Unter „Sozialstaat“ versteht man das Prinzip, dass Einkommen und Vermögen nicht allein nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, sondern auch nach Bedürftigkeit und dem Ziel eines sozialen Ausgleichs verteilt werden. Über erhobene Steuern und Abgaben sollen die in der Verfassung festgeschriebenen Ziele der sozialen Sicherheit sowie der sozialen Gerechtigkeit angestrebt werden. Ein wichtiger Bereich des Sozialstaatsprinzips stellt die Herstellung von Chancengleichheit aller Bürgerinnen und Bürger dar. Das Sozialstaatsprinzip bildete sich in der Frühphase der Industrialisierung durch den Kampf von Arbeiterinnen und Arbeitern für angemessene Teilhabe an einer stark wachsenden Volkswirtschaft.

Bestandteile des Sozialstaats

Unter Sozialstaat (manchmal auch „Wohlfahrtsstaat“) zählt der größte Teil aller Maßnahmen, welche in Form von Sozialleistungen oder auch Sozialversicherungen für alle Bürgerinnen und Bürger bereitgestellt oder eingefordert werden. Das umfasst beispielsweise das System der Arbeitslosenversicherung, der Pflege-, Kranken, Renten- und weiterer Versicherungen genauso wie Sozialleistungen, die bei Bedürftigkeit oder ganz grundsätzlich ausgezahlt werden, wie beispielsweise Wohngeld oder Kindergeld.

Viele dieser Einrichtungen funktionieren auf Basis eines sogenannten „Generationenvertrags“. Damit ist gemeint, dass die Leistungen nicht direkt von Steuergeldern bezahlt werden, sondern durch ein Umlagesystem. In eine solche Versicherung zahlen alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer während ihrer Berufstätigkeit ein und finanzieren damit die derzeitigen Leistungsempfänger. Gleichzeitig erwerben die Einzahlenden aber auch Anspruch darauf, selbst versorgt zu werden, sollten sie dazu selbst nicht mehr in der Lage sein (wie beispielsweise bei der Arbeitslosenversicherung) oder in Rente gehen (wie im Fall der Rentenversicherung).

Sozialstaatliche Maßnahmen gehen jedoch über Leistungen an Bürgerinnen und Bürger hinaus. So fördert der Staat auch wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen, die in der Zivilgesellschaft angesiedelt sind. Diese Projekte haben mitunter zum Ziel, späteren, potenziellen Sozialfällen vorzubeugen, indem beispielsweise schon Jugendlichen Angebote zum Überwinden eigener Perspektivlosigkeit gemacht werden. Aber auch staatlich geförderte soziale und kulturelle Angebote für Menschen, die sich z.B. einen Besuch im Theater sonst nicht ermöglichen könnten, stellen eine sozialstaatliche Maßnahme dar.

Ein wichtiges Ziel des Sozialstaats besteht darüber hinaus in der Herstellung gleicher Chancen für alle Menschen. Dies verwirklicht sich beispielsweise in geringen Kosten des ersten Bildungswegs bei gleichzeitiger Förderung derjenigen, welche aufgrund eines wenig wohlhabenden Elternhauses ihren Lebensunterhalt während der Ausbildungszeit nicht bestreiten könnten, wie beispielsweise BAFöG-Zahlungen. Umstritten ist im Zusammenhang mit Chancengleichheit, inwieweit es legitim ist, dass bessere Chancen in Form von höherem Startkapital durch Erbschaften weitergegeben werden dürfen. Während einige eine Erbschaftssteuer als unrechtmäßigen Eingriff des Staates in die Privat- und Familiensphäre einschätzen, gab und gibt es, mitunter auch von liberaler Seite, immer wieder Forderungen nach einer hohen oder gar hundertprozentigen Erbschaftssteuer, um Leistungsfähigkeit zur alleinigen Grundlage in einem System gleicher Chancen zu machen.

Wie weit geht der Sozialstaat?

All diese Leistungen basieren auf dem Prinzip der Menschenwürde. Ein menschenwürdiges Leben muss dabei allen Menschen unabhängig ihrer Tätigkeit und Leistungsfähigkeit garantiert werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dabei in der Auslegung des Grundgesetzes immer wieder betont, dass auch die Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben ein wesentlicher Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens darstellt und sich sozialstaatliche Maßnahmen nicht allein auf die Sicherung der nackten Existenz belaufen dürfen.
Im Grundgesetz ist das Prinzip der Sozialstaatlichkeit in Artikel 20, welcher auch als „kleines Grundgesetz“ bezeichnet wird, verankert:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Artikel 20, Absatz 1 GG

Es gehört damit zu den sogenannten Staatsstrukturprinzipien, welche grundsätzlich nicht angetastet werden können. Dabei handelt es sich jedoch um ein Leistungsrecht, was bedeutet, dass es im Gegensatz zu Schutzrechten nicht direkt durch einzelne Bürgerinnen und Bürger einklagbar ist. Vielmehr stellen Leistungsrechte einen Auftrag für die gesetzgebenden Organe dar, auf eine sozialstaatliche Realität hinzuarbeiten.

Aus diesen Gründen ist es eine Interpretationsfrage, welche Leistungen die Garantie auf Menschenwürde und Teilhabe umfassen müssen. Wann eine Bedürftigkeit gegeben ist und wo die Grenze zwischen Teilhabe und Luxus verläuft, wird druch das Grundgesetz also ganz bewusst als Gegenstand politischer und weltanschaulicher Diskussionen verstanden. Diese weltanschaulichen Konflikte gehen zurück bis auf die Wurzeln des Sozialstaats, welcher als Kompromiss im Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus entstanden ist.

Die Geburt des Sozialstaats in der frühen Industrialisierung

Für die längste Zeit der menschlichen Geschichte waren für die Daseinsfürsorge vor allem die Familien verantwortlich. Bevor die technischen Entwicklungen der Moderne die industrielle Produktionsweise hervorbrachten, war die Wirtschaft vor allem auf kleineren Familienbetrieben aufgebaut, die meistens im Bereich der Landwirtschaft oder im Handwerk tätig waren. Eine Absicherung im Fall von Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit war vor allem durch Kinder gewährleistet, die auch die Versorgung der Eltern im hohen Alter übernahmen.

Im Zuge der bürgerlichen Revolutionen im 18. Und 19. Jahrhundert begehrten die Menschen gegen ihre Rolle als Untertan auf und erzwangen eine Gesellschaftsordnung, in welcher der Eingriff des Staates in das Leben seiner Bürger begrenzt werden sollte. Neben verschiedenen Freiheitsrechten betraf dies ebenfalls das Recht auf den unbeschränkten Aufbau und die freie Verwendung von Eigentum. Dadurch, dass dieses Eigentum nun unbeschränkt verteilt, verliehen und angelegt werden konnte, entwickelte sich eine ungeahnte wirtschaftliche Dynamik – der Kapitalismus war geboren.

Dieser Schutz des Privateigentums kombinierte sich nun mit den technischen Entwicklungen der frühen Moderne, durch Fließbandtakt und Massenproduktion entstanden in den Städten große Fabrikhallen. Doch nicht nur in den Städten veränderte sich die Arbeitsweise, auch in der Landwirtschaft bildeten sich immer größere Betriebe, welche auf die industrielle Arbeitsweise zurückgreifen und damit die vormaligen Kleinbauern im Konkurrenzkampf dominieren konnten. Als Folge aus diesen Entwicklungen wuchsen die Städte rasch an, die Familien, welche früher durch Handwerk oder Landwirtschaft ihr Überleben gesichert hatten, suchten nun nach Anstellung in den Fabriken oder Großmanufakturen. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Arbeitsplätzen hatten Unternehmer die überlegene Verhandlungsposition – wer seine Arbeitsbedingungen ablehnte, konnte, auch aufgrund fehlender Rechte für Arbeiterinnen und Arbeiter, schnell entlassen und ersetzt werden.

Unter anderem aufgrund dieser Problematik waren die Lebensumstände der angestellten Menschen überaus schlecht. Durch die Unterbringung in beengten Mietskasernen, Arbeitstagen von mitunter über 16 Stunden täglich bei schwerer körperlicher Arbeit, was auch auf Kinder und Frauen zutraf sowie fehlendem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung stellte sich eine Verelendung ein, die schließlich unter dem Begriff der „sozialen Frage“ zum Politikum wurde. Schließlich schlossen sich Arbeiterinnen und Arbeiter für gemeinsame Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände zusammen. Die wichtigsten Organisationsformen stellten dabei einerseits Gewerkschaften dar, welche Streiks koordinierten und ihre Anhänger in dieser Zeit den fehlenden Lohn ersetzten sowie kommunistische und sozialistische Parteien, welche auf die politische Überwindung des Kapitalismus hinarbeiteten.

Obwohl diese neuen Bewegungen zuerst von staatlicher Seite bekämpft wurden, erreichten sie zunehmend Zugeständnisse in Bezug auf Rechte, Lohnhöhe, Verringerung der Arbeitszeiten und verbesserte Arbeitsbedingungen. In Deutschland führte der wachsende Rückhalt der Bevölkerung für sozialistische Ideen schließlich zur Einführung des weltweit ersten allgemeinen Rentenversicherungssystems durch Reichskanzler Bismarck, der die neu entstandene Sozialdemokratie zuvor durch weitreichende Repressionen bekämpft hatte.

Soziale Marktwirtschaft – Waffenstillsand zwischen Arbeit und Kapital

In der Zeit der Weimarer Republik gelang es dem liberalen Kapitalismus, das Wachstum der sozialistischen Bewegungen einzuhegen. Diese hatten sich inzwischen in zwei Lager aufgespalten: Während das revolutionäre Lager nach wie vor eine Abschaffung des marktwirtschaftlichen Systems anstrebte und die politische Arbeit vor allem als Klassenkampf begriff, der schließlich zur Revolution führen sollte, hatte sich der parlamentarische Flügel der Sozialisten darauf eingelassen, sich über stückweise Reformen innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems und des Parlamentarismus einer sozialistischen Gesellschaft anzunähern. Diese Integration in das parlamentarische System war die Geburtsstunde der Sozialdemokratie, welche neben Rechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch den Ausbau des Sozialstaates und der staatlichen Daseinsfürsorge als Kernelemente ihres Programms verstand.

Als der Parlamentarische Rat nach dem Zweiten Weltkrieg das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete, standen sich die beiden Lager von freier Marktwirtschaft und parlamentarischem Sozialismus erneut gegenüber, wobei auch die religiös geprägte christliche Soziallehre einen wichtigen Einfluss auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Verfassung nahm. Um aus dem Scheitern der Weimarer Republik eine Lehre zu ziehen und keinen neuen Nährboden für weltanschauliche Konflikte bereitzustellen, der die Demokratie bedrohte, wurde mit der Sozialen Marktwirtschaft ein Kompromiss gefunden: Zwar sollte das Wirtschaftsgeschehen grundsätzlich auf Wettbewerb basieren, jedoch wird das Sozialstaatsprinzip als unantastbare Bedingung für die Rechtmäßigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise vorangestellt. Sollte der Marktmechanismus nicht von allein für ein menschenwürdiges Leben und soziale Teilhabe sorgen, so wäre der Staat berechtigt, die erforderlichen Mittel bei wohlhabenden Bevölkerungsschichten abzuschöpfen. Als Ergebnis findet sich in dem für die Ordnung der Bundesrepublik wichtigsten Artikel (Art. 20 GG) das Sozialstaatsprinzip als unveränderliches Merkmal des staatlichen Aufbaus.