetzt, unser Leben in ganz bestimmten Bereichen zu beeinflussen, hat sich nie durchgesetzt.“

Filip Rambousek:
"Monika Ladmanová leitet die Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien. Ihrer Meinung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Tschechinnen und Tschechen mit der Europäischen Union vertrauter werden und sie als ihre eigene Sache anerkennen."

Monika Ladmanová (übersetzt ins Deutsche):
„Es sind erst 20 Jahre vergangen. Das mag dem einen wenig erscheinen, dem anderen viel. Fest steht, dass wir hier mittlerweile eine Generation junger Menschen haben, die in die Europäische Union hineingeboren wurden. Sie stellen unsere Mitgliedschaft nicht mehr in Frage. Wenn ich zu Debatten mit Studenten gehe, muss ich mir immer bewusst machen, dass es für sie ganz automatisch so läuft. Für mich ist das noch nicht automatisiert. Darum habe ich manchmal Angst, dass etwas völlig Unvorhersehbares passieren könnte. Ich denke, dass es Zeit braucht. Der Beitritt zur Europäischen Union war für viele Menschen etwas völlig Neues. Ich würde also nicht so schwarzsehen. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, und das dauert eine gewisse Zeit. Nun sind wir im 20. Jahr, und vielleicht kommt es ja gerade da zu einem Durchbruch – so wie bei einem Heranwachsenden in der Familie. Der macht in diesem Alter auch eine bestimmte Veränderung durch, und viele Dinge werden ihm klar.“ 

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Zu den Dingen, die es zu ändern gilt, gehöre die passive Haltung einiger tschechischer Politiker bei Verhandlungen mit der EU, meint die Analystin Helena Truchlá."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Europapolitik ist sehr reaktiv. Die Politiker warten, bis ein Vorschlag auftaucht und diskutiert wird. Im Gegensatz dazu sind Länder wie die Niederlande oder Dänemark, die von der Größe her mit Tschechien vergleichbar sind, viel aktiver und haben es geschafft, sich eine solche Position in der Europäischen Union zu erarbeiten, dass sie, wenn ein neues Thema diskutiert wird, von Anfang an dabei sind und den Vorschlag beeinflussen können, bevor er in den komplizierten Abstimmungsprozess kommt.“

Filip Rambousek:
"In dieser Hinsicht hat sich in letzter Zeit eine deutliche Verbesserung bemerkbar gemacht. In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hatte die Tschechische Republik den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Und diesmal habe sie ihre Aufgabe sehr gut gemeistert, findet der Politikwissenschaftler Jiří Pehe."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Plötzlich waren wir nicht mehr in der Position, in der wir uns 2015 befanden, als die Migrationskrise ausbrach und wir uns gemeinsam mit den anderen Visegrád-Ländern in der Reihe der Verweigerer gegenüber allem, was aus Brüssel kam, wiederfanden. Das Wort Migration wurde damals zum Symbol für alles Falsche und politisch missbraucht. Während ihrer Präsidentschaft im Jahr 2022 hat die Tschechische Republik dagegen die Führung bei den Verhandlungen über die Reform der Migrationspolitik übernommen. Dies lag unter anderem daran, dass Tschechien aus dem Schatten der anderen Visegrád-Länder herausgetreten ist. Die Lage in Ungarn und Polen war dermaßen grenzwertig, dass Tschechien sich nicht länger als organischer Teil dieser Gruppe präsentieren konnte und damit begann, seine eigenen Interessen in der Europäischen Union deutlicher zu artikulieren. Der tschechische Premier Petr Fiala kritisierte die ungarische und polnische Ablehnung der Asylreform, während die tschechische Regierung dazu beitrug, diese Reform durchzusetzen.“

Filip Rambousek:
"Der jüngste EU-Ratsvorsitz habe das Image der Tschechischen Republik in Europa deutlich verbessert, bestätigt auch Monika Ladmanová, die Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien."

Monika Ladmanová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Tschechische Republik wird – vor allem nach der erfolgreichen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2022 – als absolut zuverlässiger, vertrauenswürdiger und konstruktiver Partner wahrgenommen. Funktionsfähig und voll professionell. Tschechische Diplomatinnen und Diplomaten, die an den Vertretungen des Landes in Brüssel arbeiten, sind absolute Profis. Das Gleiche gilt natürlich auch für jene Tschechinnen und Tschechen, die direkt in den europäischen Institutionen arbeiten.“

Filip Rambousek:
"Doch nicht einmal die erfolgreiche Ratspräsidentschaft hat die Einstellung der tschechischen Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union grundlegend verändert. Zwar hatte die russische Invasion in der Ukraine einen gewissen Einfluss, der zu einer verstärkten Wahrnehmung der EU und der NATO als Garanten für die Sicherheit führte. Die jüngsten Daten zeigen jedoch, dass dieser Effekt nur kurzfristig war. Das Vertrauen in die Europäische Union ist hierzulande sogar wieder deutlich gesunken, von 58 Prozent im Jahr 2022 auf 46 Prozent im Jahr 2023. Tschechinnen und Tschechen halten also weiterhin eine gewisse Distanz zur EU. Auch aus diesem Grund hätten sie nur eine unklare Vorstellung davon, wie die Zukunft der Union aussehen könnte, erläutert der Soziologe Martin Buchtík."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Die meisten Menschen in Tschechien glauben, dass die Europäische Union irgendwie reformiert werden sollte, dass sich etwas ändern sollte. Aber was, weiß keiner so genau, um diese Aufgabe sollen sich die Politiker kümmern. Es ist eines der wenigen Anliegen, die Tschechen und Tschechinnen den Politikern überlassen würden. Obwohl sie wollen, dass Tschechien Teil der EU bleibt. Gleichzeitig schenken sie Institutionen im Allgemeinen nicht viel Vertrauen, außer vielleicht dem tschechischen Verfassungsgericht. Für die meisten Menschen in Tschechien ist die Europäische Union weit weg und schwer fassbar. Deshalb haben sie auch eher eine oberflächliche Beziehung zu ihr. Trotzdem weckt das Thema Europäische Union manchmal starke Emotionen. Aber eine klare Meinung über ihre künftige Ausrichtung haben nur wenige Menschen in der Tschechischen Republik.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Damit ist der fünfte Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ am Ende. In der nächsten Ausgabe geht es um die Einstellungen der Tschechinnen und Tschechen zum Thema Flucht und Asyl. Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Dr. Jiří Pehe ist Politikwissenschaftler und Schriftsteller. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie an der Karls-Universität Prag, wo er im Jahr 1980 promovierte. Im September 1981 floh er aus der Tschechoslowakei über Jugoslawien nach Italien.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Rom, wanderte er mit seiner Frau in die USA aus und wohnte in New York City. Dort wurde ihm politisches Asyl gewährt. Bis 1983 arbeitete er als Nachtwächter in einem Hotel. Er besuchte die School of International Affairs an der Columbia University in New York und promovierte im Jahr 1985. Von 1985 bis 1988 arbeitete er für Freedom House und schrieb unter anderem Texte für die New York Times.
Ab August 1988 arbeitete er als Analyst für das Forschungsinstitut von Radio Free Europe in München. Im November 1989 wurde er Leiter der Abteilung für Forschung und Analyse der Mitteleuropa Fragen. Nachdem Radio Free Europe im Jahr 1995 seinen Hauptsitz von München nach Prag verlegte, zog er zurück nach Tschechien. Vom 1995 bis 1997 arbeitete er als Direktor der Abteilung für Forschung und Analyse am Open Media Research Institute in Prag. Von 1997 bis 1999 war er Direktor der Politischen Abteilung der Kanzlei des tschechischen Präsidenten Václav Havel und später arbeitete er bis 2003 als präsidialer Berater für außenpolitische Fragen.
Seit 1999 leitet Jiří Pehe als Direktor die New York University in Prag. Er ist Mitglied des International Forum for Democratic Studies Research Council. Als politischer Beobachter und Analytiker kommentiert er für das tschechische Fernsehen und den Rundfunk sowie für internationale Medien aktuelle politische Entwicklungen und das Weltgeschehen.

Quelle

Helena Truchá war als Journalistin für Aktualne.cz, Hospodářské noviny und den MDR tätig. Ihre Schwerpunkte sind tschechische Außenpolitik, Migration, EU und digitale Gesellschaften. Truchlá studierte Politikwissenschaften an der Masaryk-Universität in Brünn. Aktuell arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für (Ost-)Europapolitik im Bundestag.

Dr. Martin Buchtík ist Sozialwissenschaftler und seit 2018 Direktor des analytischen Instituts STEM. Er konzentriert sich auf Themen im Zusammenhang mit der sich dynamisch verändernden Gesellschaft in einem breiteren Kontext und anderen Fragen wie öffentliche Meinungsbildung, Lebensqualität, Zusammenhalt und Ungleichheit. In der Vergangenheit leitete er das Zentrum für Meinungsforschung am Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Er schloss sein Promotionsstudium an der Karlsuniversität mit Schwerpunkt auf soziologischer Forschungsmethodik ab.

Quelle

Monika Ladmanová ist seit Juli 2022 Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in der Tschechischen Republik. Davor war sie seit 2014 Mitglied des Kabinetts von Věra Jourová, der heutigen Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Werte und Transparenz, und von 2014-2019 Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung.

Monika Ladmanová ist studierte Juristin mit langjähriger Erfahrung im Non-Profit-Sektor und in globalen Konzernen. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben damit verbracht, europäische Werte zu fördern und im Bereich der europäischen Integration zu arbeiten.

Nach ihrem Studium an der UK Law School und der Columbia University New York arbeitete sie beim Tschechischen Helsinki-Komitee, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Menschenrechte einsetzt. Anschließend war sie zehn Jahre lang im Vorstand des Open Society Fund Prague tätig und arbeitete an Projekten zur Stärkung der Demokratie, zur Beseitigung von Diskriminierung und zur Bekämpfung der Korruption. Danach arbeitete sie bei IBM Tschechien als Managerin für sozial nützliche Projekte.

Sie war im Vorstand mehrerer gemeinnütziger Organisationen in der Tschechischen Republik und im Ausland tätig und vertrat diese unter anderem bei der UNO in New York. Sie ist Autorin einer Reihe von Artikeln über Menschenrechte, Vielfalt und Gleichstellung der Geschlechter. Außerdem hat sie auf Konferenzen und internationalen Gipfeltreffen Vorträge zu diesen Themen gehalten.

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RNDr. Alexandr Vondra ist seit 2019 für die Bürgerdemokraten (ODS) Mitglied des Europäischen Parlaments. Während der Samtenen Revolution war er im November 1989 Gründungsmitglied des Bürgerforums (Občanské fórum) und deren Zeitung Informační servis, aus dem 1990 die Wochenzeitung Respekt hervorging. Von 1990 bis 1992 war er außenpolitischer Berater des letzten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel, von Juli 1992 bis März 1997 stellvertretender Außenminister der neu gegründeten Tschechischen Republik und von 1997 bis 2001 vertrat Vondra Tschechien als Botschafter in den USA. Zudem war er von 2006 bis 2012 tschechischer Senator, 2006–2007 Außenminister, 2007–2009 stellvertretender Premierminister und 2010–2012 Verteidigungsminister Tschechiens.

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David Černý ist ein tschechischer Bildhauer. Von 1988 bis 1994 studierte Černý im Kurt-Gebauer-Studio an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag und nahm 1995 und 1996 am unabhängigen Studienprogramm des Whitney Museums in New York teil. Bekanntheit erlangte Černý 1991, indem er einen sowjetischen Panzer rosa bemalte. Da das Denkmal für sowjetische Panzerbesatzungen zu dieser Zeit ein nationales Kulturdenkmal war, wurde sein ziviler Ungehorsam als Vandalismus angesehen und er wurde kurzzeitig festgenommen. Der Rosa Panzer steht jetzt im Eingangsbereich des Militärtechnischen Museums Lešany.

Von seiner Hand stammen einige bekannte Skulpturen in Prag, etwa die krabbelnden Kleinkinder an den Säulen des Fernsehturms und der auf dem Bauch eines kopfüber hängenden Pferdes sitzende heilige Wenzel in der Lucerna-Passage, eine Parodie auf das Reiterstandbild auf dem Wenzelsplatz. Ebenfalls von Černý stammt die Skulptur Quo Vadis, die einen Trabant mit vier Beinen darstellt. Mit dieser Skulptur würdigte Černý die Vorkommnisse vom September 1989, als tausende DDR-Bürger in die Deutsche Botschaft Prag flüchteten und dabei ihre Trabis in Prag zurückließen. Das Original der Skulptur befindet sich heute in der Sammlung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, im Park der deutschen Botschaft in Prag steht eine Kopie.

Anlässlich der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft 2009 schuf Černý die Installation Entropa, die Vorurteile gegenüber den einzelnen EU-Mitgliedern darstellt. Damit löste er in mehreren Staaten Entrüstung aus, vor allem in Bulgarien, dessen Umrisse in Form einer Hocktoilette dargestellt wurden.

Quelle

Folge 6: Flucht und Migration

Seit Februar 2022 sind etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge in Tschechien angekommen. Knapp 400.000 davon haben in dem Land zumindest vorübergehend ein Zuhause gefunden und sind geblieben. Im Gegensatz dazu hat Tschechien während der sogenannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 fast gar keine Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Wie ist es möglich, dass eine stark flüchtlingsfeindliche Stimmung plötzlich abgelöst wurde von einer relativen Freundlichkeit und Offenheit? Wie läuft die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die tschechische Gesellschaft? Und können die positiven Erfahrungen mit ukrainischen Flüchtlingen zu einer offeneren tschechischen Migrations- und Asylpolitik beitragen, die Expertinnen und Experten zufolge seit langem zu den restriktivsten in der Europäischen Union zählt? Diese Fragen stelle ich der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Direktor der nichtstaatlichen Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU) Martin Rozumek und der Migrationsexpertin Marie Jelínková von der Prager Karlsuniversität. Weitere Gesprächspartner sind der Soziologe Jaromír Mazák von der Meinungsforschungsagentur STEM, die Journalistin und Dokumentarfilmerin Apolena Rychlíková und die Leiterin des kommunalen Zentrums Svitlo Olha Cherepiuk, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 nach Tschechien gekommen ist.

Da Tschechische Republik nicht zu den Hauptzielländern von Geflüchteten gehört und auch nicht auf den wichtigsten Migrationsrouten für Geflüchtete nach West- und Nordeuropa liegt, hat sich die europäische Migrationskrise auf der tschechischen politischen Bühne hauptsächlich dadurch bemerkbar gemacht, dass ein Teil des politischen Spektrums begonnen hat, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Seit 2015 ist die Migrationskrise in Tschechien zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden. Eine Reihe politischer Parteien hat die Migrationskrise zu einem zentralen Thema ihres Programms gemacht, z. B. die Morgendämmerung - Nationale Koalition, die von Tomio Okamura geführte Bewegung für Freiheit und direkte Demokratie oder die rechtsextreme Partei Nationale Demokratie. Die konservative ODS und die Partei der Freien treten etwas gemäßigter gegen die Aufnahme von Geflüchteten auf. Der Präsident Miloš Zeman hat sich ebenfalls deutlich gegen die Einwanderung ausgesprochen. Es bildeten sich populistische Gruppierungen, politische Bewegungen und Initiativen, die sich gegen Muslime und Migration positionierten und oft auch sehr aggressiv gegen Personen mit anderen Ansichten auftreten und so zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Einwanderungskritiker haben im tschechischen Kontext den Begriff "Sonnenmensch" etabliert.  Es handelt sich dabei um eine spöttische und abwertende Bezeichnung für eine Person, die dem Multikulturalismus zugeneigt ist, Asylbewerber willkommen heißt, positiv gegenüber Geflüchteten und eher links eingestellt ist. Einen politischen Gegenpol bildet in der Tschechischen Republik vor allem die Partei der Grünen. Während die damalige sozialdemokratisch geführte Regierung von Bohuslav Sobotka im Vergleich zum Rest der Europäischen Union eher als einwanderungsfeindlich galt, wurde sie innenpolitisch oft als zu offen gegenüber Asylbewerbern kritisiert. Auf EU-Ebene gehören die Länder der Visegrad-Gruppe zu den schärfsten Kritikern der Migrationspolitik der EU. Sie lehnen das Prinzip der Verteilung von Asylbewerbern in der gesamten Union ab und fordern den Schutz der Schengen-Außengrenze sowie ein funktionierendes Rückführungssystem für Wirtschaftsmigranten.

Obwohl laut Meinungsumfragen die Tschechische Republik seit Jahren zu den Ländern mit der negativsten Einstellung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten gehört, gilt das nicht pauschal für alle Migrationswellen. In den 1990er Jahren hat Tschechien tausende Geflüchtete aus Jugoslawien aufgenommen. Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist auch relativ hoch. Mit ca. 480 Tausend aufgenommenen Geflüchteten aus der Ukraine besetzt Tschechien in Europa den Platz Drei. Aus einer 2016 durchgeführten Untersuchung geht dagegen hervor, dass über 80 % der Tschechen die Aufnahme von Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Nordafrika ablehnen. Rund 70 % der Menschen stimmen auch der möglichen Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den tschechischen Grenzen zu.

Artikel von Martin Rozumek vom 14. September 2015 übersetzt ins Deutsche:

Im 2015 haben viele Flüchtlinge versucht, von Ungarn aus über die Slowakei und die Tschechische Republik nach Deutschland zu gelangen, doch viele von ihnen scheitern auf dem Weg. Die tschechische Polizei kontrollierte Züge auf irreguläre Reisende, die das Land ohne tschechisches Visum durchqueren wollten. In der Nacht zum 31. August 2015 wurden 260 Flüchtlinge, hauptsächlich syrischer Herkunft, aus Zügen und Autos geholt. Anschließend wurden die Flüchtlinge in Abschiebehaftanstalten gebracht. Bislang gibt es in der Tschechischen Republik zwei solcher Abschiebegefängnisse. Eines befindet sich in Běla-Jezova (etwa 60 km von Prag entfernt) und das andere in Vyšni Lhoty (etwa 400 km von Prag entfernt). Aufgrund des Platzmangels in den regulären Auffanglagern werden nun auch in einem weiteren Aufnahmezentrum in Zastávka (ca. 19 km von Brünn entfernt) Flüchtlinge untergebracht. Das Auffanglager Běla-Jezova war ursprünglich für 260 Personen geplant. Es waren dort aber teilweise mehr als 700 Flüchtlinge untergebracht, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Die Haftbedingungen sind schrecklich und entsprechen in keiner Weise den internationalen Standards und den EU-Vorschriften. Nur ein einziger Arzt steht für alle Inhaftierten zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es nur zwei Sozialarbeiter, die sich um mehrere hundert Flüchtlinge kümmern. Der gesamte Komplex ist von einem Maschendrahtzaun umgeben, und die Flüchtlinge haben keinerlei Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Nicht einmal die Freiwilligen der Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU), die hierher kommen, um Dienstleistungen wie Rechtsberatung und Rechtsvertretung anzubieten, können die Haftzentren ungehindert betreten. In einigen Fällen müssen sie stundenlang am Eingang des Bela-Gefangenenlagers warten, bis sie schließlich von einem bewaffneten Wachmann in einen kleinen Raum geführt werden, wo sie durch ein Fenster mit den Flüchtlingen kommunizieren. Ende Juni strich die Regierung die Mittel für Rechtsberatung und -vertretung für inhaftierte Asylbewerber und verstieß damit gegen die bestehenden EU-Asylverfahrens- und Rückführungsrichtlinien sowie gegen die Dublin-III-Verordnung. Dennoch kommen nach wie vor Juristen ausschließlich ehrenamtlich und mit geringen Spenden aus der tschechischen Öffentlichkeit in die Haftanstalten. Diese Juristen erhalten vom Sicherheitspersonal noch weniger Informationen als die ehrenamtlichen Sozialarbeiter. Die Juristen erhalten nicht nur unvollständige Informationen, sondern auch ungenaue Informationen. Kürzlich war eine Gruppe von Freiwilligen vor Ort und berichtete, dass sich derzeit mindestens 60 Kinder in der Haftanstalt in Bela Viele Kinder trugen keine Schuhe, waren unzureichend gekleidet und hatten sichtlich Hunger. Am nächsten Tag besuchten zwei Juristen die Einrichtung und erfuhren vom Sicherheitspersonal, dass nur etwa 10 Kinder in der Haftanstalt festgehalten wurden. Dies steht im klaren Widerspruch zu den Beobachtungen, die die Freiwilligen am Vortag vor Ort gemacht hatten.

Personen, die von außen kommen, haben keinen Zugang zu den Räumlichkeiten, in denen sich die Flüchtlinge befinden. Deshalb werden die Bedingungen in den Unterkünften nur unzureichend geprüft. Zelte, die auf dem Gelände errichtet wurden, um mehr Menschen unterzubringen, haben den Mangel an verfügbarem Platz für die inhaftierten Flüchtlinge noch verschärft. Manchmal sind die Flüchtlinge gezwungen, tagelang in ihren Zimmern zu bleiben, ohne Zugang zu natürlichem Licht oder Luft zu haben. Darüber hinaus ist nach Angaben der Flüchtlinge der Ernährungszustand vor Ort sehr schlecht. Aufgrund mehrerer Vorfälle werden die Menschen in den Haftanstalten während der Essenszeiten von bewaffneten Polizisten bewacht. Für diese unmenschlichen Bedingungen müssen die Asylbewerber 7200 tschechische Kronen pro Person und Monat zahlen. Umgerechnet in Euro sind das etwa 266 €. Viele Flüchtlinge können diese enorme Summe nicht aufbringen und erhalten bei ihrer Entlassung einen Schuldschein. Sie müssen ihr gesamtes Geld abgeben, mit dem sie den Aufenthalt bezahlen wollen, und auch ihre Mobiltelefone werden ihnen abgenommen, so dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Familien über ihren Aufenthaltsort zu informieren.

Gemäß Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe f der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Inhaftierung zum Zwecke der Abschiebung nur dann zulässig, wenn der Staat eine klare Perspektive für die Abschiebung einer Person hat. Nach der Dublin-Verordnung hat das Aufnahmeland sechs Wochen Zeit, um eine solche Überstellung durchzuführen. Im Wesentlichen werden alle Flüchtlinge während des Transits verhaftet, nachdem sie zuvor durch Ungarn gereist sind, und Ungarn ist offiziell für das Asylverfahren dieser Menschen zuständig. Ungarn hat jedoch keine Kapazitäten, um weitere Flüchtlinge aus der Tschechischen Republik zurückzunehmen, was vom tschechischen Innenminister Milan Chovanec und der Sprecherin der tschechischen Polizei, Frau Rendlova, offen bestätigt wurde. Aufgrund der schwierigen Lage in Ungarn werden fast alle Flüchtlinge nach 6 bis 8 Wochen freigelassen, nachdem ihnen ihr restliches Geld abgenommen wurde, und erhalten die Aufforderung, das Land innerhalb von 7 bis 10 Tagen zu verlassen. Nach der Freilassung können sie die tschechischen Grenzen ungehindert passieren und ihre Reise zu ihrem ursprünglichen Zielort fortsetzen.

Darüber hinaus wurde die Anforderung von Artikel 28 der Dublin-III-Verordnung, im Falle der Inhaftierung von "Dublinern" objektive Kriterien zur Definition der Fluchtgefahr gesetzlich festzulegen, nicht in tschechisches Recht umgesetzt, und es gab bereits Urteile tschechischer Gerichte, die die Rechtswidrigkeit einer solchen Inhaftierung bestätigten.

Dies alles wirft die Frage auf, warum die Flüchtlinge überhaupt verhaftet werden. Seit der jüngsten Ankündigung der deutschen Regierung, Syrern die Möglichkeit zu geben, ihren Asylantrag in Deutschland zu stellen, hat die tschechische Polizei begonnen, Syrer aus den Haftanstalten zu entlassen. Iraker, Afghanen und andere Staatsangehörige werden jedoch weiterhin inhaftiert.

In der Zwischenzeit verhandelt das tschechische Innenministerium mit den Gemeinden in der Tschechischen Republik über die Einrichtung weiterer Auffanglager für Flüchtlinge auf der Durchreise nach Westeuropa.

Quelle: Refugees being treated like criminals in Czech detention centres, von Martin Rozumek, Executive Director of Organization for Aid to Refugees (OPU) | European Council on Refugees and Exiles (ECRE), 14.9.2015

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Seit Februar 2022 sind insgesamt etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge in Tschechien angekommen. Knapp 400.000 davon haben in dem Land zumindest vorübergehend ein Zuhause gefunden und sind geblieben. Im Gegensatz dazu hat Tschechien während der sogenannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 fast gar keine Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Wie ist es möglich, dass eine stark flüchtlingsfeindliche Stimmung nun abgelöst wurde von einer relativen Freundlichkeit und Offenheit? Wie läuft die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die tschechische Gesellschaft? Und können die positiven Erfahrungen mit ukrainischen Flüchtlingen zu einer offeneren tschechischen Migrations- und Asylpolitik beitragen? Denn Expertinnen und Experten zufolge gehört Tschechien in diesem Bereich seit langem zu den restriktivsten in der Europäischen Union. Die genannten Fragen habe ich ich der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková gestellt, dem Leiter der nichtstaatlichen Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU) Martin Rozumek sowie der Migrationsexpertin Marie Jelínková von der Prager Karlsuniversität. Weitere Gesprächspartner sind der Soziologe Jaromír Mazák von der Meinungsforschungsagentur STEM, die Journalistin und Dokumentarfilmerin Apolena Rychlíková und die Leiterin des kommunalen Zentrums Svitlo Olha Cherepiuk, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 nach Tschechien gekommen ist.

Bereits vor dem Februar 2022 lebten etwa 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Tschechien. Auch aus diesem Grund habe sich ein großer Teil der ukrainischen Flüchtlinge nach der russischen Invasion zur Flucht nach Tschechien entschlossen, sagt Martin Rozumek, der Leiter der Organisation für Flüchtlingshilfe:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Nach unseren Schätzungen haben bisher etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge den Prager Hauptbahnhof passiert. Davon haben etwa 560.000 einen vorübergehenden Schutzstatus in der Tschechischen Republik erhalten, die übrigen sind in andere EU-Länder weitergereist. Derzeit halten sich etwa 380.000 ukrainische Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen mit Kindern, in Tschechien auf. Das ist eine enorm hohe Zahl. Früher hat Tschechien aufgrund ihrer restriktiven Politik weniger als zweitausend Asylanträge pro Jahr bearbeitet, von denen schließlich nur ein paar hundert bewilligt wurden. Es handelt sich also um eine große Veränderung für das ganze Land. Ich muss sagen, dass mich die aufwallende Solidarität und der Umschwung in der tschechischen Gesellschaft sehr positiv überrascht haben.“

Filip Rambousek:"In den ersten Monaten nach dem russischen Einmarsch war die Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge gleichbleibend hoch. Jaromír Mazák ist Soziologe und wissenschaftlicher Leiter beim Meinungsforschungsinstitut STEM."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Das hat sich sowohl in der Stimmung gespiegelt, denn etwa 70 Prozent der Öffentlichkeit haben zu Beginn die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge unterstützt, als auch in konkreten Aktionen; wir haben eine große Welle der Solidarität erlebt. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine bis heute haben die Tschechen etwa sechs Milliarden Kronen gesammelt. Der größte Teil dieser Summe, etwa 5 Milliarden, floss in die humanitäre Projekte, eine Milliarde in Waffen, Munition sowie Verteidigungsmittel.“

Filip Rambousek:
"Sechs Milliarden Kronen sind umgerechnet knapp 240 Millionen Euro. Jaromír Mazák weist gleichzeitig darauf hin, dass sich hinter den 70 Prozent Unterstützung viele außergewöhnliche Geschichten und konkrete Schicksale verbergen."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Zum Beispiel spendeten Menschen Computer für Mütter mit Kindern, damit sie per Videoschalte ihre in der Ukraine verbliebenen Ehemänner oder Väter anrufen konnten. Oder, ich habe aber auch mit einem jungen Mann gesprochen, der einen Lieferwagen hatte, den er als Camper nutzte. Der kam zu dem Schluss, diese Lebensphase sei nun vorbei, und dass andere diesen Wagen nun nötiger brauchten. Er fuhr ihn selbst in die Ukraine und stellte ihn der ukrainischen Armee zur Verfügung. Diese Geschichten veranschaulichen die tschechische Unterstützung für die Ukraine besser als jede Statistik. Die tschechische Gesellschaft hat zu Beginn die Ärmel hochgekrempelt und war sehr hilfsbereit und solidarisch.“

Filip Rambousek:
"Laut Mazák identifizieren sich die Tschechinnen und Tschechen wegen ihrer eigenen historischen Erfahrungen mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen im Jahr 1968 mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Die Unterstützung für die Ukraine und die ukrainischen Flüchtlinge ist in der Tschechischen Republik nach wie vor relativ stark und stabil, auch wenn seit Beginn der russischen Invasion bereits über zwei Jahre vergangen sind."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„In der ganzen Zeit gab es nur einen einzigen starken Einbruch, und zwar gleich in der ersten Hälfte des Jahres 2022, als die öffentliche Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge von 70 auf etwa 55 bis 60 Prozent fiel. Dabei ist es allerdings auch geblieben. Etwa 53 Prozent der tschechischen Öffentlichkeit sind weiterhin für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Wir sehen also, dass die Haltung der tschechischen Öffentlichkeit in diesen Fragen relativ stabil ist.“

Filip Rambousek:
"Unterstützung von Seiten der Öffentlichkeit bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Umsetzung der Flüchtlingshilfe gut gemeistert wird und die Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine reibungslos verläuft. In den ersten Monaten habe die Hauptlast auf den Schultern der NGOs gelegen, erinnert sich Martin Rozumek."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
“Die Anfangsphase hat der Staat verschlafen. Die Hauptaufnahmestelle für Flüchtlinge war der Hauptbahnhof in Prag, wo unsere gemeinnützige Organisation für Flüchtlingshilfe in Zusammenarbeit mit der Prager Stadtverwaltung, dem Roten Kreuz und der Feuerwehr die komplette Organisation übernahm. Der Staat selbst hatte kein Konzept. In den ersten Monaten hat er völlig versagt, erst später ist er langsam aufgewacht. Außerdem ist die staatliche Migrationspolitik langfristig sehr restriktiv ausgelegt. Doch die Menschen aus der Ukraine waren nun einmal schon da, also musste der Staat irgendwie damit fertig werden.“

Filip Rambousek:
"Trotz der Defizite sei es dem Staat mit Unterstützung der gemeinnützigen Organisationen gelungen, der großen Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge menschenwürdige Lebensbedingungen zu sichern, meint die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková. Seit Februar 2023 ist sie zugleich die nationale Koordinatorin für die Eingliederung und Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Wir haben es geschafft, relativ schnell und effektiv ein Registrierungssystem aufzubauen, den Ankommenden vorübergehenden Schutz zu gewähren, humanitäre Leistungen auszuzahlen, die Flüchtlinge in die Krankenversicherung einzugliedern und sogar den Arbeitsmarkt für sie zu öffnen. Im Augenblick arbeiten bereits 72 Prozent der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter. In der Tschechischen Republik gibt es auch ein relativ großes Angebot an Sprachkursen. Über 70 Prozent der Flüchtlinge leben bereits in regulären Mietwohnungen, und wir freuen uns zudem darüber, dass es uns gelungen ist, die meisten Kinder im schulpflichtigen Alter in Regelschulen, das heißt, in den normalen Unterricht zu bringen. Es gibt keine separaten, homogenen Schulen für ukrainische Kinder."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
“Ich befinde mich in einem historischen Palais auf dem Altstädter Ring und laufe die Treppenstufen nach oben in den dritten Stock. Genau hier, im Herzen von Prag, sitzt nämlich das kommunale Zentrum Svitlo, das Flüchtlingen aus der Ukraine hilft. Ich habe einen Termin mit der Leiterin Olha Cherepiuk. Guten Tag.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Guten Tag.”

Filip Rambousek:
“Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Das kommunale Zentrum Svitlo hat hier seinen Sitz, angedockt an das „Skautské Institut“, also das Pfadfinderinstitut. Dürfen wir uns in Ihren Räumen umsehen?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Natürlich. Das hier ist unsere Zentrale. Ich zeige Ihnen die beiden wichtigsten Räume. Das hier ist die Kinderecke, die auch als Werkraum dient. Hierher können Mütter an jedem Wochentag ihre Kinder bringen. Sie sind unter pädagogischer Aufsicht, während die Mütter einen Tschechisch-Kurs besuchen, einer Arbeit nachgehen oder zum Beispiel auch andere wichtige Dinge erledigen. Ihr Kind ist die ganze Zeit in guten Händen. Wir veranstalten hier auch Kurse für Kinder verschiedenen Alters. Wir haben wunderbare Lehrerinnen, unter deren Anleitung sich die Kinder in alle möglichen Richtungen ausleben können. Es gibt zum Beispiel Malkurse, aber auch viele andere Angebote.“

Filip Rambousek:
“Was wir hier sehen, sind wunderschöne Kinderteppiche und eine Menge Spielzeug. Aber auch Schreibtische, an denen die Kinder malen können. Und dort geht es weiter in einen zweiten großen Raum. Er sieht eher aus wie ein Klassenzimmer. Was passiert da?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Hier finden Tschechisch- und Englischkurse statt. Wir fangen auch an, Seniorentreffs zu organisieren, aber auch IT-Kurse. Außerdem ist hier die Bibliothek. Wir haben Bücher in Tschechisch und Ukrainisch, für Erwachsene und für Kinder. Und es gibt einen Computer und einen Drucker. Das alles steht unseren Gästen zur freien Verfügung.“

Filip Rambousek:
“Dafür, dass es nur zwei Räume sind, organisieren Sie wirklich unglaublich viel. Das Programm ist sehr dicht – von den verschiedensten Events und Hilfsmaßnahmen über Beratung bis hin zur Arbeit mit den Kindern.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Das stimmt. Wir machen viel. Zu unseren Angeboten gehören z. B. sozialpsychologische und rechtliche Beratung, gruppentherapeutische Angebote für Kinder und Erwachsene, Kunsttherapie oder Märchentherapie. Wir organisieren aber auch Vorbereitungskurse für Aufnahmeprüfungen in Mathematik und Tschechisch, Vorschulkurse oder Englischkurse für Kinder. Momentan beginnen die Kurse zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Was wir auch ermöglichen wollen, sind die unterschiedlichsten sportlichen Aktivitäten – Zumba, Bachata oder Yoga, für Kinder auch noch Aikido. Das hat sich als sehr wirksam erwiesen. Wir sehen, wie glücklich und begeistert diese Menschen sind, wenn sie die Möglichkeit haben, sich körperlich zu betätigen und gleichzeitig Zeit in ihrer Community zu verbringen.“

Filip Rambousek:
“Sie waren von Anfang an dabei beim kommunalen Zentrum Svitlo, also seit April 2022. Kann man sagen, dass Sie es mit aufgebaut haben?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Genauso ist es. Svitlo ist Ende April 2022 entstanden. Ich erinnere mich, als wir die neuen Räume bekommen haben. Sie waren völlig leer und wir mussten sie erst einmal ausmalen, reinigen und Möbel auftreiben. Es war wirklich viel Arbeit. Aber das war es wert. Ich denke, das kommunale Zentrum Svitlo ist zu einem sicheren Ort für Menschen geworden, die aus der Ukraine geflohen sind. Alle fühlen sich wohl hier.“

Filip Rambousek:
“Wenn wir von einem sicheren Ort sprechen – Sie selbst gehören zu den Menschen, die die Ukraine nach dem Februar 2022 verlassen mussten. Wie fühlen Sie sich in Tschechien? Kommen Sie gut zurecht, vielleicht auch dank des kommunalen Zentrums? Oder stoßen Sie auch auf Hindernisse?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Ich bin Ende Februar 2022 nach Tschechien gekommen. Ich wollte mein Kind retten, ich habe einen Sohn, der inzwischen acht Jahre alt ist. Für Tschechien habe ich mich entschieden, weil meine Eltern hier leben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es geschafft hätte, irgendwohin zu gehen, wo ich niemanden kenne. Ich bin dem Umfeld, das ich habe, sehr dankbar. Es ist so eine Art soziale Bubble, in der ich mich wohl fühle. Ich spüre die Unterstützung der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Als ich Anfang April 2022 hierher ins Pfadfinder-Institut gekommen bin, konnte ich fast gar kein Tschechisch, ich hatte keinen Tschechisch-Kurs besucht. Aber dank meiner Kollegen, dank ihrer Unterstützung konnte ich mich hier selbst verwirklichen. Das kommunale Zentrum Svitlo ist für mich sehr wichtig. Die Leute, die hierherkommen, lachen immer und sagen, es sei mein zweites Baby – vielleicht ist es nicht einmal das zweite, sondern sogar das erste. Ich verbringe wirklich sehr viel Zeit hier. Und ich weiß, dass Svitlo auch für viele andere Menschen wichtig ist, die regelmäßig hierherkommen. Das ist für mich das Wichtigste: Dass ich die Möglichkeit habe, anderen Menschen zu helfen. Und dass ich etwas tun kann, um der Ukraine zu helfen. Dass ich Menschen helfen kann, die nach Tschechien geflohen sind.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
„Trotz zahlreicher positiver Erfahrungen muss Olha Cherepiuk auch sagen, dass das Leben als ukrainischer Flüchtling in Tschechien in vielerlei Hinsicht schwierig ist. Viele Geflüchtete sehen sich oft etwa mit Vorurteilen konfrontiert.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Ich habe schon von mehreren solchen Vorfällen gehört. Mütter beklagen sich etwa, dass sie mit ihrem Kind über die Straße gehen und Ukrainisch reden, und dann von jemandem angebrüllt werden: ‚Ihr blöden Ukrainer! Was wollt ihr hier? Geht zurück nach Hause!‘ Die Tschechen denken oft, dass die Ukrainer ihnen ihr Geld wegnehmen. Wenn man sich aber einmal die aktuellen Zahlen anschaut, stellt man fest, dass 70 Prozent der geflüchteten Ukrainer einer offiziellen Arbeit nachgehen. Ich selbst arbeite hier seit März 2022 und die ganze Zeit über bezahle ich Steuern sowie meine Sozial- und Krankenversicherung – genauso wie der absolute Großteil der ukrainischen Geflüchteten, die hier Arbeit haben.“

Filip Rambousek:
„Neben den Vorurteilen stoßen die Ukrainerinnen und Ukrainer auch auf systematische Probleme, etwa im Bereich der Bildung.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt relativ wenige Plätze in den Schulen und Kindergärten. Dabei soll ja gerade die Bildung den Kindern helfen, Tschechisch zu lernen und sich erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Natürlich verstehen wir aber, dass es nicht so einfach möglich ist, innerhalb eines halben Jahres zum Beispiel zehn neue Schulen zu bauen, in denen Platz für alle Kinder ist.“

Filip Rambousek:
„Durch die Geflüchteten aus der Ukraine wurde zudem offenbar, in welchen Bereichen es in Tschechien schon seit Langem systematische Mängel gibt, sagt die freie Journalistin und Dokumentarfilmemacherin Apolena Rychlíková:“

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Bildungssystem, die Wohnungspolitik, der Arbeitsmarkt – das sind die Bereiche, die darüber entscheiden, ob Integration erfolgreich verläuft. Aktuell gibt es zum Beispiel sehr viele Kinder, die nicht in das Bildungssystem integriert sind. Es gibt Schulen, in denen es ganze Klassen nur mit Ukrainern gibt. Das kann in Zukunft zu Problemen führen. Wir sollten die Geflüchteten aus der Ukraine bilden, sicherstellen, dass sie Tschechisch lernen, sie vor mafiösen Praktiken wie Schwarzarbeit schützen und sicherstellen, dass sie einen adäquaten Wohnraum bekommen. Ohne diese grundlegenden Dinge kann ein Mensch allein wenig ausrichten. Staatliche Hilfe ist deshalb enorm wichtig. Wir können nicht alles nur den Ehrenamtlichen und den NGOs überlassen, die nur beschränkte Befugnisse und auch begrenzte Finanzmittel haben.“

Filip Rambousek:
„Gerade die staatlichen Mittel für die Flüchtlinge aus der Ukraine gehen in der letzten Zeit aber eher zurück – ganz gleich, ob es um humanitäre Zuschüsse für sie geht oder um die finanzielle Unterstützung solidarischer Haushalte, die ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben. Der tschechische Staat erhöht damit den Druck auf die Flüchtlinge, in kommerzielle Mietverhältnisse umzuziehen. Aber dieser Schritt ist oft gar nicht so einfach, wie auch der Fall von Olha Cherepiuk zeigt.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Ich kann mir leider nicht leisten, eine Wohnung für meinen Sohn und mich anzumieten. Die Miete in Prag kostet 25.000 Kronen, das heißt, mir würden gerade einmal 5000 Kronen für alle anderen Ausgaben übrigbleiben. Das würde noch nicht einmal für das Straßenbahnticket und die Freizeitaktivitäten und das Mittagessen für meinen Sohn reichen. Unsere Lage ist also wirklich kompliziert.“

Filip Rambousek:
"Und in dieser schwierigen Situation ist Olha Cherepiuk nicht alleine. Denn aktuellen Daten von Februar 2024 zufolge leben bis zu 57 Prozent aller ukrainischen Flüchtlinge in Tschechien unter der Armutsgrenze. Dies könnte eines der größten Hindernisse für eine gelungene Integration sein, warnt Marie Jelínková, Migrationsforscherin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Integration kann dann gelingen, wenn Migranten Teilhabe am normalen Leben in der Gesellschaft haben. Wenn man aber sehr arm ist, in Lebensmittelbanken gehen muss, um seine Kinder ernähren zu können und man eine Miete hat, die man mit seinem Lohn nur knapp bezahlen kann, kann mich sich nur schwerlich so in die Gesellschaft eingliedern, wie es für alle Seiten ideal wäre.“

Filip Rambousek:
"Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass in Folge der zweitstelligen Inflationsraten 2022 und 2023 die Reallöhne für den Großteil der Haushalte in Tschechien gestiegen sind. In der ganzen Gesellschaft ist der Anteil von Menschen gewachsen, die von Armut bedroht sind. Und das habe wiederum einen Einfluss auf die Haltung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, betont der Soziologe Jaromír Mazák."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Manche Tschechen sehen in den Flüchtlingen Konkurrenten, etwa auf dem Arbeits- oder dem Wohnungsmarkt. Da die Ukrainer zumeist unter ihren Qualifikationen im Niedriglohnsektor arbeiten, stellen sie vor allem für die Menschen eine Konkurrenz dar, die selbst materiell schlecht dastehen. Das sind die Menschen, die die ukrainischen Flüchtlinge dann mitunter negativ wahrnehmen.“

Filip Rambousek:
"Einer der Orte, an denen dieser Konkurrenzkampf zu einem gesellschaftlichen Konflikt anwachsen kann, seien die Arbeitsämter, die seit Langem personell unterbesetzt sind und sich derzeit am Rande ihrer Kapazitäten befinden, sagt die Journalistin Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„In dem Moment, in dem Tschechen und Tschechinnen etwas auf dem Arbeitsamt erledigen müssen – zumeist etwa Wohngeld beantragen – bekommen sie das Gefühl, dass den Ukrainerinnen und Ukrainern mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und sie deshalb später an ihre Zuschüsse herankommen. Das sind reale Situationen, zu denen es regelmäßig kommt, und natürlich kann das bei einem Teil der tschechischen Öffentlichkeit zu Unmut führen.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Trotz all dieser Probleme darf nicht vernachlässigt werden, dass sich Tschechien den Ukrainerinnen und Ukrainern gegenüber relativ entgegenkommend verhalten hat. Auch die Zustimmung in der Öffentlichkeit ist mehr oder weniger stabil. Die meisten der Geflüchteten leben in gängigen Mietswohnungen und gehen zur Arbeit. Aus den aktuellen Daten lässt sich schlussfolgern, dass sie immer weiter in die Gesellschaft integriert werden. Nicht zu allen Gruppen von Flüchtlingen haben sich die Tschechen und Tschechinnen aber derart solidarisch verhalten. Besonders gut zeige dies das Schicksal der aus der Ukraine geflohenen Romnja und Roma, betont Marie Jelínková:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Ganz gleich ob Aufenthaltsgenehmigungen, oder die Besorgung einer Unterkunft – all das, was für die Ukrainer schnell erledigt wurde, war auf einmal ein Riesenproblem. Die ukrainischen Roma wurden offiziell und inoffiziell abgelehnt und es wurde ihnen nahegelegt, nicht in Tschechien zu verbleiben.“

Filip Rambousek:
"Den ukrainischen Romnja und Roma blieb nichts anderes übrig, als für einige Zeit in Prag und Brünn auf dem Hauptbahnhof zu übernachten – unter gänzlich unwürdigen Bedingungen, wie die Journalistin Apolena Rychlíková erläutert:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Auf dem Prager Hauptbahnhof waren damals mehrere Dutzend geflüchtete Roma aus der Ukraine – darunter auch drei Monate alte Kinder. Sie mussten auf der Erde schlafen und bekamen eine asiatische Suppe aus heißem Wasser und abgepackte Toasts zu essen – der Nährwert dieses Essens ging gegen Null. Diese Menschen wurden Opfer des massiven Rassismus in der tschechischen Gesellschaft. Niemand wollte sie aufnehmen. Die Politiker verbreiteten Gerüchte darüber, dass es sich um ungarische Bürger handele, die die doppelte Staatsbürgerschaft hätten. Später zeigte sich, dass dem nicht so war, aber keiner der Politiker zog daraus die Verantwortung. Die geflüchteten Roma gingen in der Zwischenzeit woanders hin – wohin, weiß keiner.“

Filip Rambousek:
"Einen vergleichsweise restriktiven Zugang verfolgt Tschechien auch im Hinblick auf Asylbewerber aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika. Martin Rozumek von der Organisation für Flüchtlingshilfe spricht in dieser Hinsicht von einer „Zweigleisigkeit“ der tschechischen Migrations- und Asylpolitik. Geflüchtete aus verschiedenen Ecken der Erde werden unterschiedlich wahrgenommen. Während die Menschen aus der Ukraine gesonderte Schutzvisa ausgestellt bekämen, müssten alle anderen in einem regulären Verfahren Asyl beantragen, was in Tschechien überaus schwierig sei, so Rozumek:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Zu allen Geflüchteten, die keine Ukrainer sind, verhält sich Tschechien wesentlich schlechter. Ich würde sogar sagen, dass sich ihre Situation noch verschlechtert, denn derzeit haben sie keinen Zugang zu unabhängiger Rechtshilfe. Man muss ein Asylverfahren durchlaufen, dass sehr restriktiv ist und im Grunde nicht funktionsfähig, denn fast niemand bekommt am Ende tatsächlich Asyl. Man braucht sich also gar nicht zu wundern, dass es im vergangenen Jahr in Deutschland 352.000 Asylanträge gab und in Tschechien nur etwa 1000. Unser Asylsystem ist eben einfach nicht funktionsfähig und sehr restriktiv.“

Filip Rambousek:
"Und dabei geht es nicht nur um die Haltung der Behörden. Auch der Großteil der Bürgerinnen und Bürger unterscheidet laut Martin Rozumek zwischen ukrainischen Geflüchteten und den Flüchtlingen aus anderen Ländern."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Am negativsten wird von der tschechischen Gesellschaft ein alleinstehender Mann aus einem muslimischen Land wahrgenommen. Seine Chancen auf Asyl bei den tschechischen Beamten sind so verschwindend gering, dass das eine Schande ist. Ich wundere mich überhaupt nicht, dass im Grunde genommen alle weiter Richtung Westen gehen. Die Wahrscheinlichkeit, in Tschechien Asyl zu bekommen, integriert und in die Gesellschaft aufgenommen zu werden ist extrem gering.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Noch in den 1990er Jahren sei die Haltung der tschechischen Gesellschaft zu Geflüchteten positiver gewesen, betont Martin Rozumek. Die politische Führung des Landes und der Großteil der Bevölkerung waren bereit, zu helfen. Ob es sich um einen Christen handelte, oder einen Muslim, war damals allen egal."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Ich erinnere mich noch daran, wie wir Ende der 1990er Jahre während des Kosovo-Krieges die Flucht von Tausenden Menschen nach Tschechien organisiert haben. Dabei ging es um Muslime ohne Ausbildung aus dem Kosovo. Sie wurden auf verschiedene Unterkünfte in Böhmen und Mähren verteilt. Die Inhaber der Einrichtungen waren froh, dass sie wegen der Verträge mit dem Innenministerium für einige Zeit ein garantiertes Einkommen hatten. Nach dem Ende des Konflikts, gingen diese Menschen zurück in den Kosovo. Ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch, alles hat wunderbar funktioniert. Und während des Krieges in Bosnien in der ersten Hälfte der 1990er Jahre war das ganz ähnlich. Tschechien hat damals, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Probleme zu machen, 5600 Bosniaken aufgenommen.“

Filip Rambousek:
"Die Hilfe für die Menschen vom Balkan zeigt, dass es in Tschechien eine Zeit gab, in der die Themen Asyl und Migration nicht die Gemüter erhitzten."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Bis 2015 war das ein ruhiges Thema, für das sich auch die Politik nicht interessierte. Mit der Krise in Syrien 2015 änderte sich dies aber grundlegend. Die Politiker entdeckten das Thema Migration für sich und fingen an, ausländerfeindliche Töne anzuschlagen. Sie wollten damit möglichst viele Wähler verängstigen, um dann behaupten zu können, dass sie sie beschützen werden. Sie kündigten an, Wachen an die Grenze zu schicken und die Flüchtlinge in Internierungslager zu stecken, was dann auch passierte. Mit einem Mal wurden das Riesenthemen, die in jeden Wahlen aufgegriffen wurden. Es war, als wenn Tschechien auf einmal die Migration für sich entdeckt hätte.“

Filip Rambousek:
"Die tschechische Reaktion auf die sogenannte europäische Migrationskrise 2015 war sehr überspitzt, erinnert sich die Journalistin und Dokumentarfilmemacherin Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Was sich hier 2015 und 2016 abgespielt hat, als Menschen nach Europa kamen, die vor einem Krieg geflohen waren, ist für mich bis heute sehr schmerzhaft und unverständlich. Die politische Führung hat eine Umgebung geschaffen, in der unfassbar viele rassistisch eingefärbte Desinformationen verbreitet werden konnten.“

Filip Rambousek:
"Zu der verzerrten Wahrnehmung trugen dabei in bedeutendem Ausmaß auch die Medien bei, betont Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„In den Jahren 2015 und 2016 wurden wir Tag für Tag mit Titelseiten von Zeitungen konfrontiert, auf denen das Foto eines Menschen mit schwarzer Hautfarbe und einem missmutigen Blick prangte. Es war dabei komplett egal, von wo das Foto stammte. Es konnte ruhig aus einer Fotobank mit Bildern aus dem Krieg im Kongo sein. Es gab also häufig gar keinen Zusammenhang zu den Geflüchteten. Ihre visuelle Darstellung war deshalb sehr stark von Vorurteilen geprägt.“

Filip Rambousek:
"Auch die Migrationsexpertin Marie Jelínková sieht die damalige mediale Darstellung der Geflüchteten als problematisch an:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Erzählung über die Flüchtlinge begann damit, dass sie vor den Grenzen Europas stehen. Es wurde gar nicht erklärt, warum diese Menschen hierherkommen. In Zusammenhang mit den Geflüchteten etwa aus Syrien war in den Medien von den ‚Horden vor den Toren Europas‘ die Rede. Das befeuerte die Wahrnehmung von Flüchtlingen als Sicherheitsrisiko und überschattete die Perspektive, das man Menschen schützen muss, die vor einem Krieg fliehen.“

Filip Rambousek:
"Mit anderen Worten wurden die Flüchtlinge in den Medien als ein Problem für die Sicherheit und die Behörden dargestellt und nicht als ein Thema von menschenrechtlicher Bedeutung. Damit zusammen hängt auch, dass die Flüchtlinge selbst und ihre Geschichten in den tschechischen Medien nur sehr wenig Raum bekamen – im Unterschied zu Sicherheitsexpertinnen und Sicherheitsexperten und Politikerinnen und Politikern. So kam zu den Themen Asyl und Migration etwa immer wieder der damalige sozialdemokratische Innenminister Milan Chovanec zu Wort, der eine sehr strenge Haltung gegenüber Asylantragstellern forderte und verpflichtende Quoten zur Umverteilung von Geflüchteten innerhalb der EU entschieden ablehnte. Im Interview für den privaten Fernsehsender TV Barrandov sagte Chovanec 2017:"

Milan Chovanec (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt einen Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Wirtschaftsmigranten und dazwischen, ob man europäisches Recht einhalten will, oder nicht. Ich bin mir sicher, dass 95 Prozent der tschechischen Bevölkerung bereit wäre, eine Mutter mit drei Kindern, die vor einem Krieg flüchtet, für kurze Zeit aufzunehmen, um sie zu schützen. Aber es darf keinen unendlichen Strom von Migranten geben, die machen, was sie wollen, die durch fünf sichere Länder hindurchreisen, keinen Halt machen, das europäische Recht nicht respektieren. In der Vergangenheit, als die Menschen aus der Ukraine zu uns kamen oder vor 15 Jahren, als es die große Migrationswelle aus dem ehemaligen Jugoslawien gab, da haben wir allen geholfen. Aber es muss klare Regeln dafür geben.“

Filip Rambousek:
"Seit 2015 sind in der tschechischen Öffentlichkeit die Stimmen gegen Flüchtlinge lauter gewesen als alle anderen. Unter diesen Umständen war es ganz und gar nicht einfach, öffentlich seine Unterstützung für die Aufnahme von Geflüchteten zum Ausdruck zu bringen und auf die Verletzung von Menschenrechten hinzuweisen, wie dies etwa Martin Rozumek und Apolena Rychlíková taten…"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Unfassbar wenige Menschen hatten damals den Mut, anzusprechen, dass es hier Leute gibt, die Hilfe brauchen. Kaum jemand traute sich, in die politische Konfrontation zu gehen. Die tschechischen Politiker waren allen Neuankömmlingen gegenüber sehr feindlich gesinnt. Nichtregierungsorganisationen wurden zur Zielscheibe für politischen Hass. Man sprach sogar darüber, dass sie überhaupt gar keine Fördergelder mehr bekommen sollten. In der Gesellschaft war viel Rassismus zu spüren und die Abwesenheit von Solidarität. Ich war damals als Freiwillige tätig und habe Flüchtlingen geholfen. Damals war es ganz normal, dass wir Helferinnen und Helfern angegriffen und beleidigt wurden. Mehrmals war ich in einem Auffanglager und habe gesehen, dass die Menschen dort in erschütternden Bedingungen festgehalten werden, die dem Völkerrecht widersprechen. Tschechien hat sogar Kinder in die Lager hinter dem Stacheldrahtzaun eingesperrt. Nach einiger Zeit wurden die Geflüchteten dann entlassen und reisten meistens nach Deutschland weiter. Tschechien ekelt diese Menschen heute einfach nur noch an. Sie kamen hierher, wurden ins Gefängnis gesteckt, in nicht haltbare Bedingungen, und fuhren wieder. Die Tschechische Republik hat es nicht geschafft, noch nicht einmal die grundlegenden internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Das Land hat sich sogar bewusst dafür entschieden, dass es diese nicht einhalten wird. So etwas wäre im Falle der Geflüchteten aus der Ukraine undenkbar. So verhält sich heute nur noch Orbán, in dieser Hinsicht ist er sich selbst treu. Aber die tschechischen Politiker, die ihn vor 2022 bewundert hatten, mussten nun zurückrudern, weil es nun um Menschen ‚aus unserem zivilisatorischen Umfeld‘ geht. Das ist allerdings ein wirklich schlechter Zugang zu Menschen, die Hilfe brauchen.“

Filip Rambousek:
"Auch Tschechiens derzeitiger Premier Petr Fiala, der heute zu den größten Unterstützern der Ukraine und der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Land zählt, hatte 2015 zur Frage von Migration und Asyl eine ganz andere Auffassung, erinnert Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Petr Fiala hört das heute nicht gerne, aber in der Zeit, in der er lediglich Vorsitzender der Bürgerdemokraten und Oppositionsführer war, fuhr er nach Ungarn zu Viktor Orbán und ging mit ihm am Stacheldrahtzaun spazieren. Und er war nicht alleine. Das war nicht nur eine Frage der extremen Rechten. Die gesamte demokratische Bühne rutschte damals in die Rhetorik gegen die Geflüchteten ab – inklusive der demokratischen und der radikalen Linken. Dies führte zu einer Spaltung der Gesellschaft in einen konservativen und einen liberalen Kern. Und diese Trennung stellt bis heute eine der zentralen Grenzen in der tschechischen Gesellschaft und in der Politik des Landes dar.“

Filip Rambousek:
"Trotz der überwiegend negativen Haltung von tschechischer Öffentlichkeit und der Politik den Flüchtlingen gegenüber, habe es aber eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen gegeben, die sich bemühten, den Geflüchteten zu helfen, wie Marie Jelínková erläutert:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Freiwilligen auf dem Prager Hauptbahnhof haben sich etwa organisiert und die Initiative ‚Hlavák‘ gegründet. Sie hat mehrere Monate lang ununterbrochen den Menschen auf der Flucht geholfen. Nach dem Februar 2022 war die Organisation natürlich auch sehr aktiv. Viele Studenten und weitere Freiwillige sind vorher auch in die Flüchtlingslager auf den Migrationsrouten gefahren, um dort anzupacken.“

Filip Rambousek:
"2015 und 2016 halfen in den Flüchtlingslagern auf dem Balkan Hunderte Freiwillige aus Tschechien. Ihre Initiative wurden vor allem vom damaligen sozialdemokratischen Premierminister Bohuslav Sobotka gewürdigt. Er war einer der wenigen Spitzenpolitiker, der nicht auf die vereinfachende und generalisierende Ablehnung von Flüchtlingen ansprang, wie sie im Großteil der tschechischen Öffentlichkeit verbreitet war."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Die Themen Asyl und Migration seien seit 2015 dauerhafter Bestandteil der öffentlichen Debatte, sagt der Direktor der Organisation für Flüchtlingshilfe, Martin Rozumek:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Das Thema Migration stößt in der tschechischen Gesellschaft auf viel Anklang. Vor allem Politiker der populistischen Partei Ano und der Rechtsaußenpartei SPD, aber auch andere, versuchen das Thema entweder für ihre Zwecke zu verwenden oder aber darüber zu schweigen. Denn auch positiv eingestellte Politiker haben heutzutage Angst, Dinge zu sagen, mit denen sie die Aufnahme von Menschen auf der Flucht unterstützen, weil sie befürchten, dass dies ihren politischen Selbstmord bedeuten könnte.“

Filip Rambousek:
"Die Flüchtlinge aus der Ukraine stellen dahingehend eine Ausnahme dar. Denn zu allen anderen ist das tschechische Asylrecht extrem streng und feindlich gesinnt."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien steht anderen Ländern wie Ungarn, der Slowakei, Slowenien in nichts nach… und man könnte hier noch viele weitere Länder in Richtung Osten und Süden nennen. Das erste faire Asylsystem für die Geflüchteten ist das in Deutschland und vielleicht noch das in Österreich. Wobei ich mir mit Österreich gar nicht einmal so sicher bin, denn es gibt dort eine relativ große Sekundärmigration nach Deutschland.“

Filip Rambousek:
"Das Ziel der restriktiven Asylpolitik des tschechischen Staates ist laut Rozumek, potentielle Asylbewerber zu verschrecken, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, sich in Tschechien niederzulassen. Das Ergebnis dieses Ansatzes illustrieren die Zahlen…"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt lächerlich wenige Anträge auf Asyl in Tschechien und fast niemandem wird es gewährt. Die Zahl der festgehaltenen Personen, die gen Westen reisen wollen, ist ebenso sehr niedrig. Genauso die Zahlen derjenigen, die sich aktuell in den Internierungslagern befinden. Meistens sind das Menschen, die versuchen, illegal zu ihren Verwandten in Deutschland zu gelangen. In Tschechien gibt es zwei solche Zentren. In dem einen befinden sich 30 Leute, von dem zweiten habe ich keine aktuellen Informationen. In den Einrichtungen ist also fast niemand. Der Staat versucht, dafür zu sorgen, dass potentielle Asylbewerber gar nicht erst nach Tschechien kommen. Und wenn sie es doch schaffen, dann sollen sie schnellstmöglich gen Westen weiterreisen. Das haben diese Menschen ohnehin vor, denn dort leben ihre Familien.“

Filip Rambousek:
"In ihrer harten Linie zur Migration sehen sich die Tschechinnen und Tschechen bestätigt, wenn sie nach Deutschland schauen. Die tschechischen Medien heben oft Probleme hervor, die es im Nachbarland mit der Integration von syrischen und anderen Flüchtlingen gibt. Dieses Phänomen sei vor allem zwischen 2016 und 2020 zu beobachten gewesen, sagt die Analytikerin Marie Jelínková:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Immer wenn es zu einer Straftat kam, vor allem zu einer sexuellen Charakters, war das für die meisten der tschechischen Leitmedien ein interessantes Ereignis. Gänzlich unbeleuchtet blieb hingegen der Prozess der Integration als solcher. Wie gut oder schlecht gelang die Integration der Menschen aus Syrien auf dem Arbeitsmarkt? Was konnte im Bereich des Wohnens erreicht werden? Ich weiß, dass das kein leichter Prozess war und es einige Probleme gab. Manches ist aber auch gelungen. Und diese Perspektive wurde in den tschechischen Medien nahezu komplett ausgelassen.“

Filip Rambousek:
"2015 hatten alle vier Visegrád-Staaten eine ähnlich harte Einstellung zu den Flüchtlingen. Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei lehnten die Idee einer Umverteilung von Flüchtlingen nach Quoten innerhalb von Europa strikt ab. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine haben sich die Zugänge der einzelnen Visegrád-Staaten im Februar 2022 aber deutlich geändert, sagt Marie Jelínková."

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„In der Slowakei haben die ukrainischen Flüchtlinge wesentlich weniger Rechte zugesprochen bekommen als in Tschechien. Auch aus diesem Grund sind dort nur wenige von ihnen geblieben. In Ungarn wiederum werden schon seit Langem die Rechte der Zivilgesellschaft gänzlich ausradiert, was in Tschechien nicht passiert. Polen wiederum ist wegen seiner engen historischen Beziehungen zur Ukraine speziell. Die Nähe zur Ukraine ist dort viel größer als in Tschechien – nicht nur in geographischer Hinsicht.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"2015 und 2022 war die tschechische Gesellschaft wegen der Migration mit Krisensituationen konfrontiert – und in jedem der beiden Fälle verhielt sie sich gänzlich anders. Im ersten Fall reagierten die Tschechinnen und Tschechen sehr zurückweisend. Die Politik, die Medien, aber auch die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger brachten nur wenig Verständnis auf für die Menschen, die vor dem Krieg flohen. 2022 hingegen wurden die Ukrainerinnen und Ukrainer mit einer Welle der Solidarität willkommen geheißen. Wie kann das sein? Was sagt dieser Zwiespalt über die tschechische Gesellschaft aus? Apolena Rychlíková stellt nicht gerade ein gutes Zeugnis aus…"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das mit zweierlei Maß gemessen wurde, sagt viel über die starken Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder aus einem anderen Kulturkreis aus. Diese Vorurteile kommen meiner Ansicht nach von der politischen Elite. Sie spürt, dass ihr dieser negative, hasserfüllte und in gewisser Weise auch rassistische Populismus Punkte bei den Wählern bringen kann.“

Filip Rambousek:
"Die Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten endete zudem nicht 2015 oder 2016 – Menschen aus Syrien und anderen Ländern kommen bis heute in die Europäische Union. Der unterschiedliche Zugang Tschechiens zu Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt führte zu einer Reihe paradoxer Situationen – vor allem nach dem Februar 2022, wie Rychlíková schildert:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Es kam etwa dazu, dass Menschen aus der Ukraine kostenlose Eintrittstickets für den Zoo und Gratis-Fahrscheine für den Öffentlichen Personennahverkehr bekamen, was auch völlig in Ordnung ist. Zur gleichen Zeit mussten syrische Geflüchtete aber auf dem Hauptbahnhof übernachten – im Herbst, bei schlechtem Wetter, auf Isomatten, mit glänzenden Rettungsdecken bedeckt, damit sie nicht allzu sehr froren – und darunter waren auch Kinder.“

Filip Rambousek:
"Dem Soziologen Jaromír Mazák zufolge hängt der abweichende Zugang zu den Flüchtlingen aus unterschiedlichen Ländern damit zusammen, inwieweit sich die Tschechinnen und Tschechen mit der jeweiligen Gruppe identifizieren können. Die Geschichten der ukrainischen Geflohenen seien für die meisten Menschen in Tschechien verständlich und deshalb seien sie auch gewillt, zu helfen, meint Mazák:"

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, in einigen westlichen Ländern stoßen die Gedanken von Universalismus und universellem Humanismus auf mehr Anklang. Das heißt, dass der Wert eines Menschenlebens immer gleich ist, ganz egal, von wo eine Person kommt. Im Vergleich mit diesem westlichen Zugang sind wir Tschechen vielleicht eher partikulär. Das heißt, wir unterscheiden zwischen dem, was uns nahe ist und uns etwas angeht, und dem, was weit weg ist, für uns als kleines Land sowieso nicht von Belang – und deshalb sollte auch niemand von uns verlangen, dass wir uns des Themas annehmen werden, da wir sowieso nichts ausrichten können. Das Hemd ist uns eben näher als der Rock. Das heißt, wir wollen eher die Dinge angehen, die uns nahe sind und von denen wir etwas verstehen.“

Filip Rambousek:
"Auch deshalb könnte man Jaromír Mazák zufolge nicht voraussetzen, dass eine gelungene Integration der Menschen aus der Ukraine automatisch auch zu einer größeren Offenheit der Tschechinnen und Tschechen gegenüber Menschen aus weiter entfernten Regionen führt."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Manche legen das sogar als Beleg dafür aus, dass die Tschechen ja gar nichts gegen Migranten haben, sondern es ihnen nur wichtig ist, dass es sich um Migranten handelt, die kompatibel mit dem Leben in Tschechien sind und unser Land nicht bedrohen. Man muss in dieser Hinsicht also vorsichtig ein.“

Filip Rambousek:
"Die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, ist da optimistischer. Sie glaubt, dass die erfolgreiche Integration mehrerer Hunderttausend Ukrainerinnen und Ukrainer Tschechien in vielerlei Hinsicht nach vorne bringen kann – und das auch in Sachen Menschenrechte und Politik."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Erfahrungen mit der Adaption und Integration der ukrainischen Geflüchteten sehe ich als eine Chance dafür, unsere Systeme für die Hilfe Bedürftiger zu verbessern. Damit meine ich etwa Finanzhilfen, funktionierende Sozialdienstleistungen oder eine Förderung mehrsprachiger Kinder in tschechischen Schulen. Diese Erfahrung kann aber auch die menschenrechtliche Perspektive auf Migration weiter öffnen. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir ein Land werden, dass seine menschenrechtlichen Verpflichtungen, die es auf dem Feld der Migration hat, einhält. Und ich hoffe, dass wir möglichst verantwortungsbewusst im Dialog zu den zukünftigen Form humanitärer Hilfe und etwa Entwicklungszusammenarbeit agieren. Denn es sollte keine Länder geben, die durch Migration über Jahre hinweg mehr belastet werden als andere. Die Last sollte hingegen gerecht auf alle Staaten verteilt werden. Man muss dafür den Mut finden und darf keine Angst davor haben, politische Schritte zu gehen, die von einem Teil der Öffentlichkeit kontrovers aufgefasst werden könnten. Denn wir müssen diese Schritte gehen – weil es einfach richtig ist und im Kontext der Menschenrechte gerecht.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Der sechste – und zugleich letzte – Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ ist damit an seinem Ende angelangt. Alle sechs Folgen können sie sich jederzeit online anhören: auf den Webseiten von Radio Prag International und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung sowie in allen gängigen Podcast-Apps. Wenn Ihnen unser Podcast gefallen hat, würde ich mich freuen, wenn Sie ihn Ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen. Vom Mikrophon verabschiedet sich Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Martin Rozumek ist Rechtsanwalt. Er arbeitete für das UNO-Flüchtlingswerk in Prag und in Pakistan. Heute ist er Direktor der tschechischen Nichtregierungsorganisation OPU (Organizace pro pomoc uprchlíkům), die Flüchtlingen Hilfe anbietet.

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Dr. Jaromír Mazák ist wissenschaftlicher Leiter bei der Meinungsforschungsagentur STEM. Als Soziologe befasst sich Jaromír Mazák mit Fragen der bürgerlichen und politischen Beteiligung und des sozialen Zusammenhalts. Innerhalb der Agentur STEM konzentriert er sich auf die Entwicklung neuer Forschungsthemen. Zuvor war er an der Karlsuniversität als Forscher und Hochschullehrer mit den Schwerpunkten politische Soziologie, Statistik und Datenanalyse tätig. An derselben Universität hat er auch in Soziologie promoviert. Er verbrachte zwei Trimester als Praktikant an der Universität Oxford und leitete mehrere Projekte zur Wirkungsevaluierung.

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Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Olha Cherepiuk ist Leiterin des Gemeindezentrums Svitlo in Prag. Sie kam nach Beginn der russischen Invasion mit ihrem kleinen Sohn aus der Ukraine in die Tschechische Republik. Sie war bei den Anfängen des Gemeindezentrums Svitlo dabei. Heute leitet sie es seit einem Jahr selbst und schafft einen dringend benötigten sicheren Raum im Zentrum Prags, indem sie Sprachkurse, Beratung und Clubs für Kinder aus der Ukraine organisiert.

Apolena Rychlíková ist eine preisgekrönte tschechische Journalistin und Dokumentarfilmerin. Sie war die erste Tschechin, die für den Europäischen Pressepreis nominiert wurde. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Fragen der sozialen Ungleichheit, der Arbeit und des Arbeitsmarktes, des Geschlechts, der Stellung von Minderheiten, des Wohnungswesens. Darüber hinaus ist sie auch politische Kommentatorin und Analystin. Ihre investigative Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Aufdeckung von Fällen sexueller Gewalt. Neben ihrer journalistischen Arbeit hat sie mit führenden Medienunternehmen an Podcasts und Filmen gearbeitet. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher und Dozentin an der Akademie der Darstellenden Künste. 

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Dr. Marie Jelínková arbeitet als Forscherin am Zentrum für Sozial- und Wirtschaftsstrategien an der Fakultät für Sozialwissenschaften in Prag und hält Vorlesungen am Lehrstuhl für öffentliche und soziale Politik an derselben Fakultät. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Themen Migration und Integration von Menschen mit Migrationserfahrung und hat sich auf die Situation von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, den Zugang von Migranten zur Gesundheitsversorgung und die Ausbeutung von Arbeitskräften konzentriert. Im Oktober diesen Jahres veröffentlichte sie ihr Buch Local Policies for Migrant Integration and their Structural Mechanisms (Lokale Politiken zur Integration von Migranten und ihre strukturellen Mechanismen), in dem sie die Erfahrungen mit der Integration von Migranten aus der Perspektive von vier verschiedenen Ländern untersucht: der Tschechischen Republik, der Slowakei, Deutschland und Belgien.

Quelle